Dass eine wirtschaftliche Krise auf uns zukommt, ist sicher. Auch bürgerliche Ökonom*innen sprechen mittlerweile von einer «Marktüberhitzung» und sind über die allgemeine Blasenbildung besorgt. Unklar bleibt, wann die Krise ausbrechen wird und wie heftig sie ausfällt. Eine der Schlüsselfragen, die sich im Falle eines finanziellen Zusammenbruchs stellt, ist, ob die Staaten einmal mehr in der Lage sein werden, die Folgen der Krise zu begrenzen. Dies ist höchst ungewiss. (Red.)
von Henri Wilno; aus alencontre.org
Überproduktionskrise
Kumulative Prozesse, die zu einem verlangsamten Wachstum führen, kennzeichnen die Entwicklung der Weltwirtschaft sowohl in den OECD-Ländern (Nordamerika und Europa)[1] als auch in China, während Brasilien weiterhin in einem Abschwung steckt und Argentinien sich in einer Rezession befindet. Nur einige Länder wie z.B. Indien, die sich in einer Aufholsituation befinden, halten das Wachstum aufrecht (allerdings zum Preis einer Zunahme der Ungleichheiten und massiver Umweltschäden). In der Stahlindustrie ist eine Überproduktion zu beobachten, und das Wachstum des globalen Automarktes wird 2019 voraussichtlich fast gleich Null sein.
Die Profitraten zeigen zwar keinen sichtbaren Abwärtstrend, scheinen aber nicht auf das Niveau von 2007 zurückgekehrt zu sein. Trotzdem stagnieren die Löhne (mit Ausnahme der höheren Kategorien und einiger Branchen) in den entwickelten Volkswirtschaften, einschließlich derjenigen Länder mit niedrigen Arbeitslosenquoten wie Deutschland und den Vereinigten Staaten.[2] Die Unternehmensgewinne wurden also weitgehend für Fusionen, Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen verwendet. Die privaten Invesitionen von Unternehmen bleiben somit begrenzt und die öffentlichen Investitionen werden durch die allgemeine Sparpolitik der Regierungen eingeschränkt.
Finanzialisierung des Kapitalismus
Der Kapitalismus ist finazialisierter[3] denn je. Die Finanzanlagen wachsen seit dem Schock 2007-2009 unaufhörlich weiter. Die globale Marktkapitalisierung (der Wert aller Aktien von börsenkotierten Unternehmen zum Börsenkurs) hatte 2017 ein Rekordniveau erreicht. Sie sank 2018 um 15%, was die Beunruhigung der Analyst*innen über die tatsächliche Performance der Unternehmen und die Unsicherheiten aufgrund des internationalen Marktklimas widerspiegelt. Es ist zu beachten, dass die größten Marktkapitalisierungen heute die «Internetkonzerne» Google, Apple, Facebook, Amazon etc. und nicht mehr Industrieunternehmen aufweisen.
Der Anstieg der Aktienkurse wird durch die Politik der Zentralbanken getragen, die seit 2009 gratis oder nahezu gratis Liquidität in die Banken fließen lassen. Seit 2015 haben diese Zentralbanken zögerlich versucht, diese Politik (niedrige Zinsen und Quantitativ Easing[4], d.h. Rückkauf von Wertpapieren zum Ziel der Finanzierung von Unternehmen und Staaten) einzuschränken. Aber das wird vielleicht nicht von Dauer sein [seit dem Erscheinen des Artikels hat die US-Zentralbank die Leitzinsen Ende Juli, Mitte September und Ende Oktober 2019 bereits dreimal gesenkt, Anm. d. Red.].
In Europa hatten die anhaltend niedrigen Zinssätze der Europäischen Zentralbank (EZB) widersprüchliche Auswirkungen: Einerseits konnten die Finanzinstitute die Menge an Krediten erhöhen. Andererseits wurden die Zinsmargen auf ihre Kredite reduziert, was ihre Rentabilität belastet (und was zu einem Rückgang der Kurse der Bankenaktien führte). Diese Situation gefährdet grundsätzlich die Gesundheit der Banken nur in Ausnahmefällen.[5] Sie wären jedoch umso stärker von einer Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit betroffen, weil diese zu einem Anstieg der Nichtrückzahlung von Darlehen führen würde.
Verschuldung auf Rekordniveau
Darüber hinaus ist die Verschuldung der Staaten und insbesondere der Unternehmen wieder gestiegen. Der globale Bestand an Anleihen (Schuldverschreibungen) von Unternehmen erreichte Ende 2018 mit fast 13 Billionen US-Dollar einen Rekordwert. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist dies doppelt so viel wie vor der Finanzkrise 2008. Die Kreditwürdigkeit der Kreditnehmer variiert stark: Eine starke Konjunkturabschwächung oder eine plötzliche Verschärfung der finanziellen Umstände könnte daher die Fähigkeit verschuldeter Unternehmen zur Bedienung ihrer Schulden beeinträchtigen. Dies ist ein wichtiger Faktor in dieser fragilen Situation. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gibt es seit 2008 eine starke Zunahme von „Zombie-Unternehmen“, die nur überleben, indem sie sich verschulden und die Vorteile niedriger Zinssätze nutzen. Der Anteil der Zombie-Unternehmen wird in den 14 wichtigsten Industrieländern auf durchschnittlich 6% geschätzt.
Schließlich hat das so genannte „Schattenbanking“ insbesondere in China deutlich zugenommen. Schattenbanken sind Finanzinstitute, die nicht der Bankenaufsicht unterliegen wie z.B. Hedge Fonds (was nicht unbedingt bedeutet, dass diese illegale Transaktionen tätigen). Ende 2017 machten sie 14% des globalen Finanzanlagevermögens aus. Darüber hinaus erleben wir eine Rückkehr der „strukturierten Vermögenswerte“, die in den Jahren 2007-2008 die Finanzkrise ausgelöst haben, d.h. Instrumente, die Wertpapiere unterschiedlicher Qualität kombinieren und deswegen mit einem hohen Risikopotenzial für die Käufer verbunden sind (aber gleichzeitig mit hohen Renditen locken).
Die vergebliche Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten
Die ganze Welt steht heute unter dem Einfluss des Kapitals: Es gibt keine neuen Gebiete mehr, deren Eröffnung die durchschnittliche Profitrate deutlich erhöhen würde. Das bedeutet nicht, dass einige Industrien ihre Bemühungen um möglichst niedrige Löhne nicht fortsetzen werden, um damit die Profite noch steigern zu können (wie z.B. Textilhersteller, die von Südostasien nach Äthiopien ziehen). Heute würde eine neue, expansive lange Welle neue investitionsintensive Technologien erfordern, die in der Lage wären Produktivitätsgewinne zu erzielen und Arbeitsplätze sowie Absatzmärkte in sehr großem Umfang zu schaffen.
Elektroautos und autonome Fahrzeuge werden einen solchen Prozess trotz all der Umwälzungen, die sie im Automobilsektor (bei den Herstellern und Zulieferern) verursachen werden, nicht herbeiführen können. Darüber hinaus wird die «Elektrifizierung der Autos» sowohl zu Gewinnern (Stromerzeuger und Bergbaukonzerne, die Rohstoffe für Batterien abbauen) als auch zu Verlierern (Ölkonzerne) führen. Zu den Gewinnern werden die Bergbaukonzerne aus folgendem Grund gehören: Goldman Sachs beschreibt Lithium als das „neue Benzin“. Bis 2025 könnte die weltweite Nachfrage nach Lithium zwischen 150’000 und 180’000 Tonnen liegen, was einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 18% pro Jahr entspricht. [Dies ist auch in Bezug auf den aktuellen Putsch in Bolivien wichtig, da Bolivien zu den wichtigsten Lithium-Lieferanten weltweit gehört. Die Putschregierung will die unter Morales teils verstaatlichten Mienen wieder privatisieren und den Rohstoff-Extraktivismus ausbauen; Anm. d. Red.]
Reaktionsunfähigkeit der Staaten?
Angesichts dieser Situation neigen eine Reihe von Analyst*innen dazu darauf hinzuweisen, dass die Regierungen im Falle eines neuen Finanzcrashs über weniger Ressourcen verfügen würden als 2009. Denn die Staatsschulden sind bereits hoch (was einen weiteren Ausbau der Haushaltsdefizite verhindern würde) und die Leitzinsen könnten nur noch geringfügig gesenkt werden. Darüber hinaus hat sich die Konzentration des Bankensystems seit 2008 sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa verstärkt. Richtiggehend monströse Banken haben sich entwickelt. Die Rettung dieser Banken im Falle einer Krise würde riesige Summen erfordern.
Diese Hypothese der staatlichen Machtlosigkeit (entwickelt von verschiedenen Ökonomen, darunter Nouriel Roubini, der die nächste Krise für 2020 ankündigt[6]) ist umstritten: Wenn eine Krise die wirtschaftliche Stabilität ernsthaft gefährden würde, kann man davon ausgehen, dass die Staaten und Zentralbanken nicht zögern würden einzugreifen. Darüber hinaus sind sowohl die Europäische Zentralbank als auch die US-Notenbank in Alarmbereitschaft und bereit, die Zinssätze erneut zu senken und den massenhaften Aktienrückkauf wieder aufzunehmen [was beides mittlerweile eingetroffen ist, Anm. d. Red.] Und schliesslich hat auch China seit Anfang des Jahres 2019 mehrere Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft angekündigt.
Das Ende der Vorreiterrolle der USA?
Hier stellt sich aber eine weitere Frage: Gibt es noch einen globalen Piloten, um koordinierte Aktionen zur Milderung der allfälligen Krise zu fördern? Der amerikanische Ökonom Charles Kindleberger hat vor einigen Jahrzehnten[7] eine interessante Analyse geliefert, warum die Krise von 1929 so lang und tief war: Für ihn ist dies darauf zurückzuführen, dass die Vereinigten Staaten zögerten, die Führung in der Weltwirtschaft zu übernehmen. Dies zu einer Zeit, in der Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg die Führungsrolle nicht mehr übernehmen konnte. Für Kindleberger braucht die kapitalistische Weltwirtschaft einen Stabilisator, einen Schlüsselstaat. Aufbauend auf Kindleberger haben andere Ökonomen die Eigenschaften definiert, die ein solcher Staat haben sollte: erstens muss er die Fähigkeit und den Willen haben, internationale Normen zu schaffen und durchzusetzen, und zweitens die Vorherrschaft in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Militär einnehmen.
Die Vereinigten Staaten haben seit dem Zweiten Weltkrieg eine solche Rolle gespielt (und davon profitiert). Heute befinden sie sich unbestreitbar im relativen Rückgang, wobei sie weiterhin den ersten Platz einnehmen. Trump tut alles, was er kann, um den Status und die Interessen des amerikanischen Kapitalismus zu verteidigen, sowohl wirtschaftlich als auch politisch und militärisch. Er neigt vermehrt zu einseitigen Initiativen und zögert nicht, Spaltungen zwischen Verbündeten und Partnern der Vereinigten Staaten zu schüren, wie zum Beispiel seine wiederholten Erklärungen zugunsten eines harten „Brexit“ zeigen. Vor allem aber sind die Vereinigten Staaten mit der aufstrebenden Macht von China konfrontiert: Das Ziel der USA ist es, das amerikanische Handelsdefizit zu begrenzen, den Transfer amerikanischer Technologie nach China einzudämmen, die Subventionen für staatliche Unternehmen in China abzuschaffen, ein Währungsabkommen aufzugleisen, und ihre militärische Macht im asiatisch-pazifischen Raum zu sichern. Und in diesem Zusammenhang relativieren die Vereinigten Staaten die Rolle der internationalen Institutionen völlig, einschließlich derjenigen, in denen nur die wichtigsten Länder vertreten sind (G7 und G20).
Die USA behalten die Macht, bestimmte Regeln festzulegen, insbesondere durch die Rolle des Dollars.[8] Sie können jedoch nicht auf das chinesische Projekt der neuen „Seidenstraße“ reagieren und es ist nicht sicher, ob es ihnen gelingen wird, mit ihrer politischen Offensive die Expansion von Huawei in der ganzen Welt zu blockieren.
Es ist daher nicht sicher, ob die Vereinigten Staaten im Falle neuer Turbulenzen an den Finanzmärkten die Möglichkeit und den Willen haben werden, die anderen kapitalistischen Staaten unter ihrer Führung zusammenzubringen. Das Ausbleiben einer US-Intervention könnte – wie 1929, und ohne die beiden Situationen vergleichen zu wollen – ein wichtiger Faktor bei der Vertiefung der Krise werden.
Der Artikel erschien
im Juni 2019. Eine Fortsetzung folgt. Übersetzung und Zwischentitel durch die
Redaktion.
[1] Seit Juni 2009 verzeichnen die Vereinigten Staaten ein ununterbrochenes Wachstum, in denen das BIP um 22% gestiegen ist. Dies ist sicherlich eine der längsten Expansionsperioden in der amerikanischen Geschichte (abgesehen vom vorherigen Jahrzehnt, in welchem das BIP der USA um 45% gestiegen war).
[2] In den USA, aber auch in Deutschland, ist die scheinbar tiefe Arbeitslosenquote aber vor allem eine Ermessensfrage: Neben Teilzeitarbeiter*innen, die mehr arbeiten möchten, haben viele Erwachsene die Arbeitssuche eingestellt und sind daher aus der Statistik ausgeschieden, was zu einem Rückgang der Erwerbsquote führt.
[3] Stärkung des Finanzmarktes und seiner Akteure und eine damit verbundene Durchdrinung aller Wirtschaftsbereiche mit Finanzmarktmechanismen [Anm. d. Red.].
[4] Unter Quantitativ Easing versteht man die unkonventionelle Geldschwemme der Zentralbanken für Unternehmen (in der Hoffnung, dass diese mehr investieren) und den unbeschränkten Kauf von Staatsanleihen, damit sich auch hochverschuldete Staaten weiterhin finanzieren können. Diese Politik führt zu einer Preissteigerung von Obligationen, Aktien, Immobilien, Luxusgüter, Edelmetalle etc. – weil die Nachfrage steigt – und befördert damit die allgemeine Blasenbildung (Überakkumulation). [Anm. d. Red.]
[5] Dennoch wurden in den letzten Jahren Rettungsaktionen für große Privatbanken, insbesondere in Europa (Österreich, Spanien, Portugal, Italien etc.), eingeleitet.
[6] Nouriel Roubini schreibt: «Schließlich, sobald der Sturm aufgetreten ist, werden die politischen Instrumente, die ihn beheben könnten, fehlen. Die fiskalischen Interventionsmöglichkeiten werden durch die massive Staatsverschuldung reduziert. Die Möglichkeit einer neuen unkonventionellen Geldpolitik wird durch überzogene Bilanzen und mangelnde Kapazitäten zur Senkung der Leitzinsen eingeschränkt. Darüber hinaus werden Rettungsaktionen im Finanzsektor für Länder, die durch das Wiederaufleben populistischer Bewegungen gekennzeichnet sind und von fast zahlungsunfähigen Regierungen geleitet werden, untragbar sein».
[7] «The Great Depression 1929-1939», erste amerikanische Ausgabe 1973.
[8] Die Rolle des Dollars hat es den USA z.B. ermöglicht, einen Bruch in den Beziehungen zum Iran durchzusetzen, auch für staatliche Unternehmen, die glauben, dass sie das Atomabkommen nicht verletzt hätten.
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