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USA: Die Wurzeln der Black Lives Matter-Bewegung

Der brutale Mord an George Floyd durch die US-Polizei hat die 2014 entstandene Black Lives Matter-Bewegung wiederbelebt und führt seit dem 25. Mai 2020 zu massiven Unruhen und Protesten in über 140 Städten der USA. Im Kontext einer ungeheuerlichen ökonomischen und sozialen Krise, welche die USA zurzeit erlebt und die afroamerikanische Bevölkerung besonders hart trifft, führte der rassistische Polizeimord zur Explosion des Pulverfasses. Keeanga-Yamahtta Taylor, Aktivistin und Autorin des bekannten Buches «From #BlackLivesMatter to Black Liberation», analysiert in einem Beitrag von 2015 die Hintergründe und die Wurzeln der neuen Bürgerrechtsbewegung. (Red.)

von Keeanga-Yamahtta Taylor; aus marx21.de

Die 2014 entstandene Black Lives Matter-Bewegung, die sich gegen den Rassismus, die Brutalität und die Ungerechtigkeit, die zum Wesen des US-amerikanischen Justizsystems gehören, richtet, ist erneut ein Beleg gegen die Behauptung, dass die USA ihre rassistische Geschichte längst hinter sich gelassen haben und wir in einer »post-racial society« [einer Gesellschaft, die keine ethnischen Kategorien mehr kennt; Anm. d. Red.] leben.

Immer wieder haben in den vergangenen Jahrzehnten politische Ereignisse gezeigt, wie tief Rassenungerechtigkeit in der US-amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. Der Aufstand in Los Angeles im Jahr 1992 war bisher das dramatischste Beispiel dafür. Nach der Rebellion herrschte bis Ende der 1990er Jahre große öffentliche Empörung über das weit verbreitete «Racial Profiling» gegen schwarze Männer. Doch das änderte sich infolge der Anschläge des 11. Septembers 2001. Die Vorbereitungen der Regierung Bush auf einen neuen Irakkrieg wurden von einer massiven rassistischen Hetze begleitet. Sie diente auch dazu, das verpönte Racial Profiling wieder salonfähig zu machen, um es im »Krieg gegen Terror« gegen Muslimas und Muslime anzuwenden. Die bis dato wachsende antirassistische Bewegung wurde erstickt von einer Welle des Chauvinismus und der Islamophobie.

Keine «schwarze Agenda»

Im darauffolgenden Jahrzehnt nahmen die Proteste langsam wieder zu. Die Widersprüche des Kriegs und die ökonomische Krise bereiteten der Bush-Ära ein Ende. Obama wurde zum ersten afroamerikanischen Präsident gewählt. Dies passierte nicht nur, weil er in seinem Wahlkampf an der Wut auf Bush und dessen Politik anknüpfte, sondern auch, weil er seine Kandidatur als eine Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 60er Jahre darstellte.

Nicht zuletzt deswegen stimmten 95 Prozent aller Schwarzen, die sich an der Wahl beteiligten, für ihn. Trotzdem war er als Präsident ein sehr zurückhaltender Verfechter ihrer Interessen. Das schwarze Amerika befand sich inmitten eines wirtschaftlichen Sturzflugs, konfrontiert mit zweistelligen Arbeitslosenzahlen, wachsender Armut und den katastrophalen Folgen des Zusammenbruchs des Immobilienmarkts. Obama und seine politischen Gefolgsleute – allen voran der bekannte Bürgerrechtler Reverend Al Sharpton – konstatierten, dass der Präsident keine «schwarze Agenda» brauche, da die afroamerikanische Bevölkerung auch von einer Politik des «Aufschwungs für alle» profitieren würde.

Die Regierung weigerte sich dementsprechend, Strategien zur Überwindung der strukturellen Ungleichheit zu entwickeln, die dafür verantwortlich ist, dass sich die Krise überproportional stark in schwarzen Wohngegenden auswirkte. Zudem griff sie die schwarzen Gemeinschaften ideologisch an: Obama beschimpfte Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner für alles Mögliche – sei es, dass sie zu viele Kinder außerhalb der Ehe bekämen oder dass sie ihren Kindern kaltes Hühnchen zum Frühstück servieren würden. Die Botschaft des Präsidenten war eindeutig: Die schwarze Bevölkerung sollte selbst die Verantwortung für die Auswirkungen der schlimmsten Krise seit der Großen Depression von 1929 übernehmen.

Doch die im Herbst 2011 einsetzende Occupy-Bewegung brachte die Widersprüche des US-amerikanischen Wegs zur wirtschaftlichen Genesung ans Tageslicht. Sie kontrastierte die grenzenlosen Rettungspakete für große Unternehmen mit dem Elend von Millionen, die unter Arbeitslosigkeit, Wohnungskündigungen und Zwangsräumungen leiden. Mit dieser Fokussierung auf ökonomische Ungleichheit eröffnete Occupy auch neue Räume für Diskussionen über die Lage der schwarzen Minderheit. Im Frühling 2012 demonstrierten schließlich Tausende gegen den Mord an dem unbewaffneten schwarzen Teenager Trayvon Martin. Der Freispruch seines Mörders war auch die Geburtsstunde des kämpferischen Slogans «Black Lives Matter».

Strafzettel als Einnahmequelle

Diese Entwicklungen muss man kennen, um die Ereignisse in Ferguson [und 2020 in Minneapolis; Anm. d. Red.], wo im August 2014 der junge Afroamerikaner Mike Brown von der US-Polizei erschossen wurde, zu verstehen. Niemand hätte erwartet, dass ein kleiner Vorort am Rand von St. Louis das Epizentrum eines Aufstands gegen den Polizeiterror in den Vereinigten Staaten werden würde.

Nichtsdestotrotz lässt es sich einfach nachvollziehen, warum die Situation in Ferguson explodierte. Die schwarze Bevölkerung wurde nicht nur täglich von rassistischen Polizistinnen und Polizisten belästigt, die Stadtverwaltung finanzierte sich zudem maßgeblich durch Bußgelder auf Bagatelldelikte. Strafzettel sind die zweitgrößte Einnahmequelle der Stadt. Der Gegensatz zwischen einem weißen, zutiefst rassistischen Polizeiapparat und einer mehrheitlich schwarzen Bevölkerung nahm wortwörtlich institutionelle Formen an. Als die Polizei Mike Brown erschoss und seine Leiche über vier Stunden auf der Straße liegen ließ, wurde dieser Polizei- zu einem Lynchmord. Die Wut in Ferguson entzündete das gesamte schwarze Amerika und landesweit kam es zu großen Protesten. Die jungen Protestierenden in Ferguson wurden als «gewalttätig» denunziert, die örtliche Polizei setzte Panzer, Tränengas und schwere Waffen gegen unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder ein.

Doch der Protest riss nicht ab und erzwang eine breite öffentliche Debatte über Rassenungleichheit, die Polizei und das Rechtssystem. Zugleich machte er aber auch die Spaltung der schwarzen Bevölkerung sichtbar. Das ist wahrscheinlich eines der wichtigsten politischen Resultate dieser Bewegung. Denn es waren nicht nur die Medien, welche die Demonstrierenden als gewalttätig beschrieben, um vom Polizeiterror abzulenken. Auch schwarze Politikerinnen und Politiker und einflussreiche Personen wie Al Sharpton [ein US-amerikanischer Bürgerrechtler, baptistischer Prediger und Radio-/Fernsehmoderator; Anm. d. Red.] mahnten zur Gewaltlosigkeit und gingen sogar so weit, zwischen «guten» und «schlechten» Protestierenden zu unterscheiden.

Auf der Beerdigung von Mike Brown ging Sharpton sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptete, dass Schwarze im 21. Jahrhundert die Möglichkeiten, die ihnen offenständen, nicht wahrnehmen würden, weil sie gesellschaftlichen Aufstieg als «nicht schwarz» betrachten würden. Er kritisierte, dass die afroamerikanische Jugend die notwendige Eigenverantwortung für ihre Lage nicht übernähme und stattdessen «ghetto pity parties» (Ghetto-Selbstmitleid-Partys) veranstaltete.

Nach Ferguson entsteht «Black Lives Matter»

Sharptons harsche Worte für die jungen Protestierenden in Ferguson waren weit mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit über die richtige Strategie und Taktik der Bewegung. Vielmehr stellten sie einen Versuch dar, die Kontrolle über deren politische Ausrichtung wiederzuerlangen. Obwohl die wenigsten schwarzen Politikerinnen und Politiker sich so direkt äußerten wie Sharpton, versuchten doch viele, die Energie der Bewegung in den Wahlkampf der Demokraten zu kanalisieren.

Doch die Jugendlichen aus der Arbeiter*innenklasse, die die Rebellion vorantreiben, verstanden, dass sie auf der Straße bleiben mussten, um die Bewegung am Leben zu halten. Diese Einsicht erwies sich als entscheidend, als sich das Geschworenengericht im November 2014 dagegen entschied, Anklage gegen Browns Mörder Darren Wilson zu erheben. Bundesweit hatten Aktivistinnen und Aktivisten dieses Urteil erwartet und sich wochenlang darauf vorbereitet. Unmittelbar nachdem die Entscheidung gefallen war, ging Ferguson in Flammen auf. Die Polizei ließ das Feuer die Nacht über brennen und lieferte so die passenden Bilder für die hysterische Berichterstattung über die angebliche Gewaltorgie, die von den Protestierenden ausgehe.

Nach einigen Tagen ebbte die Bewegung angesichts der unvermeidbaren Enttäuschung, Müdigkeit und Demoralisierung wieder ab. Doch in diese Situation platzte die Entscheidung eines weiteren Geschworenengerichts, einen anderen weißen Polizisten nicht anzuklagen, der einen unbewaffneten Schwarzen getötet hatte. Die Proteste gegen diese Entscheidung im Fall von Eric Garner waren größer und breiter als je zuvor. Am 13. Dezember 2014 nahmen unter dem Motto «Black Lives Matter« etwa 100.000 Menschen an Demonstrationen in New York, Washington und anderen Städten teil.

Weitere Polarisierung

Auf lange Sicht wird die Stärke der Bewegung davon abhängen, ob sie in der Lage ist, nicht nur viele Personen zu Demonstrationen zu mobilisieren, sondern sie als Aktivisten und Organisatorinnen in die Bewegung zu integrieren. Es wird zu einer weiteren Polarisierung innerhalb der antirassistischen Bewegung kommen, weil die konservativen Kräfte darin versuchen werden, die Forderungen auf ein Minimum zu reduzieren, etwa auf die strafrechtliche Verfolgung einzelner Polizistinnen und Polizisten oder kleine Reformen im Polizeiapparat. Doch auch andere Auffassungen über die Aufgaben der Bewegung sind möglich. Beispielsweise ließe sich an Martin Luther Kings Einschätzung aus den späten 1960er Jahren anknüpfen:

«Unter diesen schwierigen Bedingungen beinhaltet die viel mehr als bloß den Kampf um die Rechte der Schwarzen. Sie zwingt Amerika dazu, sich all seinen zusammenhängenden Problemen zu stellen – Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus. Sie entblößt die vielen Übel, die tief in der Struktur unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Sie enthüllt die systemischen anstatt der oberflächlichen Mängel und deutet darauf hin, dass ein radikaler Umbau der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe ist, der wir uns stellen müssen.»

Das gilt auch heute noch: Es ist unmöglich, die Brutalität der Polizei und das Unrecht des Justizsystems von der Armut und Unterbeschäftigung innerhalb der schwarzen Gemeinschaften zu trennen. Es ist unmöglich, einen Rückgang der Polizeigewalt zu fordern, ohne die Überbelegung der Gefängnisse, den Drogenkrieg und die ökonomischen Zwänge zu thematisieren, die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner besonders treffen. Diese Probleme werden sich angesichts der fortdauernden Zerstörung des öffentlichen Sektors, der urbanen Umstrukturierung sowie der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt noch verschärfen.

In diesem Kontext ist das aggressive Verhalten der Polizei zu einem integralen Bestandteil des Systems geworden. Es dient dazu, die Grenzen zwischen den segregierten weißen und schwarzen Wohngegenden aufrechtzuerhalten und Jagd auf ökonomisch marginalisierte junge schwarze Männer zu machen, die in die Schattenwirtschaft gedrängt wurden. Solange die zerstörerische Sparpolitik fortgesetzt wird, ist nicht zu erwarten, dass die Konfrontationen und Provokationen der Polizei in den schwarzen Gegenden abnehmen werden.

Der Kampf hat erst begonnen

Die Fähigkeit der Bewegung, mit den Gewerkschaften – afroamerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter haben nach wie vor einen höheren Organisationsgrad als weiße – zusammenzuarbeiten, wird in den kommenden Monaten und Jahren von großer Bedeutung sein. Die bereits vorhandene Solidarität zwischen der Bewegung der Niedriglohnbeschäftigten und «Black Lives Matter» hilft, die Verbindungen zwischen ökonomischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung zu verdeutlichen. Eine Entwicklung dieses Kampfes hin zu einem Punkt, an dem sich Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Betrieben für ein Ende der rassistischen Gewalt einsetzen, ist durchaus vorstellbar.

Die Bewegung hat großes Potenzial. Sie stellt die weitverbreiteten Vorurteile über die afroamerikanische Bevölkerung in Frage und untergräbt so die rassistische Logik, die den US-amerikanischen Kapitalismus zusammenhält. Obwohl Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der weißen Bevölkerung nach wie vor großes Vertrauen in die Polizei hat, sind ihre Ansichten keineswegs in Stein gemeißelt. Der Schlüssel, um reaktionäre Einstellungen zu transformieren, liegt im politischen Kampf, der die Vorstellung erschüttert, dass Schwarze minderwertig seien und eine solche Behandlung durch die Polizei verdient hätten. Dieser Kampf hat gerade erst begonnen.

Text wurde ursprünglich am 10. August 2015 auf Deutsch publiziert. Die aktuelle Version wurde durch die Redaktion leicht angepasst und gekürzt.

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