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Was genau zeigt uns die Netflix-Serie Sex Education?

Die Jugendlichen in der Netflix-Serie Sex Education haben ihr Leben besser im Griff als viele Erwachsene. Eine TV-Kritik über grünen Kapitalismus, nostalgische Millennials und Parallelen zu Greta Thunberg.

von Isabel Dünser und Stefan Kalnoky; aus mosaik-blog.at

9,77 Millionen Seher*innen in einer Woche: Sex Education ist die derzeit beliebteste Streaming-Serie in Deutschland. Ein „Netflix-Meisterwerk“ nennt sie Buzzfeed. Für den Guardian trifft Sex Education „stets den richtigen Ton: ernsthaft, aber nicht moralisierend, bewegend, aber niemals manipulativ.“ In linken Social-Media-Bubbles entsteht ein regelrechter Hype um die Serie.

Worum geht es? Sex Education handelt vom Leben des 16-jährigen Otis Milburn und seinen Mitschüler*innen in der fiktiven Moordale High School irgendwo in Südengland. Seine Mutter Jean arbeitet als Sexualtherapeutin, findet aber zu ihrem Sohn nur schwierig einen Draht. Obwohl Otis mit seiner eigenen sexuellen Entwicklung zu kämpfen hat, zieht er gemeinsam mit seiner Freundin Maeve ein Beratungsnetzwerk auf, um anderen Jugendlichen Sex-Ratschläge zu geben. Soweit die Ausgangslage. Ab jetzt folgt der eine oder andere kleine Spoiler unter überwiegender Berücksichtigung der 2. Staffel.

Humor, Offenheit, Diversität

Fans und Kritik loben Sex Education für den Humor, die gleichberechtigte Darstellung verschiedener sexueller Begehren und die diverse Darstellung unterschiedlichster Identitäten. Obwohl es um gesellschaftlich wichtige Themen geht, lässt sich die doch sehr linear erzählte Serie auch nach einem harten Arbeitstag noch gemütlich schauen.

Auch wir haben die Serie gerne geschaut, finden einzelne Charaktere cool und witzig und sind begeistert von der Art und Weise, wie über Themen wie Sex, Liebe oder Beziehungen gesprochen wird. Die Serie erklärt Begriffe wie „pansexuell“, spricht über Fetische und zeigt, dass es keine ultimative Handlungsanleitung zum Orgasmus gibt. Also alles gut und wunderschön – so wie die Drehorte der Serie. Oder gibt es nicht vielleicht doch irgendwo einen Haken?

Mehr Utopie als Realität

Es wurde bereits einiges darüber geschrieben, dass weder das Setting der Serie in einem südenglischen Hobbit-Auenland (siehe Video oben), noch die 80er/90er-Jahre Fantasiekostüme oder die Darstellung einer britischen Schule besonders realistisch sind. In einer Großstadtschule mitten im Nirgendwo tummeln sich super reflektierte Großstadtkids, die viel eher nach Ostlondon oder -berlin passen als in die südenglische Provinz. Alle sind wunderschön und alles ist supersauber.

Otis und Maeve | Foto: Netflix
Foto: Netflix

Natürlich haben Serien nicht immer den Anspruch, die Realität möglichst genau abzubilden. Das sollen sie auch gar nicht. Sex Education ist mehr als Utopie zu verstehen. Aber welche Gesellschaft wird hier abgebildet und welche Botschaften werden vermittelt?

Arm, aber sexy

Die Gesellschaft in Sex Education ist jedenfalls eine Klassengesellschaft. Genauso selbstverständlich wie die gleichberechtigte Diversität von Ethnien, Identitäten oder sexuellen Begehren zeigt die Serie nämlich Armut und soziale Ungleichheit. Während die Mittelschichtskids in absurd schönen Knusperhäuschen im Grünen wohnen, leben etwa Maeve und ihre Familie in einer Wohnwagen-Siedlung. Aber auch dieser hinterlässt einen sehr idyllischen Eindruck, weil dort anscheinend 24 Stunden am Tag gerade die Sonne untergeht. Dieses in warme Farben getauchte Wald-und-Wiesen-Setting trägt zu einer Verharmlosung von Armut bei, die im wahrsten Sinne des Wortes als etwas völlig Natürliches abgebildet wird.

Das Hobbit-Auenland von Sex Education | Foto: Netflix
Selbst die Wohnwagen-Siedlung scheint idyllisch | Foto: Netflix

Diese Vision teilen die Macher*innen mit dem gesamten liberalen politischen Spektrum von den Grünen bis hin zu Obama und Clinton. Vorstellen kann oder will man sich nichts Anderes als das bestehende System, jedoch grün angepinselt und offen für alle Identitäten. Darin spiegelt sich auch ein neues Biedermeier, das sich zwar nicht im Umgang mit Sexualität und Beziehungsmodellen bemerkbar macht, aber durch den Rückzug ins Private, im hohen Stellenwert der Familie sowie im jenseits der Identitätspolitik unpolitischen Verhalten.

Ein liberaler Wunschtraum

Die Welt von Sex Education ist ein liberaler Wunschtraum eines grünen Kapitalismus der Zukunft. Trotz sozialer Ungleichheit leben alle ökologisch, aufgeklärt und glücklich. Die Produktions- und Lebensweise muss offensichtlich nicht grundlegend geändert werden, um das zu erreichen.

Obwohl zwischen den Wohnhäusern der Jugendlichen, der Schule und anderen Schauplätzen offenbar jeweils etliche Kilometer liegen, bewegen sich die Protagonist*innen mühelos und fast ausschließlich mit dem Fahrrad oder dem Bus fort. So, als wäre es nicht eines der größten Probleme Jugendlicher im ländlichen Raum, ständig darauf angewiesen zu sein, von Erwachsenen irgendwo abgeholt oder hinchauffiert zu werden. Doch die Jugendlichen in Sex Education sind auf gar nichts angewiesen. Im Gegenteil, sie präsentieren sich als wesentlich kompetenter als ihre Eltern und Lehrer*innen.

Sexualpädagogik als Peer-Projekt

Über Sex wissen die Jugendlichen entweder selbst Bescheid oder sie holen sich wie selbstverständlich Unterstützung bei Gleichaltrigen. Hier lässt sich durchaus eine wertvolle pädagogische Intention, gerichtet an junge Zuseher*innen, erkennen: Jugendliche machen Fehler, reflektieren diese und lernen daraus.

Aber das ist nicht alles. Permanent beruhigen, beraten oder bedauern hier die Teenager die Erwachsenen: Maeve übernimmt die Mutterrolle für ihre eigene Mutter, Jackson tröstet seine Mutter, Otis seinen Vater und berät nebenbei den schusseligen Biologielehrer bezüglich Dirty Talk (geh bitte…).

Von Erwachsenen ist nichts zu erwarten

Erwachsene sind in der Serie mehr oder weniger Witzfiguren. So zum Beispiel Otis verbal übergriffige Mutter Jean. Sie ist nicht nur aufgrund ihres Auftritts vor versammelter Schule als Sexualtherapeutin nicht ganz ernst zu nehmen. (Als sie in einem ihrer Vagina-Workshops die Klitoris als „little Pearl“ bezeichnet, wirkt das, von den Macher*innen wohl ungewollt, irreführend.) Möchte sie einen emotionalen Draht zu ihrem Sohn aufbauen, verklausuliert sie alles hinter biologischen Begriffen und allerweltspsychologischen Konzepten. Auch die durch und durch klischeehafte Figur des Direktors ist ständig überfordert und hat die Situation an der Schule nicht unter Kontrolle.

Am Ende steht immer dieselbe Message: Pädagogik ist nicht notwendig, von Erwachsenen ist ohnehin nichts zu erwarten, Jugendliche regeln ihre Probleme und sogar die der Erwachsenen allein und professionell. Zumindest letztere Botschaft ist sehr fragwürdig.

Wie wir leben wollen

Sicher, viele Teenager nehmen Erwachsene tatsächlich oft als Witzfiguren wahr. Gleichzeitig wird aber vermittelt, dass durch Erwachsene sowieso keinerlei Unterstützung zu erwarten ist. Aber geht es in Sex Education überhaupt um Jugendliche? Und sind Jugendliche die Hauptzielgruppe der Serie? Oder richtet sie sich nicht viel eher an progressive Millennials um die 30? Retro-Chic und Hipster-Soundtrack deuten jedenfalls stark darauf hin, welches Publikum hier angesprochen werden soll.

Wir mögen die Serie so, weil wir früher selbst gerne so gewesen wären wie diese Jugendlichen. Und weil wir auch heute gerne so wären wie sie. Denn sie klären ihre Probleme sachlicher als viele Erwachsene. So trennt sich Ola viel abgeklärter von Otis, als dies die meisten doppelt so alten Menschen tun würden.

Jugend als Projektionsfläche

Wie Kristoffer Cornils in seinem Artikel über infantilen Kapitalismus am Beispiel der Serie „Stranger Things“ zeigt, werden auch hier die Hoffnungen und Sehnsüchte Erwachsener auf Jugendlichen abgeladen.

Ähnlich verhält es sich mit der Betrachtung von Fridays for Future oder Greta Thunberg. Viele Erwachsene romantisieren den jugendlichen Aktivismus entweder oder aber setzen dreimal so hohe moralische Maßstäbe an ihn an wie an sich selbst. Das soll nicht heißen, dass Jugendlichen nichts zuzutrauen wäre. Aber um ihre Eltern sollen sie sich sicher nicht kümmern müssen. Und im Alleingang für uns die Welt retten auch nicht.


Isabel Dünser und Stefan Kalnoky sind Lehrer*innen in Wien. Zu diesem Artikel wurde eine Replik verfasst, die du hier findest.

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1 Kommentar

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