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Das weihnachtliche Paradoxon

Wie jedes Jahr wurden wir auch diesen Dezember dazu gedrängt, unser Geld diversen Hilfsorganisationen und Stiftungen zu spenden. Die Weihnachtszeit dient als Anlass, völlig entpolitisiert auf zahlreiche gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Es wird vorgegaukelt, dass diese allein schon durch eine Spende angegangen und gelöst werden können. Damit wird aber unter den Tisch gekehrt, wie es zu diesen Missständen kommt und wer für sie verantwortlich ist. Indem von uns allen eine grösstmögliche Spende erwartet wird, wird die Verantwortung auf gleichzeitig alle und niemanden abgeschoben – und die Reichen können sich ihres schlechten Gewissens entledigen.

von Meagan Day; aus Jacobin Magazin

Die allgegenwärtigen Spendenaufrufe zur Weihnachtszeit weisen auf ein Paradox im Herzen unserer politischen Kultur hin. Einmal im Jahr stellen reiche und einflussreiche Menschen ein kollektives Bewusstsein für die Schwere und Unmoral der wirtschaftlichen Ungleichheit zur Schau. Ihre vordergründige Grosszügigkeit steht im Widerspruch zur ihrer Ideologie, denn sie gibt zu, dass mit der gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum etwas nicht stimmt. Ihre Spendenaufrufe zur Weihnachtszeit stellen ein grosses Eingeständnis dar, nämlich dass viele Menschen nicht in der Lage sind, den Komfort zu geniessen, den sie verdienen.

Millionen von Menschen, die für wohltätige Zwecke spenden, hängen ansonsten hartnäckig der kapitalistischen Meritokratie [die Überzeugung, dass Reichtum und Armut die Resultate individueller Leistungen sind, Anm. d. Red.] an. Sie neigen also dazu, Reichtum mit Einfallsreichtum, Hingabe und moralischer Aufrichtigkeit zu verbinden. Zum Beispiel sind die Mehrheit der US-Amerikaner*innen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 50’000 Dollars der Meinung, dass arme Menschen es grundsätzlich einfach haben im Leben. Trotzdem spenden sie in grossen Summen – weil sie anerkennen, dass arme Menschen es nicht einfach haben.

Es ist, gelinde gesagt, verwirrend. Aber viele  derjenigen, die während der Weihnachtszeit am meisten spenden, machen sich mehr als nur der Inkonsequenz schuldig. Die Wohlhabendsten unter ihnen gestalten aktiv die Bedingungen, die Armut erzeugen, und sie vereiteln unerbittlich Versuche, wirtschaftliche Not auf struktureller Ebene zu verhindern. Ein extremes Beispiel sind die Koch-Brüder in den USA, deren philanthropisches Netzwerk armen Menschen Gemeinschaftsessen zur Weihnachtszeit zur Verfügung stellt, während sie gleichzeitig mit ihren mächtigen Freund*innen ein brutal hartes politisches Programm durchsetzen.

Im Dezember nehmen die Wohlhabenden aller politischen Couleur in teuren Kleidern an geschmackvollen Wohltätigkeitsgalas teil. Ihre Spenden gehen an verarmte Menschen, oft arme Kinder. Aber sobald der Schleier fällt, werden sie wieder eine Vielzahl von Praktiken aufnehmen, die armen Kindern aktiv schaden – sie werden die Eltern dieser Kinder zum niedrigstmöglichen Lohn beschäftigen, Städte auf eine Art und Weise entwickeln, die diejenigen verdrängt, die nicht in den Wohlstand hineingeboren wurden, und politische Kandidat*innen unterstützen, die Sozialprogramme kürzen, die arme Familien zum Überleben brauchen.

Wenn weihnachtliche Wohltäter*innen wirklich das Leiden lindern wollen, müssen sie moralische durch strukturelle Erklärungen und Wohltätigkeit durch Politik ersetzen. Selbst wenn sie rührselig werden, haben sie Recht: Es ist inakzeptabel, dass arme Kinder im Winter Löcher in ihren Schuhen haben. Aber der Weg, das zu beheben, ist nicht über Spendenaktionen und Galas, Stiftungen und philanthropischen Prunk. Für den Anfang ist eine Politik nötig, die sich gegen Austerität, gegen die Kommodifizierung von Gütern und Dienstleistungen sowie für die systematische Umverteilung des Reichtums einsetzt.

Die Verbesserung der wirtschaftlichen Ungleichheit durch ein stark progressives Steuersystem, eine strenge Regulierung von Unternehmen und robuste universelle Sozialprogramme wird sich im Moment für niemanden mitfühlend oder moralisch überlegen anfühlen. Niemand wird Tränen der Dankbarkeit erwarten können und es wird keinen bewundernden Applaus geben. Stattdessen wird die Erleichterung kontinuierlich, diffus und zunehmend in grossen Massstäben auftreten. Es wird sich unpersönlich anfühlen und die individuelle Befriedigung wird aufgeschoben. Und es muss klar auf den Punkt gebracht werden, dass es den Wohlstand der Reichen schmerzen und die Finanzen der Besitzlosen verbessern wird. Denn eine solche Schwächung der Klassenhierarchie ist genau das Ziel der Sache.

Investitionen in den öffentlichen statt in den privaten Sektor werden die Not erfolgreicher mindern als die alljährlich stattfindende Zurschaustellung von moralischer Überlegenheit. Es wird sich nicht einfach gut anfühlen und es wird nicht einfach gut aussehen; in der Tat mag es sich für manche Menschen überhaupt nicht gut anfühlen oder so aussehen. Aber wenn es gelingt, die zur Weihnachtszeit angesprochenen Probleme auf diese Weise zu lösen, wird es etwas viel Besseres tun – es wird tatsächlich Menschen helfen, die in Not sind.

Übersetzung und leichte Kürzung durch die Redaktion.

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