Die prekären Lebensumstände für abgewiesene Geflüchtete sind im Kanton Zürich längst eine unhaltbare Realität. Das zeigt sich während der Corona-Pandemie einmal mehr, indem die betroffenen Menschen einfach weiterhin in beengten Notunterkünften ohne Möglichkeit zur Einhaltung der Schutzmassnahmen sich selbst überlassen werden. Die betroffenen Geflüchteten reichten deshalb im Mai zusammen mit Verbänden eine Strafanzeige gegen die politischen Verantwortlichen rund um SP-Regierungsrat Mario Fehr ein. Spätestens als sich Anfang Oktober in der NUK Urdorf über die Hälfte der Bewohnenden mit dem Coronavirus infiziert hatten, zeigte sich, dass die Vorwürfe an Fehr & Co. mehr als gerechtfertigt waren. Trotzdem hat die Geschäftsleitung des Kantonsrats letzte Woche die Anklage gegen den Migrationsvorsteher und die weiteren Beschuldigten zurückgewiesen. Damit erhält die rassistische und menschenrechtswidrige Asylpolitik des Kantons Zürich einmal mehr volle politische Rückendeckung. Es ist nun mehr denn je an der Zeit, gemeinsam mit den Betroffenen stärkeren Widerstand gegen dieses unmenschliche Migrationsregime zu leisten. Am kommenden Samstag nimmt in Urdorf eine neue Gruppe, die sich aus Bewohnenden der Notunterkunft und solidarischen Aktivist*innen zusammensetzt, ihre Tätigkeit auf. Das erste Ziel: Der Luftschutzbunker in Urdorf als dauerhafte Notunterkunft für Geflüchtete muss sofort geschlossen werden!
von Elia Baldini (BFS Jugend Zürich & Klimastreik Zürich)
Was sich vor einigen Wochen in der Notunterkunft (NUK) Urdorf zugetragen hat, war eine Eskalation mit Ansage. Unter den Bewohnenden der Unterkunft für abgewiesene Geflüchtete kam es Anfang Oktober zu einem umfangreichen Corona-Ausbruch. Innert weniger Tage wurden im jahrzehntealten Luftschutzbunker, der vom Kanton Zürich als Massenschlag für mehrere Dutzend geflüchtete Menschen genutzt wird, insgesamt 16 Covid-19-Fälle registriert. Das entspricht fast der Hälfte der im Bunker lebenden Menschen. Den Behörden blieb daraufhin nichts anderes übrig, als den Bunker vorübergehend zu räumen und die gut 35 betroffenen Menschen in ein temporäres Ersatzquartier nach Zürich zu bringen.
Appelle verhallten wirkungslos
Zu dem Zeitpunkt hatten Bewohnende und solidarische Hilfsorganisationen die kantonalen Verantwortlichen bereits seit Monaten lautstark darauf hingewiesen, dass unter den engen Platzverhältnissen im Bunker an eine Einhaltung der Schutzmassnahmen nicht zu denken ist. Doch während die Politiker*innen in der Öffentlichkeit stets betonten, dass wir in der Pandemie alle im gleichen Boot sässen, zeigten weder das Migrations- noch das Gesundheitsamt eine nennenswerte Reaktion.
Bereits lange vor dem Corona-Ausbruch im Bunker reichten deshalb im letzten Mai die Vereine «Solidarité sans Frontières» und «Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz» sowie Bewohnende aus den verschiedenen Notunterkünften im Kanton Zürich eine Strafanzeige gegen die Verantwortlichen beim Kanton ein. Sie erhoben schon damals den voraussichtigen Vorwurf, dass die Behörden die Gesundheit der schutzbedürftigen Bewohner*innen der NUK auf grob fahrlässige Weise aufs Spiel setzten, indem sie die beengten und hygienisch desolaten Verhältnissen in den Notunterkünften während der gesamten ersten Pandemie-Welle aufrechthielten.
Untersuchung wird zur Farce
Im Zentrum der Vorwürfe stand dabei der zuständige Regierungsrat und Vorsteher des kantonalen Migrationsamtes, Mario Fehr. Der SP-Politiker, der sich mit seinem rassistischen und repressiven Umgang gegenüber abgewiesenen Geflüchteten längst einen Namen gemacht hatte (mehr dazu weiter unten), bezeichnete die Vorwürfe an ihn aber erwartungsgemäss prompt als Fake News. Wie in der Vergangenheit schon des Öfteren, beschönigte Fehr die Zustände in den Notunterkünften haltlos und versicherte sogar allen Ernstes, der Schutz der Bewohnenden sei gewährleistet.
Fünf Monate später müssen wir feststellen, dass nicht nur Mario Fehr die Fakten unter den Tisch kehren will. Vielmehr erhält der SP-Regierungsrat prominente Gesellschaft dabei, die Wahrheit zu seinen Gunsten auszuschmücken. Denn wie Anfang Woche bekannt wurde, sieht die Staatsanwaltschaft keinen Anlass für eine Schuld des SP-Regierungsrates und seiner Entourage von Kaderbeamt*innen im Migrationsamt. Grundlage dieser Einschätzung sind absolut unbrauchbare Abklärungen, die sich hauptsächlich auf eine Stellungnahme von Mario Fehr selbst stützen. Die Geschäftsleitung des Kantonsrats, die in diesem Fall die entscheidende Instanz ist, hat diese glasklar politisch motivierte Einschätzung nun völlig unkritisch übernommen und dementsprechend entschieden, gar nicht erst auf die Anklage einzugehen.
Gefährdung ist politisch gewollt
Für die Menschen in den Nothilfeunterkünften ist dieser Entscheid nicht nur eine schallende Ohrfeige. Er kommt schlichtweg einer moralischen Bankrotterklärung gleich. Denn dass Staatsanwaltschaft und Parlamentsleitung gar nicht erst auf die Vorwürfe eingetreten sind, obwohl die 70 Seiten starke Anklage mit einer juristisch fundierten Begründung aufwartet und der Vorwurf der mutwilligen Gefährdung durch den Corona-Ausbruch vor wenigen Wochen in der Realität bestätigt wurde, macht deutlich: Es ist offensichtlich politisch gewollt, dass die Isolation und Zermürbung von Menschen mit abgewiesenem Asylgesuch selbst dann Priorität hat, wenn das die körperliche Gesundheit der betroffenen Menschen direkt aufs Spiel setzt.
Dazu passt, dass während der Hochphase der ersten Pandemie-Welle die schikanierende Unterschriftenregel angepasst wurde. Statt zwei Mal täglich mussten die Menschen in den Notunterkünften nun nur noch einmal in der Woche ihre Anwesenheit mittels Unterschrift bestätigen. Aus dem einfachen Grund, weil es dem Kanton als Auftraggeber offensichtlich zu heikel war, die für die Aufsicht zuständigen Mitarbeitenden der privaten Sicherheitsfirma ORS jeden Tag dem Ansteckungsrisiko der beengten Unterkünfte auszusetzen. Wie gross das Risiko war, dass die Unterkünfte durch ihre beengten und mangelhaften hygienischen Zustände zu Übertragungs-Hotspots würden, war den Verantwortlichen also von Anfang an vollkommen bewusst.
Trotzdem haben die Verantwortlichen des kantonalen Migrationsamts dafür gesorgt, dass inzwischen wieder alle Bewohnenden der NUK Urdorf ihr räumlich besser ausgestattetes Zwischenquartier in Zürich verlassen und in den Bunker in Urdorf zurückkehren mussten. Damit lassen es die Behörden tatsächlich darauf ankommen, dass sich im Laufe des noch langen Winters womöglich auch noch die andere Hälfte der Bewohnenden mit dem Virus infiziert.
Nur die Spitze des Eisbergs
Die geschilderten Vorgänge zeigen auf, dass die Behörden des Kantons Zürich nicht nur mit-, sondern hauptverantwortlich für die desolaten Lebensbedingungen von abgewiesenen Geflüchteten in unserem Land sind. Die erschreckende Behandlung der Menschen in den Notunterkünften während der Corona-Pandemie ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die Kantone und der Bund haben in den letzten Jahren immer mehr Instrumente eingeführt, mit denen der Alltag der betroffenen Menschen weiter erschwert wird:
- Die Praxis der Eingrenzung, wo der Bewegungsradius Geflüchteter auf ein bestimmtes Gebiet eingegrenzt wird, um sie zur Rückreise in ihr gefährliches Herkunftsland zu nötigen.
- Die Reduktion der finanziellen Unterstützung auf die völlig ungenügende Nothilfe (praktisch im Widerspruch zu Art. 12 der Bundesverfassung erhalten Abgewiesene in Zürich per 2017 keine Sozialhilfe mehr, sondern lediglich 60 Fr, pro Woche für Essen, Hygieneartikel und Kleidung).
- Der Status des «illegalen Aufenthalts» gemäss Art. 115 AIG, durch den die Menschen selbst in ihrer Unterkunft jederzeit willkürlich verhaftet werden können. Abgewiesene Geflüchtete werden so immer wieder wegen des vermeintlich illegalen Aufenthaltes angeklagt, obwohl sie nicht mehr zurück können (Dauerdelikt), was immer zu Geldstrafen und auch zu jahrelangen Haftstrafen führen kann.
- Die Begrenzung der medizinischen Versorgung auf absolute Notfälle (als Bezieher*innen einer kollektiven Krankenversicherung werden komplexe Eingriffe, die Lebensqualität wiederherstellen nicht vorgenommen. Stattdessen wird gerademal das Nötigste zum Überleben gewährleistet).
- Die die starke Integration des Rechtsschutzes für Geflüchtete in staatliche Verfahrensprozesse seit der Neustrukturierung mit der Asylgesetzrevision 2019 garantiert nicht mehr die nötige Unabhängigkeit des Rechtsschutzes vom Staatssekretariat für Migration (SEM).
- Die Auslagerung der Unterkunftsbetreuung an profitorientierte Sicherheitsgirmen wie die ORS AG. Diese Unternehmen setzen aus Spargründen kein ausreichend qualifiziertes Personal ein, wodurch sich Vorfälle von Gewalt und Willkür vonseiten der Aufsichtspersonen in den Unterkünften häuften.
Gemeinsam für die Bunkerschliessung!
Die Liste der tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen, die den rund 7’000 geflüchteten Menschen mit negativem Asylentscheid in der Schweiz tagtäglich widerfahren, ist viel zu lang und einer solidarischen Gesellschaft nicht würdig. Es braucht die Zivilcourage von uns allen, damit sich daran etwas ändert. Die Unterstützung von Kämpfen, die von den Betroffenen selbst geführt werden, ist dabei eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit, um im Kampf gegen das repressive Migrationsregime und das dahinter liegende rassistische und nationalistische Gedankengut in die Offensive zu gehen. Der von Geflüchteten und mit ihnen solidarischen Menschen gemeinsam getragene Einsatz für die Schliessung des Bunkers Urdorf kann dafür ein lokaler Ansatzpunkt sein.