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Ägypten: Revolution und Konterrevolution

Der 30. Juni 2013 markierte einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der ägyptischen Revolution. Angeführt von der Bewegung „Tamarod“ (Rebellion) rief die Opposition zu massiven Protesten gegen die Regierung Mursis und seine Muslimbruderschaft auf. In den folgenden Tagen kam es zu den wahrscheinlich grössten Demonstrationen, welche die Menschheit je erlebt hat. Landesweit beteiligten sich bis zu 30 Millionen (!) Menschen an den Protesten. Aufgrund der massiven Mobilisierungen sah sich das ägyptische Militär am 3. Juli gezwungen, Präsident Mursi abzusetzen. Der folgende Artikel, welcher noch vor dem Sturz Mursis am 27. Juni geschrieben wurde, beleuchtet die Hintergründe und die Akteure dieser neuen Phase der ägyptischen Revolution und versucht Perspektiven, wohin die nächsten Monate führen könnten, aufzuzeigen.

Von Sameh Naguib, englischer Artikel auf Sozialistworker.org

Die Krise der Herrschaft der Muslimbrüder
Die Muslimbrüder kamen in einem historischen Moment an die Macht, dessen Bedeutung sie selbst nicht verstanden, da die Bruderschaft glaubte, das Ziel der Revolution sei, die Demokratie an den Wahlurnen zu etablieren. Sie haben den fundamental sozialen und demokratischen Inhalt dieser riesigen Revolution nicht begriffen. Ihr politischer Kompass zeigte nicht in Richtung der revolutionären Massen, sondern in Richtung derer mit ausgereiften Interessen: Ägyptens Business-Leute, die US Regierung, die Golf-Monarchien. Sie haben diese Gruppen davon überzeugt, dass sie einerseits ihre Interessen zu schützen vermögen, wie es schon Mubaraks Regime getan hatte. Andererseits gaben die Muslimbrüder mittels einer falschen Kombination aus leeren Versprechungen und nichtssagenden religiösen Mottos vor, die Interessen des ägyptischen Volkes zu schützen.
Als Folge davon haben sie versucht die Revolution ihres Inhaltes zu berauben um die Interessen derer zu garantieren, welche die Revolution verängstigt hatte. Aber sie mussten rasch feststellen, dass die Leute, welche zu Millionen protestiert hatten und den Mann an der Macht verscheucht hatten, diesen Kompromiss nicht dulden. Mit ihren falschen Versprechungen haben sie nichts erreicht, ausser, dass die Wut der Bevölkerung anstieg und dass die Massen den Opportunismus und die ablehnende Haltung gegenüber der Revolution von Seiten der Bruderschaft zu durchschauen begannen.mursi
Beide Auswahlmöglichkeiten, welche die Bruderschaft hatte, waren bitter für sie. Entweder konnten sie einen Deal mit den Überbleibseln des alten Regimes und der Pseudo-Opposition unter den Liberalen ausarbeiten oder eine enge Allianz mit den salafistischen Gruppierungen[1] eingehen (inklusive denen, welche ihre Wurzeln in Sais (Ober-Ägypten) oder in den Slums der Städte haben). Von Anfang an hatte die Bruderschaft stark auf die erste Option hingearbeitet – mit beispielslosen Zugeständnissen an das Militär und die Sicherheits-Institutionen, welche das Herz des früheren Regimes darstellten. Diese Institutionen sind auf den Deal eingegangen auf der Basis einer falschen Einschätzung der Kapazität der Bruderschaft, mit dem Volk einen Kompromiss einzugehen und die revolutionäre Wut durch manipulierte Wahlen zu schmälern.
Aber als diese Institutionen die Inkompetenz der Bruderschaft zu durchschauen begannen, fingen sie an ihren Deal zu überdenken. Verstärkt wurde dieser Prozess durch die zunehmend negative Einstellung des Volkes gegenüber der Bruderschaft und die Kollabierung der Wirtschaft als Folge von Fehlentscheiden der Bruderschaft. Diese Distanzierung zeigte sich im Umschwung, den Spannungen und Widersprüchen in Äusserungen der Armee-Leitung. Daher ging die Allianz der Überbleibsel des alten Regimes und den liberalen Organisationen in die Opposition gegen die Bruderschaft über. Die Bruderschaft ist tagtäglich mit einer politischen Belagerung konfrontiert, was zu Bemühungen geführt hat, sich doch den salafistischen Gruppierungen anzunähern. Weiter begann die Bruderschaft eine sektiererische Sprache gegenüber den Kopten und der Shia zu gebrauchen, und alle, welche ihnen widersprechen, als Kafirs (Islam-Gegner) zu bezeichnen.
Die Wirtschaftskrise
Seit dem Aufstieg von Mursi und der Muslimbrüder, hat die Regierung dasselbe Wirtschaftsprogramm wie unter Mubarak weitergeführt. Es handelt sich hierbei um ein neoliberales Programm, welches sich an Marktliberalisierung und Assimilierung an die globale kapitalistische Wirtschaft orientiert. Dies sind dieselben Politiken, welche eine ausschlaggebende Rolle für das Auslösen der ägyptischen Revolution spielten. Denn diese Politiken sind nicht nur gewaltsame Angriffe auf die Interessen und den Lebensstandard der Armen, sie wirken gleichzeitig zum Vorteil der Muslimbrüder, Millionären und militärischen Führern. Sie repräsentieren die gleichen Forderungen wie in den globalen Finanzinstitutionen und in den Golf-Monarchien; nämlich, dass die Politik, die die Armen verarmen lässt und die Reichen bereichert. Ägypten hat diese Politik akzeptiert. Es scheint, dass Morsi, Shatir und die Muslimbrüder drei Fakten nicht erkennen, welche eigentlich keiner rational denkenden Person entgehen könnten.
Der erste ist, dass die Revolution in diesem Land aus den Hoffnungen und Erwartungen von Millionen von Armen, Arbeitern und Bauern auf wahre soziale Gerechtigkeit, Umverteilung des Vermögens von grossen Unternehmen zu den Leiten erwachsen ist – und nicht umgekehrt. Der zweite Fakt ist, dass die kapitalistische Welt seit den 1930er Jahren an der Gewalt seiner Krisen leidet. Die Muslimbrüder verehren dieselbe brutale kapitalistische Politik als wäre sie ein Text aus dem Koran. Der dritte ist, dass der globale Kapitalismus, weder vom Golf noch vom Westen, in einen Sumpf wie die ägyptische Wirtschaft investieren wird. Er wird sich nicht in ein Land bewegen, dessen Basis noch immer von der Revolution zittert, eine Revolution, welche die gesamte Welt erschüttert, wie wir in Griechenland oder der Türkei sehen. Der globale Kapitalismus unter der Führung des amerikanischen Imperialismus und seinen Verbündeten in den Golfstaaten will seine Rache am ägyptischen Volk wegen ihrer grossartigen Revolution, welche die Armen der Welt inspiriert hat und noch immer inspiriert. Es ist die Revolution, welche das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Totengräber der Willkürherrschaft und kapitalistischer Plünderung erkoren hat. Die Muslimbrüder und ihr gescheiterter Repräsentant Mohammed Mursi sind die Hauptakteure dieser Rache.

Die ArbeiterInnenbewegung

Trotz des monatelangen Rückgangs der politischen Aktivität der ArbeiterInnenbewegung kam es in der Zeit vor dem explosionsartigen Ausbruch, welcher durch die Tamarod-Kampange und die Vorbereitungen für die Demonstrationen am 30. Juni 2013 verursacht wurde, weiterhin zu Streiks, Fabrikbesetzungen und Demonstrationen. Die aktuellen Mobilisierungen geben der ArbeiterInnenbewegung aber zusätzliche Motivation, welche für die Weiterentwicklung der Bewegung von grosser Bedeutung und Wichtigkeit sein wird.
Die ArbeiterInnenbewegung stand einigen Herausforderungen gegenüber und zahlte in vielen Kämpfen, welche eher einen defensiven Charakter annahmen, einen hohen Preis. Die erste Herausforderung war die Bewältigung der gewalttätigen Angriffe der Kapitalisten und ihren Helfern auf die Bewegung. So wurden z.B. besetze Fabriken von mit Stöcken bewaffneten Schlägertrupps geräumt oder Fabriken mutwillig geschlossen, um den durch die tiefe Wirtschaftskrise entstandenen Druck auf die ArbeiterInnen noch zu verstärken.
Die zweite Herausforderung war der Konflikt zwischen den Gewerkschaften. Trotz des beispiellosen Erfolges über 1000 unabhängige Gewerkschaften gründen zu können, kam es seit 2011 innerhalb der Gewerkschaftsführungen zu deutlichen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Militanz der Kämpfe. Diese Herausforderung wurde durch die starke Tendenz zur Bürokratisierung, den sich ausbreitenden Reformismus innerhalb der Gewerkschaften, die Opposition gegenüber einer tiefer gehenden Politisierung der ArbeiterInnen und die Spaltung der Bewegung in zwei sich konkurrierende Gewerkschaftsföderationen verstärkt.
Dazu kamen drittens die eifrigen Versuche der Muslimbruderschaft, die alten Gewerkschaftsorganisationen in Zusammenarbeit mit den Überbleibsel des alten Regimes wieder zu beleben, um so die neuen, unabhängigen Gewerkschaften in die Enge zu treiben oder auf einen anpässlerischen Kurs zu bringen. Im Gegenzug gaben die Schwierigkeiten der Gewerkschaften der aufstreben, politischen Volksbewegung die aussergewöhnliche Gelegenheit innerhalb der ArbeiterInnenbewegung einen qualitativen Sprung nach vorne zu machen.
Die ArbeiterInnenbewegung in Ägypten steht nun vor folgenden Aufgaben: der Aufbau von Koordinationskomitees von ArbeiterInnenkämpfe entlang sektoriellen und geografischen Linien sowie die Verbindung von partiellen, wirtschaftlichen und weitreichenderen, politischen Forderungen. Gerade das Aufstellen von solchen weitergehenden Übergangsforderungen, welche eine antikapitalistische Perspektive beinhalten, ist die unmittelbare Aufgabe der Revolutionäre in der kommenden Periode der ägyptischen Revolution.
Die Institution des Militärs in Ägypten
Die Institution des Militärs und dessen Beziehungen mit der katastrophalen Herrschaft der Muslimbrüder ist in den letzten Monaten erneut als dringlichstes Thema der ägyptischen Politik in den Vordergrund gerückt.
Unter den wachsenden Forderungen von verschiedenen liberalen KommentatorInnen und AnfüherInnen, manchmal impliziert, andere Male versteckt, wird die Dringlichkeit einer militärischen Intervention zur Beseitigung der Herrschaft der Muslimbrüder betont. Dies ist nichts weniger als die Forderung nach einem Militärputsch. Es gab eine Flut von Aussagen und Artikeln bezüglich Unabhängigkeit, Neutralität und Patriotismus des Militärs.
Diese Flut wurde seit der Sinai Krise (mit der Entführung von Soldaten, dem Wunder ihrer Befreiung ohne militärische Intervention, ohne Verhandlungen mit den Entführern und ohne Verhaftungen derselben) nicht aufgehalten. Es folgte das politische Theater um den äthiopischen Damm, mit Diskussionen über die Notwendigkeit einer militärischen Lösung, sowie die überraschende Entscheidung des Obersten Verfassungsgerichts über die Notwendigkeit Offiziere und Soldaten der Streitkräfte an Wahlen teilnehmen zu lassen. Dieser Entscheidung haben sich sowohl die Muslimbrüder wie auch die Liberalen widersetzt, da es die Armee nicht nur politisieren, sondern auch spalten würde.militär
Trotz den Versicherungen der Armeeführung, dass es zu keinem Militärputsch kommen werde und ihren ewigen Versprechen von Neutralität und Patriotismus, hoffen viele liberale Kräfte auf eine Intervention der Armee und die Rettung des Landes aus dem Alptraum der Herrschaft der Bruderschaft und deren Ersatz durch das Militär. Wie die Liberalen dieses Militär vergöttern, welches noch vor einem Jahr das ägyptische Volk zerschmetterte und die Konterrevolution vorantrieb! Das Militär ist weiterhin eine unüberwindbare Mauer, die der Entwicklung der ägyptischen Revolution und deren Zielen im Weg steht.
Es gibt einige Fakten, welche man bei Betrachtung dieses absurden Szenarios nicht vergessen darf. Erstens ist das ägyptische Militär keine neutrale Institution, sondern der eiserne Kern des kapitalistischen Staates Ägyptens, des Staates Mubaraks und dessen Überbleibsel, der Staat der grossen Konzerne und hinter ihnen des amerikanischen Imperialismus. Zweitens ist das Militär ein Spiegel der Gesellschaft und wird sich nicht von ihr lösen. Die Armeeführung ist ein fundamentaler Bestandteil der herrschenden Klasse Ägyptens in säkularen und islamischen Kreisen.
Die Soldaten und Offiziere des Militärs sind Arbeiter, Bauern und Arme. Es ist nicht im Interesse der Generäle und der Führenden der ägyptischen Armee, dass die Revolution siegreich sein soll. Nicht nur, weil dies notwendigerweise bedeuten würde, dass Urteile über ihr kriminelles Verhalten während der ägyptischen Revolution gefällt werden müssten. Fast wichtiger ist, dass die Armeeführung ihre Macht nur als Teil der Konterrevolution erhalten kann. Das militärische Fussvolk hingegen hat ein direktes Interesse an der Umsetzung der Ziele der ägyptischen Revolution – soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Würde – ob innerhalb oder ausserhalb der Armee.
Drittens hat der Mythos des Militärs als Beschützer des Volkes und der Nation eine zunehmend schwächere Basis. Die Beziehungen zwischen dieser Institution und der amerikanischen Armee, den amerikanischen Interessen und den amerikanischen Waffen, ist das, was die Führenden dieser Institution zusammenhält. Das Militär zeigt dem ägyptischen Volk nicht einen Bruchteil der Loyalität, welches es Amerika entgegenbringt. Regional bedeutet dies Schutz von zionistischen und amerikanischen Interessen und nicht die Sicherheit des ägyptischen Volkes.
Dazu muss man sich vor Augen halten, dass das Militär den Muslimbrüdern in ihrer Herrschaft Ägyptens beisteht. Dies war schliesslich ja ihr Deal: Ein sicherer Abgang, ein nationaler Sicherheitsrat, ein geheimes Budget ohne jegliche depanzer volkmokratische Überwachung und die Weiterführung militärischer Kontrolle über ihr wirtschaftliches Imperium, welches einen signifikanten Bestandteil der gesamten ägyptischen Wirtschaft darstellt. Dieser Deal ist bis heute noch gültig.
Die Krise der militärischen Führung liegt darin, dass die Bruderschaft nicht dazu fähig ist, ihren Teil dieses Deals zu liefern: Die Liquidierung der ägyptischen Revolution und die Beschwichtigung der Bevölkerung. Von dieser Krise sind auch die amerikanische Administration und einige der Golfstaaten betroffen.
Schützen- und Transportpanzer im Sinai in Stellung zu bringen dient nicht der Bekämpfung des Terrorismus oder der Konfrontation des zionistischen Feindes, sondern der Kontrolle der Bevölkerung von Sinai. Sie revoltierten genauso wie andere unterdrückte und geschundene ÄgypterInnen gegen die historische Ungleichheit der Machthaber in Kairo und den Raub ihrer einfachsten Rechte als BürgerInnen.
Die Streitigkeiten zwischen den Muslimbrüdern und dem Militär haben ihre Ursache im Versagen der Bruderschaft die wirtschaftliche Krise zu lösen und die ägyptische Revolution zu kontrollieren oder ganz zu Nichte zu machen. Damit verbunden ist die Angst der militärischen Führung, dass die revolutionäre Flut auch bei ihrem Fussvolk ankommen könnte.
Dies wird auch geschehen, wenn die ägyptische Revolution es schafft gegen die Konterrevolution der Allianz der Muslimbrüder, dem Militär und den Überbleibsel des alten Regimes zu bestehen. Die Hauptfiguren des alten Regimes sind zum grössten Teil aus dem Gefängnis entlassen worden, werden geehrt und glorifiziert, trotz der Tatsache, dass das Blut unserer Märtyrer an ihren Händen klebt.
Die Front zur Erlösung von den Muslimbrüdern
Seit der Gründung der Nationalen Erlösungsfront durch die liberale Opposition ist deren Schwäche schnell offensichtlich geworden. Als erstes hat sie die Transformation des Konflikts in eine Identitätsfrage zwischen säkularen – der Nationalen Front – und islamischen Kräften – den Muslimbrüder und deren salafistischen Verbündeten – unterstützt. Dies hat natürlich die Position der Muslimbrüder gestärkt. Als nächstes haben die Liberalen den Muslimbrüdern ein weiteres Geschenkt gemacht, indem sie sich mit den Überbleibseln des Mubarak Regimes verbündeten und sich für eine militärische Intervention einsetzten.
Dies kam zusätzlich zur ausserordentlichen Fragmentierung der Opposition und des Opportunismus der Führung der Front: Einige Anführer trafen sich mit der Führung der Muslimbrüder und während andere dies kritisierten, machten sie es anschliessend im Geheimen auch. Dies ist nur die rezenteste der Farcen auf die sich die oppositionelle ägyptische Bourgeoise und deren Anhänger im nationalistischen und links-reformistischen Spektrum spezialisieren.
Diese Unentschlossenheit der Liberalen und dem Rest des alten Regimes in ihrem Widerstand gegen die Muslimbrüder kommt daher, dass sie – wie auch die Muslimbrüder – keine vertiefende Weiterführung der Revolution wollen. Sie wollen nur einen Kampf um die Aufteilung der Macht, welcher die Macht an sich nicht in Frage stellen soll. Sie sind bereit die Bevölkerung mit ihren Medien zum Widerstand gegen die Muslimbrüder zu mobilisieren, haben aber Angst davor, dass diese Mobilisierung zu einer neuen Revolution führen könnte, welche nicht nur die Muslimbrüder, sondern auch sie selber wegfegen könnte. Deswegen werden sie weiterhin die Massen als Druck in den Verhandlungen mit der Bruderschaft benutzen, oder damit auch die Armee zur Intervention motivieren. Aber die Angst, die Kontrolle über die breite Bewegung zu verlieren, bleibt ihre grösste Obsession.
Überdies präsentieren sie keine ökonomische Alternativen zur Muslimbruderschaft. Es ist der gleiche Kapitalismus, die gleiche Politik des freien Marktes, die gleiche Strategie gegenüber den westlichen Alliierten (vor allen die USA) oder den Golfstaaten – nämlich zu betteln um dann in deren Interessen zu handeln.
Tamarod[2], der 30. Juni und die revolutionäre Alternative
Die Kampagne „Tamarod“ entstand nach einer Periode des Rückzugs in der revolutionären Bewegung, mit dem Ziel die Kraft der Bewegung auf ein bis anhin unbekanntes Niveau zu steigern. Die Ausdruckskraft ihres Namens und ihre Einfachheit verwandelten sie schnell in eine nationale Bewegung, an welcher Millionen mit ihrer Unterschrift teilnahmen. Weitaus wichtiger war die Partizipation von hundert Tausenden, welche Unterschriften gesammelt haben. Für viele war dies das erste Mal, dass sie an einem revolutionären Prozess teilnahmen. Dies beschleunigte die Radikalisierung der ägyptischen Massen. Diese wiederspiegelt sich in den enormen Vorbereitungen für die Märsche am 30. Juni und der Schaffung von Koordinierungsausschüssen in allen Provinzen, für diesen entscheidenden Tag. Die Vorbereitungen stehen für den Anfang eines neuen Kampfes in der ägyptischen Revolution. Ebenso wie in allen vorhergehenden Krisen und revolutionären Kämpfen, so ist die Situation auch in Ägypten kompliziert. Alle, den Muslimbrüder feindlich gesinnten, Kräfte beteiligen sich an der „Aufstand“-Bewegung und werden auch an den Protestens des 30. Juni teilnehmen. Aber diese Kräfte haben unterschiedliche Ziele für die Bewegung.
Es gibt die Überbleibsel des alten Regimes, die einen grossen Teil ihres Selbstvertrauens und Zusammenhalts zurückgewonnen haben, nachdem die Mehrheit ihrer Führungskräfte lächerlicherweise für ein paar Dollar aus dem Gefängnis entlassen wurde. Sie sind auch selbstsicherer, weil die liberale, bourgeoise Opposition ihnen neue Deckung geben – um zu wirken als wären sie ein legitimer Arm der säkularen demokratischen Opposition gegen die Herrschaft der Muslimbrüder.crazy platz pyreo
Weiter gibt es die liberale bourgeoise Opposition vertreten durch die nicht-„feloul“[3] Parteien in der Heilsfront, welche selbstverständlich die Beendung der Revolution wollen, vor allem in Beziehung zum Ziel der sozialen Gerechtigkeit. Sie wollen einzig den Einflussbereich der Muslimbrüder und der Salafisten begrenzen, an deren Macht teilhaben und zusammen mit ihnen die Zukunft Ägyptens beeinflussen. Die Volksbewegung sehen sie nur als Möglichkeit Druck auszuüben und Kompromisse schliessen zu können.
Das Ziel der Beteiligung der Revolutionären in der Aufstand-Bewegung und in den Kämpfen, welche mit dem 30. Juni beginnen werden, liegt eindeutig darin, die Revolution aus den Händen der islamistischen Diebe zurückzugewinnen.
Nicht weil sie Islamisten sind, sondern weil sie die Revolution betrogen, Mubaraks Staat gerettet und die gleichen repressiven kapitalistischen Politiken durchgesetzt haben, einschliesslich der kompletten Unterwürfigkeit gegenüber den amerikanischen imperialistischen Interessen sowie gegenüber den grossen Geschäftsleuten aus der Zeit von Mubarak, dies alles unter der Aufgabe der Interessen der revolutionären ägyptischen Bevölkerung und mit dem Blut der Märtyrer. Sie haben den Einfluss der Polizei, der Armeegeneräle und des Staatsapparat mit der gleichen Korruption und Vetternwirtschaft erhalten, welche sie immer aufgezeigt hatten. Ihre Ziele bleiben begrenzt: Sie wollen den Staatsapparat und die Institutionen dominieren, indem sie ihre Führung zusammen mit den Überbleibsel des vorherigen Regimes an die Spitze dieser Institutionen stellen, während derer korrupter und repressiver Charakter erhalten bleibt.
Die Revolutionäre sind der Meinung, dass die Erlösung von der Herrschaft der Muslimbrüder allein noch nicht das Ziel darstellt. Es bedeutet nur die Überwindung eines Hindernisses auf dem Weg zur Vollendung der ägyptischen Revolution. Diese wird nicht vollendet sein, ohne dass die Märtyrer und Verletzten der ägyptischen Revolution in revolutionären Gerichten Vergeltung gefunden haben, welche die Armee, die Polizeioffiziere, Mubaraks Geschäftsmänner und ihre Verbrecher verurteilen. Und sie wird auch nicht vollendet sein ohne die Zerstörung des repressiven, ausbeuterischen und plündernden Staates, welcher immer noch existiert. Mohamed Mursi und seine Leute beschützen diesen noch immer zusammen mit ihren Vorgängern. Die Revolution wird nicht vollendet sein, bevor der repressive Staat nicht durch eine demokratische Nation ersetzt wird, welche den Willen der ägyptischen Massen von Arbeiter_innen, Landwirt_innen und Armen direkt ausdrückt; durch eine Nation, welche die Ziele der Revolution erfüllt: Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit.
Es wird offensichtlich, dass die oberflächliche Einigkeit zwischen den verschieden Parteien über das Ziel der Absetzung vom Mohammed Mursi die grossen Differenzen zwischen den einzelnen Zielen und Interessen verdeckt. Es ist nicht im Interesse der Revolutionären diese Unterschiede zu verschleiern, sondern von Anfang an zwischen den Feinden der Revolution und jenen, welche sie vollenden wollen, zu unterscheiden. Dies bedingt nicht nur die Unabhängigkeit der Bewegung von jenen Opportunisten und Verrätern, sondern auch das beharrliche Aufdecken von ihnen und ihren wahren Interessen gegenüber der Bevölkerung. Einige sind der Meinung, dass eine solche Position zu Schwäche im Kampf gegen Mursi und zum Untergang der ihm gegnerischen Kräfte führt. Das Gegenteil ist der Fall, denn jegliche Nachsichtigkeit gegenüber den „feloul“ oder der bourgeoisen Opposition stärkt Mursi und schwächt ihn nicht. Denn die Muslimbrüder sind in der Lage für einen Teil der Bevölkerung den Kampf so scheinen zu lassen, als ob es ein Kampf zwischen der Bruderschaft und den Überresten des alten Regimes wäre.
Daher sind Strenge, Klarheit und Unabhängigkeit gegenüber den Überbleibseln des alten Regimes sowie gegenüber den Verrätern eine Bedingung zum Sieg über Mursi und der Bruderschaft. Opportunismus und Allianzen zwischen den Überresten des alten Regimes und der bourgeoisen Opposition werden zu nichts anderem führen, als zum Verlust von Glaubwürdigkeit derer, welche dieses Verbrechen begangen haben und werden nur die Fähigkeit der Bruderschaft stärken sich an der Macht zu halten. Die Aufstand-Kampagne und die Demonstrationen und Besetzungen vom 30. Jugame overni könnten sich zum Anfang der zweiten ägyptischen Revolution entwickeln. Aber es ist unerlässlich für uns von den vorhergegangenen revolutionären Wellen zu lernen.
Erstens brauchen wir eine unabhängige politische Plattform, um alle revolutionären Kräfte und Bewegungen zu versammeln und zwar in einer vom alten Regime und den Liberalen in der nationalen Heilsfront unabhängigen Form, als klare politische Alternative zu dieser miserablen Koalition. Zweitens muss die ArbeiterInnenbewegung und die Volksbewegung im Kern dieser politischen Front stehen, denn sie haben ein direktes Interesse nicht nur Mursi abzusetzen, sondern auch die Revolution zur Vollendung zu bringen. Dies bedeutet, dass die alternative revolutionäre Front über die säkular-religiöse Konfliktlinie zwischen der Muslimbruderschaft und der nationalen Heilsfront hinausgehen muss. Sie muss sich davon klar unterscheiden, durch ihre soziale Ausrichtung auf die ArbeiterInnen und die Armen, sowie deren Interessen. Drittens muss die Vergeltung an jenen des alten Regimes, des Militärs und der Muslimbruderschaft, welche unsere Märtyrer getötet haben, unser primäres Ziel bleiben. Denn wir können keine Revolution vollenden im Schatten der Freilassung der Mörder und Konterrevolutionäre, welche geehrt und verherrlicht werden, während das Blut unserer Märtyrer noch immer an ihren Händen klebt. Viertens ist es notwendig, dass wir ein klar definiertes Programm ausarbeiten, welches als Alternative auf der Ebene der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Politik, wie auch der Kultur wahrgenommen wird. Denn ohne das Volk für eine klare, überzeugende revolutionäre Alternative zu gewinnen, werden wir, wenn die Frage des Programms, die auf der einen Seite von der Bruderschaft und den Salafisten und auf der anderen Seite von den Überbleibseln des alten Regimes und den Liberalen aufgeworfen wird, die Konterrevolution nicht besiegen und unseren mühsamen revolutionären Weg nicht vollenden können.
* Sameh Naguib ist ein führendes Mitgliede der „Revolutionären Sozialisten“ in Ägypten. Der Artikel wurde von socialistworker.org ins Englische übersetzt. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von der BFS Jugend Zürich.


[1] Die Salafisten sind eine konservative islamische Reformbewegung. Wichtiger Pfeiler des Salafismus ist die Rückbesinnung auf die „Altvorderen“ (v.a. Mohammed) durch das genaue Imitieren deren Lebens. Einflussreich sind zwei Störmungen, die eine, gegründet in Ägypten durch Mohammed ’Abduh (1849-1905), verkündet dennoch die Vereinbarkeit von Islam und Moderne, wohingegen die zweite, welche sich auf Ibn Taimiya beruft, die Modernen und der wahre Islam als unvereinbar betrachtet (Quelle: Wikipedia und RUDOLPH, Ulirch (2013): islamische Philosophie). Der Begriff „as-salafiyya“ bedeutet auf Deutsch: am Vorbild der Alten orientiert, auf die Vergangenheit zurückgreifend (Quelle: WEHR, Hans (2010): Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, 6. Auflage).
[2] Das arabisch Wort تَمَرُّد (sprich: tamarrud) bedeutet auf Deutsch: Widerspenstigkeit, Ungehorsam; Empörung, Meuterei, Revolte (Quelle: WEHR, Hans (2010): Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, 6. Auflage)
[3] Das Wort „faloul“ wird im Arabischen gebraucht um Überbleibsel einer geschlagenen Armee zu beschreiben. Die Überreste des abgesetzten Regimes von Ex-Präsident Hosni Mubarak werden als „feloul“ bezeichnet. The word is Arabic for remnants of a defeated army and has been used to refer to vestiges of the ousted regime of former President Hosni Mubarak. das arabische Wort „fall“ im Pl. „fulluul“ beudetet auf Deutsch: besiegt; Trümmer einer Armee, schäbiger Rest (Quelle: WEHR, Hans (2010): Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, 6. Auflage).

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