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Zürich: Einige Gedanken zu den Ereignissen rund um den „Marsch fürs Läbe“

Nun blicken wir also wieder einmal auf ein bewegtes Zürcher Wochenende zurück. Der christlich-fundamentalistische „Marsch fürs Läbe“ wollte durch Zürichs Strassen ziehen, um gegen Abtreibungen, Homosexualität und andere „Sünden“ zu demonstrieren. Tausende Menschen haben dagegen protestiert und sich dem Aufmarsch in den Weg gestellt. Was bleibt: Eine verkürzte Route der christlichen Fundamentalist*innen, Bilder von brennenden Müllcontainern, empörte Reaktionen und ein Polizeikessel mit 175 Identitätsfeststellungen. Ein Erfolg also? Einige persönliche Gedanken zu den Ereignissen.

von Matthias Kern (BFS Zürich)

Der folgende Artikel ist eine persönliche Meinungsäusserung und muss nicht zwangsläufig mit den Positionen der Sektionen oder der Jugend der Bewegung für den Sozialismus übereinstimmen.

Gegenproteste mit Tradition

Beginnen wir von vorne. Der selbsternannte „Marsch fürs Läbe“ – von den Kritiker*innen liebevoll auch „Am Arsch fürs Läbe“ genannt – fand 2010 das erste Mal statt. Der Zürcher SVP-Gemeinderat Regli rief zu dieser Zusammenkunft christlicher Fundamentalist*innen, verschrobener Konservativer und offen rechtsextremer Kräfte auf. Nach einem Abstecher für zwei Jahre nach Bern und einem Ausbleiben des Marsches 2017, kam der christliche „Trauermarsch“, bei dem mit Vorliebe Kindersärge und Plastikföten mitgeführt werden, dieses Jahr zurück nach Zürich.

Weshalb Protest gegen die äusserst gut vernetzten Reaktionären des „Marsch fürs Läbe“ (MFL) dringend notwendig ist, wurde an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt. Ich verzichte an dieser Stelle darauf. Nach einem juristischen Hickhack – die Stadt Zürich wollte die Veranstaltung zuerst nicht genehmigen – errangen die Rechten einen Sieg vor Gericht, das es ihnen erlaubte, nicht nur eine Kundgebung, sondern auch einen Demonstrationsumzug durchzuführen.

Die JUSO Zürich hatte bereits Anfang Juli und damit vor dem endgültigen Gerichtsentscheid eine Gegenkundgebung auf dem Helvetiaplatz angekündigt. Damit preschten die Jungsozialist*innen alleine vor und stiessen diejenigen Menschen vor den Kopf, die seit Jahren die Gegenmobilisierungen zum MFL organisierten. Die Gegenproteste wurden seit 2010 vom „Bündnis für ein selbstbestimmtes Leben – SeBü“ geprägt. Dieses setzte dabei in der Vergangenheit vorzugsweise auf gezielte Stör- und Blockadeaktionen statt auf eine zentrale Gegendemonstration.

Dieses SeBü trat dann einen Monat später auch in Erscheinung und plante – getreu der jahrelangen Praxis  – Proteste in unmittelbarer Nähe zum MFL. Startpunkt sollte die Josefswiese im Kreis 5 sein, wenige hundert Meter vom MFL, der sich auf dem Turbinenplatz sammelte. Die Planung und Organisation des Protestes entfaltete sich wie gewohnt relativ klandestin und in geschlossenen Kreisen. Ein teilweise funktionierender Einbezug der Kräfte, die sich rund um den Frauen*streik neu gebildet haben, fand erst relativ spät statt.

Die Ausgangslage an diesem 14. September waren also zwei unabhängige, räumlich und zeitlich getrennte Gegenmobilisierungen. Die beiden Organisator*innen nahmen weder miteinander Kontakt auf, noch konnten sie sich mit dem Vorgehen und der Ausrichtung der jeweils anderen Veranstaltung anfreunden.

Wo bleibt die breite Mobilisierung?

Auf den Tag genau drei Monate nach einer der grössten Demonstrationen, die Zürich je gesehen hat – dem Frauen*streik vom 14. Juni 2019 – verspielte man damit eine einzigartige Ausgangslage. Die feministische Bewegung befindet sich im Aufschwung, tausende junge Frauen* befassen sich intensiv mit feministischen Themen und lassen sich von den alten Männern und Moralaposteln nicht länger das Leben schwermachen. Zufälligerweise ist der Marsch fürs Läbe so ungefähr die grösste Ansammlung alter weisser Männer mit perversen Moralvorstellungen, die man sich vorstellen kann.

Und am Tag selbst? Eine Veranstaltung vornehmlich von JUSO für JUSO und der Gegenprotest „Fudis gäge Fundis“, der mehr oder weniger in denselben Bahnen verlief, wie die Jahre zuvor. Natürlich, der feministische Aufschwung war trotzdem spürbar, es hatte ausserordentlich viele junge Frauen an beiden Veranstaltungen, die offensichtlich grossteils rund um den Frauen*streik politisch aktiv wurden.

Aber ist das wirklich das Maximum? 1‘500 Menschen auf der Josefswiese, 500 auf dem Helvetiaplatz? Nachdem vor drei Monaten 160‘000 durch Zürich gezogen sind? Ich würde behaupten, dass hier viel mehr möglich gewesen wäre.

Dafür hätte es aber anstatt Spaltung der Zusammenarbeit bedurft. Die etablierten politischen Kräfte der Linken sowie neuere Formationen wie das Frauen*streik Kollektiv und Unorganisierte hätten gemeinsam gegen den unsäglichen Aufmarsch der rechten Spinner aufstehen müssen.

Der Frauen*streik und andere Mobilisierungen in jüngerer Vergangenheit haben gezeigt, dass genau das möglich ist: Wir müssen uns inhaltlich nicht in jedem Detail einig sein, wir müssen auch nicht alle dieselben Mittel und Taktiken für gut befinden und können trotzdem gemeinsam für unsere Inhalte einstehen. Dafür braucht es: 1. ein offenes Diskussions- und Vorbereitungsumfeld anstatt klandestiner, interner Treffen. 2. einen Bruch mit gewissen Traditionen und Strukturen, die so sind, weil sie halt schon lange so sind, und die manchmal politische Dynamiken verhindern und 3. einen gemeinsamen Aktionskonsens, an den sich die verschiedenen Teilnehmer*innen zu halten versuchen. All dies wurde dieses Jahr rund um den MFL nicht erreicht.

Unser Vorgehen

Doch was gab es stattdessen? Nach dem teilweisen Einbezug von Personen aus dem Frauen*streik Kollektiv in die Planung der Proteste wurde beschlossen, dass es für den Gegenprotest von der Josefswiese aus verschiedene Demonstrationsteile geben soll. Diese Teile waren farbig gekennzeichnet und konnten unabhängig voneinander agieren.

Das Frauen*streik Kollektiv Zürich und die BFS Zürich organisierten gemeinsam den violetten Demonstrationsteil. Dieser wollte möglichst vielen verschiedenen Menschen die Teilnahme am Protest ermöglichen. Aus diesem Grund wurde anscheinend vorgängig abgemacht, dass er sich deeskalativ verhalten will und physischen Auseinandersetzungen wenn möglich aus dem Weg geht.

Der erste Gummischroteinsatz um 14:26 Uhr bei der Geroldsrampe

Interessanterweise war es aber dann unter anderem genau dieser Teil der Demonstration, der um 14:26 die erste verschossene Gummischrot-Ladung abbekam. Diese traf uns unvermittelt ohne vorherige Warnung und war ein Vorgeschmack zum polizeilichen Vorgehen, das folgen sollte. Auf allen Brücken und Viadukten des Quartiers hatte sich die Polizei postiert und warf mehrere Male Tränengasgranaten von oben herab in die Menschenmenge. Auch der Wasserwerfer kam an verschiedenen Orten zum Einsatz.

Eine Stunde später auf der Limmatstrasse waren die einzelnen Demonstrationsteile dann kaum mehr sinnvoll auseinanderzuhalten. Nach Konfrontationen rund um den Escher-Wyss-Platz, während denen der violette Demonstrationsteil in der Nähe des Röntgenplatzes unterwegs war, wurden die verschiedenen Gruppen von der Polizei ineinander getrieben. Ab hier kam es zu einigen absurden Szenen: Auf dem Limmatplatz standen 400-500 unvermummte Menschen. Mindestens 2/3 der Teilnehmer*innen waren Frauen. Dazwischen ungefähr 20 überwiegend männliche Vermummte, die Container anzündeten und etwas später völlig unnötig auf den ausgerückten Feuerwehrwagen einschlugen.

Die Polizei hat aufgeboten, was sie hat

Vermutlich verhinderten die Ausschreitungen rund um den Escher-Wyss-Platz und vor allem die Blockade des Limmatplatzes schlussendlich tatsächlich den geplanten Demonstrationszug der Rechten durch die Langstrasse. Es ist anzunehmen, dass die Polizei zum Schluss kam, dass sie so die Sicherheit nicht gewährleisten könne und der MFL deshalb nach einer Umleitung über das Sihlquai wieder umdrehen und zum Turbinenplatz zurücklaufen musste. Das ist sicherlich als Erfolg zu werten.

Gleichzeitig zeigte sich aber einmal mehr, dass verschiedene Teile einer Demonstration formal schon unterschiedliche Auftretensformen wählen können. Solange es aber keinen gemeinsamen Demonstrationskonsens über gewählte Mittel und Vorgehensweisen gibt, kann sich daraus eine gefährliche Situation entwickeln, in der für die Konfrontation vorbereitete Personen sowie Personen, die den gewaltsamen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen möchten, durcheinandergeraten.

Eine Konsequenz der unübersichtlichen Situation bestand darin, dass viele Teilnehmer*innen des violetten Demonstrationsteils aufgrund der Konfrontationen die Demonstration verliessen. Nach verschiedenen Demonstrationszügen kreuz und quer durch den Kreis 5 fanden sich dann gegen 17 Uhr noch einmal mehrere hundert Personen auf dem Limmatplatz zusammen. Anstatt die Demonstration nun endgültig aufzulösen, entschied man sich noch etwas weiterzulaufen. In der Zwischenzeit musste die Polizei aber einen guten Teil ihrer Kräfte – wohl wegen Beendigung des MFL – freigemacht haben und so trieb sie uns vor sich her und schlussendlich an der Ecke Hafnerstrasse/Konradstrasse in einen Polizeikessel.

Der Polizeikessel, der 175 Identitätsfeststellungen zur Folge hatte

Hier zog sich die polizeiliche Schlinge in Einzelfällen um Unbeteiligte, die nicht wussten wie ihnen geschah, sowie zu einem beträchtlichen Teil um junge Menschen, die durch Unerfahrenheit oder der Ansicht, dass sie einen legitimen und wichtigen Protest auf die Strasse trugen, den Demonstrationszug nicht rechtzeitig verliessen. Von geschätzten 1‘500 Menschen zu Beginn des Tages wurden im Kessel 175 Personen kontrolliert.

Die Taktik der Polizei und unser Unvermögen

Die Personenkontrollen, die wir nicht verhindern konnten, sind zum einen die Konsequenz eines Polizeiapparats, der sich je länger je mehr autoritär gebärdet. Nicht nur wendete die Polizei von Anfang an unvermittelt massiv Gewalt an. Da waren zum Beispiel auch die sechs Polizisten, die in einem Himmelfahrtskommando am Viadukt der Josefswiese entlang stürmten und Tränengaskartuschen zwischen Kinderwagen von picknickenden Familien abfeuerten. Was sie da hinten völlig isoliert genau zu tun hatten, bleibt unklar. Sie wurden von aufgebrachten Menschen wieder vertrieben. Die Polizisten waren auf jeden Fall mit blauen Badges mit der Aufschrift „BFE“ versehen. In Deutschland bezeichnet dieses Kürzel die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, berüchtigte Spezialpolizeikräfte, die vor allem im Rahmen von Demonstrationen zum Zuge kommen und für ihr rücksichtsloses und gewaltsames Vorgehen bekannt sind. Es wäre wichtig in der nächsten Zeit einmal zu recherchieren, ob hier tatsächlich neue polizeiliche Spezialkräfte im Einsatz waren und was dies allenfalls für die Taktik der Repressionsorgane bedeutet.

Polizisten mit „BFE“-Badges

Zum anderen sind die Personenkontrollen und ihre möglichen Folgen aber auch ein Resultat des fehlenden taktischen Vermögens und Gespürs der Zürcher Linken. Die Demonstration ausgehend von der Josefswiese hat es nicht geschafft, sich explizit auf einen Aktionskonsens zu verständigen und diesen verständlich zu kommunizieren. Die Heftigkeit der Ausschreitungen hat dementsprechend viele Demonstrationsteilnehmer*innen überrascht. Zumindest der violette Demonstrationsteil war nicht darauf vorbereitet, so unmittelbar mit gewaltsamen Auseinandersetzungen in Kontakt zu kommen und hatte keine Strategie, die Teilnehmer*innen – zu einem grossen Teil mit Demonstrationen relativ unerfahrene, junge Leute – dieses offenen und zugänglichen Demonstrationsteils vor der polizeilichen Repression zu schützen.

Die Demonstration beim Start auf der Josefswiese

Schlussendlich war es aber trotzdem wichtig, dass wir uns der aufstrebenden fundamentalistischen Rechten in den Weg gestellt haben. Falls die Personenkontrollen noch Bussen oder Strafverfahren zur Folge haben, werden wir deren Konsequenzen so gut es geht gemeinsam tragen. Wir werden hoffentlich aus den gemachten Erfahrungen lernen, das nächste Mal einiges anders und besser machen und uns auf unsere Stärke verlassen: Die feministische Bewegung ist in einem Aufschwung, der noch lange nicht am Ende ist.

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2 Kommentare

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