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Konsum: Der Kunde ist König, doch regiert er auch?

Immer wieder wird behauptet, der Kunde sei König und steuere das Güter-Angebot über die Nachfrage und somit die Produktion über den Konsum. Die Unternehmen würden nur auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren. Mit dieser einfachen Erzählung wird die Verantwortung für unökologische und unfaire Produktion auf die Kund*innen abgewälzt. Dass es so einfach nicht ist, soll exemplarisch an der Autoindustrie gezeigt werden. Dieser Artikel ist auch in der neusten Ausgabe der Antikap erschienen.

von Henri Ott (BFS Jugend Zürich)

Die Mär vom sich selbst regulierenden Markt ignoriert die sozialen Kontexte, in welchen Bedürfnisse entstehen. Durch die Erzählung, die Angebotsseite reagiere lediglich auf menschliche Bedürfnisse, werden Bedürfnisse als urmenschlich und ahistorisch beschrieben. Zu Beginn war das Bedürfnis und siehe da, es ward Ware. Mal abgesehen von ein paar Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken, Liebe und Schlaf, trifft diese Entstehungsgeschichte bei kaum einem anderen Bedürfnis zu. Bedürfnisse fallen nicht vom Himmel, sondern entstehen in der Gesellschaft. Das Bedürfnis muss zudem nicht immer am Anfang stehen, es kann auch eine Ware auf den Markt gebracht werden, die ein Bedürfnis nach eben dieser Ware überhaupt erst entstehen lässt. Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Produktion und Konsumation oder wie Marx sich ausdrückt: «Ohne Bedürfnis keine Produktion. Aber die Konsumtion reproduziert das Bedürfnis». Die Wahrnehmung der Menschen, dass eine bestimmte Ware zu haben ist, erzeugt das Bedürfnis danach.

So gibt es beispielsweise schon längere Zeit Geländewagen und Pickups, die aber vorerst das Fahrzeug für diejenigen Menschen blieben, die in Gebieten ohne gute Infrastruktur lebten. Die Autoindustrie hat erst nach vielen Jahren begonnen, diese Fahrzeuge offensiv bei den urbanen Schichten zu bewerben und aus einem Geländefahrzeug einen Stadtpanzer für den modernen Stadtmenschen zu machen. Durch die vermehrte Sichtbarkeit von SUVs in Städten ist auch das Bedürfnis nach so einem Fahrzeug gestiegen. Wie sich Bedürfnisse schaffen lassen, wusste die Autoindustrie allerdings bereits viel früher.

Bedürfnisse dem Markt anpassen

Los Angeles ist neben Hollywood vor allem für zwölfspurige Autobahnen, endlose Staus und einen besonders schlechten öffentlichen Verkehr bekannt. Doch das war nicht immer so. In den 1920er Jahren schlängelte sich ein Tramnetz von 2’000 Kilometern durch die Metropole. Dies machte es zu einem der grössten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt – beinahe 90% der Städter*innen nutzten die Tram und nicht das Automobil. Wo kein Bedürfnis nach Autos vorhanden ist, gibt es auch keine zu verkaufen. Also musste die Automobilbranche das Bedürfnis nach ihren Waren selbst generieren. General Motors, der Reifenhersteller Firestone, Standard Oil of California, Phillips Petroleum und der Lastwagenhersteller Mack Trucks gründeten eine Holding zu eben diesem Zweck. Diese Holding kaufte in 45 US-amerikanischen Städten Anteile an den lokalen Tram-Unternehmen und legten sie danach kurzerhand still. Um die Stilllegung der mit Elektrizität betriebenen Trams zu forcieren, wurden teilweise auch Stromanbieter aufgekauft und die Preise für Strom drastisch erhöht, was die Tram unrentabel machte. Ganze Tram-Strecken wurden stillgelegt, aber die Menschen mussten weiterhin von A nach B kommen. Wie gerufen kamen da die dieselbetriebenen Busse der Greyhound Company (Mitgründer war wiederum General Motors) und die Yellow Coaches von Hertz, der noch heute einer der grössten Player im Autoverleih ist. Fahrzeugbauer, Ölfirmen und Reifenhersteller hatten nun viel zu produzieren, weil eben das Bedürfnis nach Bussen und Autos gestiegen war. Man reagiere doch lediglich auf die Wünsche der Kund*innen, so die Unternehmen. Das von privaten Unternehmen forcierte Stilllegen ganzer Strecken, die als «General Motors Streetcar Conspiracy» in die Geschichte einging, wurde 1950 aufgedeckt. In der Folge wurden die Verantwortlichen zu lächerlich kleinen Bussen verurteilt. Doch was half das schon, denn der Schaden war angerichtet. 1963 fuhr in Los Angeles die letzte Tram. Erst im Jahre 1990 wurde wieder eine Strecke gebaut, um dem ausufernden Autoverkehr zumindest ein wenig entgegenzuwirken.

Auf Bedürfnisse reagieren

Die Industrie kreiert nicht nur neue Bedürfnisse, sondern arbeitet auch daran, bestehende Bedürfnisse zu verändern. Die Kund*innen wollen Produkt A, aber die Industrie würde lieber Produkt B verkaufen. Warum also nicht aus dem B eine A machen? So wie es die deutsche Autoindustrie mit dem Energielabel geschafft hat. Weil Umweltschutz für viele Menschen ein Bedürfnis ist und weil es sinnvoll wäre, den Planeten nicht kollabieren zu lassen, entschlossen sich die EU-Umweltminister*innen dazu, auch im Bereich Verkehr Umweltschutzregeln zu erlassen. Dies geschah zwar erst im Jahr 1995, aber immerhin. In Deutschland ist die Autobranche ein wichtiger Wirtschaftsakteur und seit jeher mit der Politik eng verbunden. So verwundert es nicht, dass gerade deutsche Politiker*innen und Lobbyist*innen alles tun, um «ihre» Branche zu beschützen.

Damals hiess die deutsche Umweltministerin Angela Merkel und ihr Kollege im Verkehrsministerium Matthias Wissmann, beide CDU. Die EU erliess Höchstwerte (jedes Auto darf maximal 120 Gramm Kohlendioxid ausstossen), doch Merkel und Wissmann können eine Übergangszeit von zwölf (!) Jahren aushandeln. Während dieser Frist durften die Autoherstellenden auch Autos verkaufen, welche die Höchstwerte überstiegen – immerhin bedurften die Ärmsten ja Zeit für die Umstellung. Das Bedürfnis nach einer sauberen Umwelt wurde einfach ignoriert. Wissmann wechselte 2007 vom Verkehrsministerium als Präsident zum des VDA (Verband der Automobilindustrie) und als Vizepräsident zur Lobbyorganisation «pro Mobilität».

In der Zwischenzeit überlegte man sich in den Umweltministerien Europas neue Strategien, wie man die Konsument*innen zum Kauf von umweltfreundlicheren Autos animieren und gleichzeitig Transparenz schaffen könnte. Denn klar ist, dass die Konsument*innen Informationen über Produkte brauchen, um entscheiden zu können, welches Produkt ihren Bedürfnissen entspricht. Der Entschluss fiel auf Energielabels. Jedes Elektroprodukt, aber auch jedes Auto, sollte ein Label erhalten, das den Stromverbrauch beziehungsweise den CO2-Ausstoss klar benennt und von gut (A) bis sehr schlecht (G) beurteilt. Blöd nur, dass sich die Autoindustrie schon auf SUVs eingeschossen hatte, die bei den Labels im Vergleich zu Kleinwagen immer schlecht abschneiden würden.

Unter Federführung des Cheflobbyisten Wissmann und dem deutschen Wirtschaftsministerium wurde das Gesetz angepasst. Nicht mehr die absolute Menge an ausgestossenem CO2 pro Auto soll massgeblich für das Label sein, sondern der Ausstoss bezogen auf das Gewicht des Autos. Das führt dazu, dass ein schweres Auto viel CO2 ausstossen kann und trotzdem das gleiche Label erhält, wie ein leichter Wagen mit wenig CO2-Ausstoss. Ferner kommt hinzu, dass das CO2 bei der Herstellung des Autos nicht miteingerechnet wird, obwohl natürlich klar ist, dass die Produktion eines tonnenschweren SUVs mehr Emissionen verursacht als die eines Kleinwagens.

Den Konsument*innen wird so vorgegaukelt, dass ein SUV mit Label C sei gleich energieeffizient und umweltfreundlich wie ein Kleinwagen mit demselben Label. Damit hat die Autolobby gleichzeitig das das Bedürfnis der Konsument*innen nach umweltfreundlichen Autos (Label A-C) sowie des eigenes Bedürfnis nach dem Verkauf von möglichst vielen grossen, schweren und damit umweltschädlichen Autos bedient. Das Märchen, man würde ja nur passiv auf Kund*innenwünsche reagieren, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung also als Schall und Rauch.

Bedürfnisse kollektiv diskutieren

Es gäbe noch unzählige weitere Beispiele, wie die Autoindustrie Bedürfnisse schuf, unterdrückte oder zu ihren Gunsten modifizierte. Die Unternehmen sitzen dabei stets am längeren Hebel als die einzelnen Individuen, die für sich Kaufentscheidungen treffen. Wie eingangs erwähnt, sind Bedürfnisse nicht vom sozialen Kontext zu lösen, in welchem sie entstehen. Deshalb muss die Gesellschaft auch kollektiv über ihre Bedürfnisse diskutieren und entscheiden können, was und wie produziert werden soll.

Dies wäre ein Albtraum für die Kapitalist*innen. Denn im Kapitalismus werden immer nur die Bedürfnisse von denjenigen Menschen befriedigt, die sich den Kauf bestimmter Waren leisten können. Bedürfnisse von Menschen ohne Geld interessieren nicht. Die Machtungleichheit führt dazu, dass eine kleine Anzahl reicher Menschen mit einem unersättlichen Bedürfnis nach Wohlstand die Bedürfnisse einer grossen, aber finanzschwachen Mehrheit komplett übergehen kann. Eine Welt, in der die Bedürfnisse aller so gut es geht befriedigt werden, muss demokratisch und losgelöst von der Profitlogik sein. Anders wird es nicht gehen.

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