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Griechenland: Die Migrationspolitik der EU ist tot

Seit die Türkei Ende Februar die Grenzen zur EU «öffnete», eskaliert auch in Griechenland die Gewalt von Sicherheitskräften und faschistischen Mobs gegen Geflüchtete, freiwillige Helfer*innen und Journalist*innen. Augenzeug*innen sprechen von pogromartiger Stimmung. Die griechische Regierung feuert die Gewalt noch an und die Europäische Union schaut tatenlos zu, obgleich sich allein in Deutschland fast 140 deutsche Städte und Gemeinden, darunter Berlin, bereit erklärt haben, auch kurzfristig Geflüchtete aufnehmen zu können. Das Schweigen der EU-Staats- und Regierungschefs zu den Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in der Türkei und Griechenland ist eine Bankrotterklärung der europäischen Migrations- und Außenpolitik.

von Nelli Tügel und Stefanie Kron; aus rosalux.de

Die seit dem ersten März-Wochenende in den sozialen Medien kursierenden Augenzeugenberichte von Journalist*innen und Freiwilligen auf den griechischen Inseln zeichnen ein dystopisches Bild – insbesondere von Lesbos. Die Insel sei außer Kontrolle, ein rechtsfreier Raum, schreibt der Fotograf Daniel Kubirski am Sonntagabend in einem Facebook-Post. Die neue rechtskonservative griechische Regierung hatte am Sonntag angekündigt, entgegen geltender internationaler Abkommen, das Asylrecht sowie die Genfer Flüchtlingskonvention für einen Monat außer Kraft zu setzen und die Marine in die Ägäis zu schicken, um die aus der Türkei ankommenden Schutzsuchenden abzuweisen. Vasilis Papadopoulos, Rechtsanwalt und Vorstandsvorsitzender des Griechischen Flüchtlingsrats kommentiert diese neuartige Verletzung des internationalen Rechts:

«Das Land ist nicht befugt, die Genfer Konvention für den rechtlichen Status von Flüchtlingen und vor allem die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung [non-refoulement] auszusetzen. Daher ist die Ankündigung der griechischen Regierung bezüglich der Aussetzung der Registrierung von Asylanträgen und die sofortige Rückführung in das Herkunftsland aller Personen, die undokumentiert in das griechische Territorium einreisen, ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.»

Nachdem der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Samstag die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien und damit zur europäischen Union «geöffnet» hatte und seither zehntausende Menschen versuchen, aus der Türkei über die Ägäis, die griechisch-türkische Grenze am Evros oder die bulgarische Grenze in die EU zu gelangen, treiben griechische Küstenwache und Polizei sowie ein rechtsextremer Mob die Boote der schutzsuchenden Menschen wieder Richtung Türkei aufs Meer zurück, knüppeln ankommende oder schon länger auf den Inseln festsitzende Geflüchtete nieder, setzten offenbar eine – glücklicherweise leer stehende – Erstaufnahmeeinrichtung auf Lesbos in Brand, jagen, schlagen und bedrohen freiwillige Helfer*innen, Journalist*innen und Tourist*innen.

Der grüne Europa-Abgeordnete Erik Marquardt befindet sich seit einer Woche auf Lesbos. Er reiste eigentlich an, um sich einen Eindruck von den Zuständen im berüchtigten Flüchtlingscamp Moria zu machen. Moria ist ein so genannter Hotspot, der für 3.000 Menschen ausgelegt ist. Tatsächlich leben hier, Marquardt zufolge, 20.000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen, darunter 7.000 Kinder. Insgesamt sitzen mehr als 38.000 Geflüchtete (zum Teil schon lange) auf den Inseln fest. Erst am vergangenen Mittwoch, dem 26. Februar, hatten Bewohner*innen auf Lesbos, Chios und Samos gegen den Bau neuer Flüchtlingslager gestreikt. Die katastrophalen Zustände, etwa in Moria, sind seit Längerem Gegenstand der Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Politikerdelegationen aus ganz Europa.

Marquardt berichtet im Interview mit der taz, dass die griechische Küstenwache teils tatenlos zusehe, wie kenternde und manövrierunfähige Schlauchboote mit Geflüchteten aus der Türkei vor der Küste der griechischen Inseln trieben. In einem Fall habe die Küstenwache auf massiven Druck hin ein Boot in einen Hafen geschleppt, wo die lokale Bevölkerung die Geflüchteten, darunter auch Eltern und Kinder, zunächst daran gehindert habe, auszusteigen. Auch hier, so Marquardt, sei die Küstenwache nicht eingeschritten. Der Video-Journalist Michael Trammer wurde am Sonntag von Rechtsradikalen angegriffen. Er spricht im Interview mit dem Tagesspiegel davon, dass ihn die Situation auf Lesbos an Rostock-Lichtenhagen erinnere, es braue sich dort ein Pogrom zusammen, während der griechische Staat den «Rechten das Feld» überlasse. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hatte sich über den staatlichen TV-Sender ERT vor einigen Tagen sogar direkt an Menschen in der Türkei gerichtet, die auf die Ägäisinseln übersetzen wollen: «Ich schicke eine klare Nachricht an diejenigen, die wissen, dass sie keinen Anspruch auf Asyl haben: Kommt nicht», sagte er.

Maria Oshana, die Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen, ist der Meinung, dass der griechischen Regierung die Entscheidung Erdoğans, die Grenze Richtung EU zu «öffnen», gelegen käme: «Regierungspolitiker und Medien in Griechenland sprechen von Invasion und einem Angriff, vor dem sich das Land schützen müsse. Es klingt gerade so», meint Oshana, «als hätten Geflüchtete und Erdoğan gemeinsam diesen ‹Angriff› auf Griechenland ausgeheckt. Nun kann der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, wie schon vor der Wahl angekündigt, mit ‹aller Härte› gegen die ‹illegalen Migranten›, jetzt ‹Invasoren› vorgehen. Dabei rückt er den ohnehin schon erschreckend nationalistisch-rassistischen Diskurs nochmal einige Kilometer nach rechts außen, von den Faschisten der Goldenen Morgenröte kaum mehr zu unterscheiden.»

Unterstützung erhält die griechische Regierung von der EU. Die Grenzschutzagentur Frontex erhöhte ihre Alarmstufe für die EU-Grenzen zur Türkei auf «hoch» und kündigte die Entsendung von Beamt*innen an. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte gegenüber Spiegel online: «Wir sind bereit, zusätzliche Unterstützung über Frontex bereitzustellen, um die Landesgrenzen zu sichern».

Die EU trägt die Hauptverantwortung

Dabei trägt die EU, insbesondere die bundesdeutsche Regierung, die Hauptverantwortung für die aktuelle Situation an den griechischen Grenzen. Im März 2016 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der türkischen Regierung den berüchtigten EU-Türkei-Deal abgeschlossen. Für EU-Gelder in Höhe von rund sechs Milliarden Euro erklärte sich das autoritäre Regime von Erdoğan bereit, Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern in der Türkei festzuhalten. Nun ist eingetreten, wovor Kritiker*innen des Abkommens immer gewarnt hatten: Die türkische Regierung benutzt schutzsuchende Menschen, um von Europa weitere finanzielle Hilfen sowie Beistand im Syrien-Krieg zu erpressen. In Syrien war in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar in der nordwestsyrischen Provinz Idlib die Lage für die türkischen Truppen eskaliert. Mehr als 30 türkische Soldaten starben nach Beschuss durch die syrische Armee. Das NATO-Mitglied Türkei unterstützt in Idlib islamistische Rebellen. Seit vielen Wochen schon steht die Provinz unter massivem Beschuss und Bombardement durch die syrische Armee und die mit ihr verbündeten Truppen Russlands. Eine Million Menschen sind auf der Flucht in der Region und sitzen in der Falle, weil sie nirgendwo hinkönnen, die Grenzen zur Türkei sind nach wie vor dicht. Nach den Ereignissen von Donnerstagnacht startete die Türkei nun mit der «Operation Frühlingsschild» eine Militäroffensive gegen die syrische Armee.

Mal sehen, ob sie es schaffen

Dies ist der Hintergrund für Erdoğans Entscheidung vom Wochenende, die Grenzen zur Europäischen Union zu «öffnen» und damit den EU-Türkei-Deal auszusetzen, unter dem allerdings auch in der Vergangenheit schon Menschen auf die Ägäisinseln übergesetzt hatten. Viele wurden in den vergangenen Jahren mit Pushbacks von griechischer Seite illegal in die Türkei zurück «geschoben». Was nun jedoch geschah: Die türkische Regierung inszenierte die «Grenzöffnung» in beispielloser Weise. Ab Freitag war im türkischen TV in Dauerschleife zu sehen, wie Geflüchtete, vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan (sie genießen in der Türkei keinen Schutzstatus und leben unter noch prekäreren Bedingungen als die syrischen Geflüchteten) zur türkisch-griechischen Grenze liefen, kostenlose Busse wurden zur Verfügung gestellt, Taxifahrer in İstanbul begannen damit, mit «Nach Europa, nach Europa» Rufen Menschen einzusammeln und nach Edirne an der Landgrenze zu bringen. Im türkischen Fernsehen wurden auch Bilder gezeigt, wie Menschen in Boote gesetzt und geradezu auf die Ägäis gedrängt wurden. «Mal sehen, ob sie es schaffen», kommentierte auf CNN Türk ein Journalist das Geschehen.

In dieser aufgeheizten Stimmung kam es auch in der Türkei zu pogromartigen Übergriffen auf Syrer*innen, etwa in Maraş und in Samsun, die sich jedoch in den vergangenen Monaten schon angekündigt hatten. 3,5 Millionen syrische Geflüchtete leben in der Türkei, zuletzt hatte sich die öffentliche Stimmung gegen sie gewendet: Unter türkischen Hashtags wie «Wir wollen keine Syrer» war bereits im vergangenen Jahr massiv gehetzt worden; es gab Übergriffe wie im Juni 2019 in Küçükçekmece/ İstanbul, wo ein Mob Häuser und Geschäfte von Syrer*innen mit Steinen angriff. İstanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP ließ Maßnahmen gegen arabische Ladenschilder verhängen – wegen vermeintlich drohender «Überfremdung». Und im Zusammenhang mit dem türkischen Angriffskrieg auf die syrisch-kurdische Autonomieregion Rojava, der im Oktober 2019 begann und nach dem Krieg in Afrin der zweite massive Angriff auf Nordsyrien war, verschärfte die türkische Regierung erneut den Ton gegenüber den syrischen Geflüchteten im Land, deren Umsiedlung in die nordsyrische Region nach Vertreibung der dort lebenden und vornehmlich kurdischen Bevölkerung sie in Aussicht stellte. All dies hat den Boden bereitet für das, was nun in der Türkei geschieht, wo den Geflüchteten keineswegs «nur» signalisiert wurde, sie könnten das Land Richtung EU passieren – in dem Wissen, dass auf griechischer Seite Polizei und Militär warten –, sondern auch eine Stimmung erzeugt wurde, die vermittelt: Ihr seid nicht mehr willkommen.

Während sich vor diesem Hintergrund nach Erdoğans «Grenzöffnung» an der türkisch-griechischen Landgrenze in kurzer Zeit Berichten zufolge mehr als 10.000 Menschen sammelten, begann der türkische Innenminister Süleyman Soylu mit einer Art Ticker: Über Twitter gab er seit Samstag regelmäßig neue Zahlen durch, wie viele Geflüchtete die Türkei bereits verlassen hätten. Am Sonntag sollen es angeblich mehr als 100.000 gewesen sein, die griechische Seite dementiert dies und verweist darauf, «illegale Grenzübertritte» zum Großteil verhindert zu haben.

Die Menschen hängen also bei Kälte und ohne Schutz im Grenzgebiet fest und kommen nicht weiter. Denn auf der anderen Seite dieses unerträglichen, inhumanen Schauspiels stehen schwer bewaffnete griechische Grenzschützer und schießen mit Tränengaskartuschen und Wasserwerfern auf die Schutzsuchenden, unter denen viele Kinder sind.

Wer schweigt, stimmt zu

Und der Rest der Europäischen Union? Das Schweigen der europäischen Regierungen ist dröhnend, insbesondere das der deutschen Bundesregierung. Die EU hatte sich unter ihrer Regie 2016 mit dem EU-Türkei-Deal einen «Frieden» erkauft, der nie einer war. Nun steht die Staatengemeinschaft vor den Scherben dieser Politik. Das Schweigen gegenüber dem NATO-Partner Türkei, der in Syrien Krieg führt und nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er die Geflüchteten im Land als Faustpfand betrachtet; das Schweigen der deutschen Regierung zu den mehr als 140 solidarischen Städten und Gemeinden, die ihre Bereitschaft erklärt haben, sofort Schutzsuchende aufzunehmen; das Akzeptieren der seit langem katastrophalen Zuständen auf den griechischen Inseln und das Schweigen gegenüber den Angriffen der neuen rechtskonservativen Regierung in Athen auf Geflüchtete und Unterstützer*innen; die Aufrüstung an den EU-Außengrenzen, das Hinnehmen des Massengrabs Mittelmeer, das Anmahnen einer «europäischen Lösung», die es nicht geben wird; die Rolle der EU in kriegerischen Auseinandersetzungen, etwa durch Waffenexporte, ebenso wie die Ignoranz gegenüber den sozialen und ökologischen Notwendigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der Menschen zur Flucht zwingt – all dies macht dieser Tage deutlich wie nie, dass die europäische Migrationspolitik vollumfänglich gescheitert ist.

Die Europäische Union hat sich mit dem EU-Türkei-Deal erpressbar gemacht und die Menschenrechte geschleift. Eine Neuauflage dieses Abkommens, wie es viele nun fordern, darf es nicht geben. Stattdessen müssen die Grenzen nach Europa sofort geöffnet und die rasante Formierung eines europaweiten faschistischen Blocks bekämpft werden. Nur so können Erdoğans Erpressung zurückgewiesen, das Recht auf Asyl gewährleistet und Migrant*innen und Geflüchtete in ganz Europa vor der eskalierenden rechtsextremen und rassistischen Gewalt geschützt werden.

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