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Bergkarabach: Gegen den Krieg und die Politik Erdogans!

Seit mittlerweile einem Monat wird im Kaukasus wieder heftig gekämpft. Aserbaidschan versucht die «abtrünnige» Republik Arzach (ehemals Bergkarabach) zurückzuerobern und stösst dabei auf erbitterten Widerstand arzachischer wie auch armenischer Truppen. Der Krieg wird durch die massive Unterstützung der Türkei befeuert, die Drohnen und syrische Söldner nach Aserbaidschan gebracht hat. Dass ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt nun wieder eskaliert ist, dient schlussendlich den Interessen Erdogans, der das Einflussgebiet der Türkei ausweiten möchte. Der Konflikt kostet tausenden jungen Menschen auf beiden Seiten das Leben.

von Matthias Kern (BFS Zürich)

Die aktuellen Kämpfe und ihre Auslöser

Seit dem 27. September 2020 herrscht Krieg im Kaukasus. Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan starben bislang innert Monatsfrist schon mehrere tausend Menschen und ein Ende des Konflikts ist aktuell nicht abzusehen. Klar ist aber bereits jetzt: Im bereits länger schwelenden Konflikt hätte Aserbaidschan den Angriff auf die in ihren Augen „abtrünnige“ Provinz nicht gewagt, hätte es nicht Rückendeckung von Erdogan und dem türkischen Militär bekommen. Die Türkei, die in schweren innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, versucht mit dem Krieg eine zentrale Stellung im Kaukasus und somit Einfluss in der für den Transport von Erdgas und Erdöl wichtigen Region zu erlangen. 

Erdogan hofft, mit einem Krieg gegen die in der Türkei sowieso verhassten Armenier*innen seine innenpolitische Stellung zu festigen. Ein Sieg Aserbaidschans und damit die Eroberung Arzachs würde die Vertreibung der dort ansässigen christlichen armenischen Bevölkerung bedeuten. Etwas, das vor allem die nationalistischen und radikalislamischen Kräfte in der Türkei in Freude versetzen würde.

Dementsprechend heftig tobt der Krieg. Anders als beispielsweise in Syrien oder auch in Libyen treffen in Arzach aktuell zwei vollständig ausgerüstete, relativ grosse Armeen aufeinander. Für die armenische Bevölkerung in Arzach geht es um nichts weniger als ihr Überleben, während die aserbaidschanische Seite über Jahre vom autoritär herrschenden Präsidenten İlham Əliyev (Ilham Aliyev) zum Krieg angestachelt wurde und aufgrund der türkischen Unterstützung siegessicher in den Krieg gezogen ist.

Der aktuelle, relativ „symmetrische“ Krieg, bei dem neben grossen Artillerieverbänden und Panzer auch Mittel- und Kurzstreckenraketen zum Einsatz kommen, führt zu massiven Verlusten an Menschenleben, weitreichender Zerstörung der Infrastruktur sowie zu bislang dutzenden zivilen Opfern und tausenden Vertriebenen.

Die historischen Hintergründe des Konflikts

Der Bergkarabach- Konflikt ist nicht neu. Eigentlich schwelt er schon seit 30 Jahren, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekriegten sich Armenien und Aserbaidschan um die Vorherrschaft im bergigen Landstrich, der vornehmlich von Armenier*innen besiedelt war, aber wegen seiner geografischen Lage historisch eine engere Bindung an die wirtschaftlichen Zentren Aserbaidschans hatte. Der schwelende Konflikt brach 1992 im Zuge von Massenmorden durch Aserbaidschaner*innen  und Armenier*innen an der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe offen aus. Der Krieg dauerte bis 1994 an und kostete zehntausenden Soldaten und Zivilist*innen das Leben und führte zur Vertreibung von 400‘000 Armenier*innen und 700‘000 Aserbaidschaner*innen.

De facto ist Arzach, das sich bis 2017 noch Bergkarabach nannte, seit 1994 ein eigenständiger Staat, der stark von Armenien abhängig ist. International anerkannt wurde Arzach bis heute aber nicht. Nicht einmal Armenien hat die Unabhängigkeit der Provinz bestätigt, um für Verhandlungen mit Aserbaidschan bezüglich der Region nicht unnötige rechtliche Hindernisse zu schaffen.

Im Verlaufe der Jahre kam es nicht nur immer wieder zu ergebnislosen Verhandlungen, sondern auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die sich aber meistens auf einzelne Grenzabschnitte beschränkten und oftmals durch Vermittlung von Russland wieder eingestellt wurden. Der Konflikt entbrannte in diesem Herbst ein erstes Mal seit den 1990er Jahren wieder in zu einem vollumfänglichen Krieg.

Arzach hat im Gegensatz zu Aserbaidschan ein relativ transparentes bürgerlich-demokratisches Präsidialsystem, zu dessen Wahlen internationale Beobachter*innen zugelassen werden. 

Zu den wichtigsten Fürsprecher*innen einer unabhängigen Republik Arzach gehörten, trotz einer weiterhin bestehenden Nichtanerkennung, historisch gesehen Russland, Frankreich sowie die USA. Im aktuellen Konflikt hat sich bislang vor allem Frankreich verbal am deutlichsten auf die Seite Armeniens bzw. Arzachs gestellt. Dies wiederum befeuert aktuell die eskalierende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Frankreich und der Türkei.

Die Rolle von Erdogans Türkei

Unterstützt wird Aserbaidschan im aktuellen Krieg im besonderen Masse von der Türkei. Zwar ist die aserbaidschanische Bevölkerung überwiegend schiitisch, sie spricht aber mit Aserbaidschanisch eine dem Türkischen sehr eng verwandte Sprache. Auch wird, wie im Türkischen, das lateinische Alphabet verwendet. Gerade der türkische Präsident Erdogan wurde in der Vergangenheit nicht müde zu betonen, dass es sich bei Aserbaidschaner*innen und Türk*innen eigentlich um „ein Volk in zwei Ländern“ handle.

Im Rahmen ihrer Expansionsstrategie, die bereits in Syrien, in Libyen und im Konflikt mit Griechenland zu beobachten ist, versucht die Türkei ihren Einfluss im ganzen Gebiet des ehemaligen osmanischen Reichs auszuweiten und träumt von einer Grosstürkei.

In diesem Kontext ist auch der Angriff auf den armenischen Landstrich Arzach zu verstehen. Dabei unterstützt die Regierung Erdogans die aserbaidschanische Diktatur unter Əliyev nicht nur ideologisch, sondern auch mit modernen Waffensystemen und syrischen Söldner. Vor allem die Bayraktar TB2, eine hochmoderne Kampfdrohne aus türkischer Produktion, hat sich im aktuellen Krieg als schlagkräftige Waffe erwiesen, der die armenischen Truppen praktisch schutzlos ausgeliefert sind.

In einer Rekrutierungskampagne hat die Türkei zudem unter ihrer Schirmherrschaft stehende syrische Rebellengruppen aus der Region um Idlib und nördlich von Aleppo nach Aserbaidschan gebracht. Aktuelle Quellen gehen von bis zu 4‘000 Söldern aus, die im Dienste Aserbaidschans vor allem als „Kanonenfutter“ verwendet werden und die, so ist es aus den syrischen Gebieten zu vernehmen, hohe Verluste zu erleiden haben.

Dass aktuell türkische Waffen und Söldner gegen Armenien eingesetzt werden, birgt dabei eine besondere Brisanz. Denn die Türkei hatte 1915/16 einen Genozid an der armenischen Bevölkerung begangen, in welchem durch Deportationen ins Gebiet des heutigen Syriens schätzungsweise zwischen 300‘000 und 1,5 Mio. Armenier*innen starben. Das Feindbild Armenien wird auch von der heutigen türkischen Regierung aufrechterhalten, um den türkischen Nationalismus zu schüren. Er wird aktuell erneut besonders vehement beschworen, weil Erdogans Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise steckt. Die militärischen Interventionen in Libyen, Syrien, im Nordirak und in der Ägäis dienen dabei als Ablenkung von den schweren innenpolitischen Zerwürfnissen und dem drohenden Kollaps der türkischen Lira.

Was sich mit der türkischen Intervention im Kaukasus allerdings eröffnet, ist ein äusserst komplizierter Konflikt, dessen Konsequenzen noch nicht absehbar sind und der sich auch zu einem Flächenbrand entwickeln könnte. Denn die Türkei fordert damit die Hegemonie Russlands in der für Russland strategisch wichtigen Region des Kaukasus heraus. Russland hat bislang nur verhalten reagiert. Als indirekte Antwort kann die verheerende Bombardierung eines Trainingscamps der Gruppierung Faylaq al-Sham im Westen Syriens verstanden werden, bei der vermutlich über 100 Kämpfer getötet wurden. Die Sham-Legion ist eine der Lieblingsgruppen der Türkei in Syrien, sie bildet diese aus und beliefert sie mit Waffen. Wie Russland zukünftig auf die veränderte Situation, mit islamistischen Milizen im Kampfeinsatz direkt vor seiner Haustüre und einer sich immer offensiver gebärdenden Türkei reagieren wird, ist bislang noch völlig offen. Klar ist, dass es zu einer Reaktion kommen wird. 

Waffen aus Israel und Unterstützung aus Deutschland

Aserbaidschan hat aber auch noch einen weiteren, eher überraschenden Verbündeten: Israel. Aserbaidschan importiert ungefähr 60 Prozent seiner Waffen aus Israel, lässt alte sowjetische Panzer von israelischen Rüstungsfirmen modernisieren – im Gegenzug liefert Aserbaidschan Öl an Israel, das dieses als unerlässlich für die eigene Energiesicherheit sieht.

Insbesondere so genannte „Suizid-Drohnen“, relativ kleine, autonom fliegende Drohnen des Typs „Harop“, die vom Unternehmen IAI hergestellt werden, sind für die armenische Armee verheerend. Suizid-Drohnen heissen die Harops, weil sie mit Sprengstoff bestückt werden können und anders als herkömmliche Drohnen diesen nicht abwerfen, sondern mitsamt dem Sprengstoff in die ausgewählten Ziele rasen und dann explodieren. Sie sind so für die gegnerische Luftabwehr kaum abzufangen.

Doch auch auf anderer Seite kann sich Aserbaidschan und die damit verbündete Türkei auf indirekte Unterstützung verlassen. Bislang hat die EU den aserbaidschanischen Angriffskrieg zwar verurteilt, wirksame Massnahmen wie Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei wurden aber zuvorderst von Deutschland verhindert. Deutschland unter Angela Merkel setzt damit den bisherigen Kurs fort, der die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Türkei auf keinen Fall gefährdet soll. Erdogan hat in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ab 2015 zudem ein Druckmittel aufgebaut und droht seither damit, hunderttausende syrische Geflüchtete nach Westeuropa zu schicken, falls Opposition zu seiner expansionistischen Politik entstünde. Die EU beugt sich diesem Druck seit Jahren.

Stopp dem Krieg! 

Der aktuelle Krieg ist eine Katastrophe. Und zwar in erster Linie für die unzähligen jungen Soldaten, die auf beiden Seiten ihr Leben lassen für einen Konflikt, bei dessen Entstehung sie noch gar nicht auf der Welt waren. Er ist aber auch eine Katastrophe für die Bevölkerung Arzachs, die in die Flucht gezwungen, getötet und verletzt wird. Eine Lösung für den Konflikt rund um die Provinz müsste stattdessen zwangsläufig durch Verhandlungen erzielt werden und dabei müsste zwangsläufig der Wille der ansässigen Bevölkerung respektiert werden.

Schlussendlich ist Arzach aktuell ein Spielball verschiedener regionaler und globaler imperialistischer Interessen. Dass für Machtbereiche und Einflusssphären so viele Menschen sterben, ist eine Katastrophe. Erdogan gehört endlich gestoppt und mit ihm die aserbaidschanische Kriegsmaschinerie. Linke Jugendliche aus Aserbaidschan haben es zu Beginn des Krieges im September 2020 auf den Punkt gebracht: „Unser Feind ist kein Armenier, unser Feind sind die Menschen an der Macht.

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