Am 14. Februar 2020 wurde auf sozialismus.ch ein kritischer Artikel über die von Netflix produzierte Serie Sex Education veröffentlicht. In der vorliegenden Replik soll einigen Kritikpunkten entgegnet werden.
von Elyas Berg und Theo Vanzetti (BFS Zürich)
Linke Kritik an jedweder Maintreamkunst
In dem ursprünglich auf dem österreichischen Blog Mosaik veröffentlichten Kritik werden durchaus legitime Punkte genannt. Beispielsweise, dass das Setting nicht der Realität entspreche. Es stimmt, dass die Szenen, die Umgebung, die Handlungsverläufe oder die Charaktere teilweise etwas überzeichnet wirken. Ja, teilweise wird auch fast schon ein utopisches liberales Gesellschaftsbild präsentiert, was der Mosaik-Artikel auch mehr als zurecht kritisiert. So scheint zum Beispiel Rassismus im fiktiven Moordale inexistent zu sein. Dass aber von der immensen Menge an derzeit produzierten Serien genau Sex Education für eine solche Kritik ausgewählt wird, wirkt schon fast etwas absurd. Es erinnert an linke Kritik an jedweder Mainstreamkunst, sei es Musik, Filme oder Serien. Kaum etwas wird angeschaut, ohne den Zeigefinger zu heben. Eigentlich müssten, wenn überhaupt, dann nur noch irgendwelche Szenebands und Independent-Dokus konsumiert werden. Leider gänzlich ohne gesellschaftliche Relevanz.
Das Erfolgsrezept einer Entertainmentbranche bei der nur die Rendite zählt
Um Sex Education etwas einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf die gesamte Entertainmentbranche in Serien- und Filmbereich. Von den 20 finanziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten, handelt es sich bei 19 Filmen um Sequels, Remakes oder Teile eines Franchises, also einer fortlaufenden Marke über mehrere Filme und Merchandise-Produkte (z.B. Star Wars, Marvel, Frozen, Fast & Furious, Harry Potter, Jurrasic Park). Von diesen sind wiederum 13 im Besitz der Walt Disney-Company. Auch auf dem immer wichtiger werdenden Serienmarkt startet Disney mit ihrem neu lancierten Streamingservice Disney+ und teuer produzierten Marvel-, Star Wars- und Pixar-Serien einen Frontalangriff auf die Konkurrenz. Andere Player, wie Amazon setzen ebenfalls auf dieses Pferd und produzierten kürzlich die wohl teuerste Serie aller Zeiten: Der Herr der Ringe. Das Erfolgsrezept ist klar. Bekanntes und Bewährtes wird ausgebaut und ausgeschlachtet bis hin zum Gehtnichtmehr. Die Milliardeneinnahmen sind garantiert.
Netflix weicht von der Norm ab
Netflix setzt demgegenüber auf eine andere Strategie. Neuartige Ideen werden ausprobiert und den Filmemacher*innen wird maximale Freiheit gewährt. Serien wie Sex Education sind das Resultat. Selbstverständlich ist auch Netflix ein Riesenkonzern, der zudem trotz Milliardengewinnen kaum Steuern bezahlt. Nichtsdestotrotz schafft diese inhaltliche Ausrichtung interessante Spielräume innerhalb dieser profitorientierten Branche.
Nicht zuletzt muss angemerkt werden, dass es sich bei der Macherin von Sex Education um eine Frau handelt. Dies ist insofern von grosser Bedeutung, da weibliche Filmemacherinnen* in der Branche bisher kaum Beachtung finden. So hat beispielsweise in der Geschichte der Oscars bisher nur eine einzige Frau den Preis als beste Regisseurin erhalten. Auch 2020 waren für die beste Regie wieder ausschliesslich Männer nominiert.
Thematisierung der sozialen Ungleichheit
Aber nun zum Inhalt von Sex Education. Die genannte Kritik, dass die soziale Ungleichheit in der Serie zu wenig thematisiert und idyllisch dargestellt würde, kann nicht geteilt werden. So lassen beispielsweise die existenziellen Herausforderungen einer der Hauptcharakteren Maeve, welche in einer Wohnwagensiedlung lebt, die gegenübergestellten Mittelschichts-Teenie-Probleme der Hautfigur Otis im Vergleich absolut bewältigbar erscheinen ohne diese herunterspielen zu wollen. Offenbar entschieden sich die Macher*innen bewusst für eine kitschige Kulisse. Gemessen an den in Bezug auf Sexualität wichtigen und progressiven Botschaften scheint es seltsam genau diese Eigenschaft der Serie zu kritisieren. Vielleicht steckt darin ja gar eine ironische, bewusst überspitzte Darstellung eines aus Hollywood bekannten Stereotyps. Hätte es nicht erst recht künstlich gewirkt, wäre die Wohnwagensiedlung als einziger Ort ohne eitel Sonnenschein dargestellt worden? Eine realistische Darstellung von Armut bedarf nicht zwangsläufig schockierenden Bildern. Die unterschiedlichen Status- und Lebensverhältnisse werden in einigen Szenen, zum Beispiel als Maeve bei ihrem sehr viel wohlhabenderen Freund Jackson zu Besuch ist, explizit thematisiert.
Nicht Pädagogik ist obsolet sondern bürgerliche Pädagogik
Weiter wird auf dem Mosaik-Blog festgestellt, Sex Education vermittle die Botschaft Pädagogik sei nicht notwendig und von Erwachsenen sei nichts zu erwarten. Es scheint fast so als könnten die Autor*innen die wohl bewusst überspitzte Darstellung von Lehrpersonen und Eltern innerhalb des Genres Komödie nicht einordnen. Selbstverständlich sind nicht alle Erwachsenen so wie in der Serie. Doch es wird ja thematisiert, wie das Verhältnis zwischen Teenagern und Eltern aus der subjektiven Perspektive der Jugendlichen wirken kann. Man könnte anhand der Serie also durchaus auch die eigene Rolle als Eltern oder pädagogische Fachperson reflektieren.
Die stark überzeichnete Darstellung des unbeholfenen Lehrkörpers ist vielmehr als Kritik am (Klein-)Bürgertum statt an Pädagogik generell zu verstehen. Schliesslich wären andere, antiautoritäre pädagogische Ansätze in Schulen heute mehr als nötig. Und die Linke kämpft ja spätestens seit 1968 dafür, mit alternativen Formen von Pädagogik bürgerlichen sozialen Normen zu entgegnen.
Die dargestellte Sexualität
Was Sex Education aber über allem genannten positiv auszeichnet, ist der Umgang mit den Themen Sexualität und Gender. Die Serie zeigt Jugendliche (und Erwachsene), welche unzählige Unsicherheiten bezüglich ihrer Sexualität aufweisen. Im Laufe der Geschichte trauen sie sich diese auszusprechen und sich darüber auszutauschen. Ein sehr diverser Umgang damit wird dargestellt. Die Serie befindet sich diesbezüglich schon viel näher an der Realität, als die meisten Serien- und Filmproduktionen. Themen wie sexueller Consent, Homosexualität oder Abtreibung werden in einer Selbstverständlichkeit thematisiert. Die gängigen Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder werden aufgebrochen, ohne die Darstellung von Sexismus oder zum Beispiel Slutshaming zu vergessen. In der zweiten Staffel nimmt ein sexueller Übergriff inklusive der darauffolgenden Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Bewältigungstrategien [1] einen zentralen Raum ein. All dies auf weitgehend unverkrampfte und äusserst unterhaltsame Weise, ohne geschmacklos oder belehrend zu wirken.
Die Autor*innen des Mosaik Artikels kritisieren die Serie greife reale Probleme der Jugend in ländlichen Gebieten wie beispielsweise mangelndes ÖV-Angebot nicht auf. So weit so gut. Abgesehen davon, dass man wohl immer weitere, nicht berücksichtigte politische Themen finden kann, vergessen die Autor*innen an dieser Stelle, dass eben genau die Thematisierung des sexuellen Übergriffs im Bus für viele sehr lebensweltnahe ist.
Es handelt sich bei Sex Education nicht um eine unbekannte Indie-Produktion, sondern um eine der derzeit meistgeschauten Serien überhaupt. Dies muss einmal ins Verhältnis gestellt werden zu dem, was wir in den 90er- und 2000er-Jahren zum Thema Sexualität aufgetischt bekommen haben: Völlig verblödete heteronormative und unrealistische Teenie-Komödien à la American Pie oder auch Comedyserien wie How I Met Your Mother, welche ein überaus sexistisches Frauenbild vermitteln (wenn auch teilweise auf ironische Art und Weise, was das ganze je nach Intention der Macher*innen aber nicht zwingend besser macht). Wenn heutige Jugendliche mit Serien wie Sex Education aufwachsen, dann sollte dies positiv gewertet werden.
Selbstverständlich hat auch Sex Education seine Schwächen und ist letzten Endes ein Produkt der Netflix-Profitmaschinerie. Im Vergleich dazu, was sonst für Kino, TV und Streaming produziert wird, sticht es allerdings positiv heraus und eine in manchen Belangen verbissen und moralisierend wirkende linke Kritik genau dieser Serie scheint etwas verkehrt.
Fussnote 1: Wenn du die zweite Staffel nicht gesehen hast, dann wird hier jetzt gespoilert. Der Erzählstrang über den Sexuellen Übergriff endet damit, dass Aimee durch die Unterstützung anderer Frauen* wieder mit dem Bus in die Schule fahren kann, wovon sie zuvor abgehalten wurde, da sie im Bus einen Übergriff erlebt hatte. Das Titelbild oben stellt diese Szene dar.