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Teuerstes Gesundheitswesen – am meisten Corona-Tote

Der Chefredakteur des Sonntagsblick machte im Editorial der Ausgabe von gestern, Sonntag, ein paar banale Feststellungen und stellte Fragen zum aktuellen Umgang der Schweiz mit der Corona-Pandemie, die die Gewerkschaften eigentlich schon längst hätten aufwerfen müssen. Die Schweiz zählt im November zu den Ländern weltweit mit den meisten Corona-Toten im Verhältnis zur Bevökerung. Trotzdem wird kaum über das Versagen der sehr beschränkten Schutzmassnahmen oder über die mehr als 1’000 Toten in den vergangenen zwei Wochen debattiert.

von Chris Zeller

Ein teures und ungerechtes Gesundheitssystem

Die Schweiz hat zusammen mit den USA das teuerste Gesundheitswesen im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft (BIP). Ausgerechnet die USA haben ihre Bevölkerung ebenfalls in die Katastrophe geführt. Beide Länder haben nicht nur teure, sondern auch ausgesprochen ungerechte Gesundheitssysteme. In den USA genießen viele Menschen noch immer nicht einen (angemessenen) Versicherungsschutz. Die Schweiz leistet sich ein Kopfprämiensystem und dutzende gegeneinander um lukrative Risiken konkurrierende Krankenkassen. In beiden Ländern hat sich eine individualistische und bisweilen sogar sozialdarwinistische Ideologie im Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung festgeschrieben.

Weshalb stellen sich die Gewerkschaften gegen das Wohl der Lohnabhängigen?

Eigentlich wirft der Sonntagsblick-Chefredakteur Gieri Cavelty in seinem kurzen Artikel ganz einfache Fragen auf: Warum wird so wenig über das aktuelle grosse Sterben gesprochen? Weshalb gibt es keinen politischen Vorstoss, der fragt, weshalb das Corona-Sterberisiko in der Schweiz fünfmal grösser ist als in Deutschland? Und weshalb sind andere Länder in der Lage, die Pandemie unter Kontrolle zu halten?

Ich füge da noch eine Frage dazu: Warum sind die Gewerkschaften, die doch eigentlich vorgeben für das Wohl der Lohnabängigen einzustehen, nicht in der Lage, genau diese einfachen Fragen des Sonntagsblick-Chefredakteurs auf die eigene politische Agenda und die des ganzen Landes zu bringen? Liegt es wohl daran, dass sie die Interessen der Unternehmen und Konzerne mittlerweile als ihre eigenen betrachten?

Vor vier Wochen sprach sich Daniel Lampart, der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, in einem Interview mit dem Radio SRF klar gegen weitere Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung aus. Die Unternehmen hätten ja schließlich bereits umfassende Schutzkonzepte veranlasst, jetzt müsse man schauen, ob diese wirken. Auch ein Mini-Lockdown lehnte er klar ab. «Eine solche radikale Massnahme wäre viel zu schädlich für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze». Weiter sagte Lampart: «Meine Überzeugung ist, dass die Schutzkonzepte eine grosse Wirkung haben – aber man muss schauen, dass sie überall eingehalten werden».

Weil sich die Gewerkschaften offensichtlich nicht in der Lage sehen, konsequent für die Gesundheit ihrer Mitglieder und zwar gegen die Unternehmensleitungen und gegen die Regierung (mit ihrem sozialdemokratischen Gesundheitsminister) einzustehen, unterordnen sie sich gleich dem unternehmerischen Dogma „Wettbewerbsfähigkeit geht vor“.

Die aktuelle Pandemiepolitik nimmt tausende Tote in Kauf

Die Schweizer Regierung betreibt eine Pandemiepolitik, die bewusst das Leben von vielen tausend Menschen aufs Spiel setzt. Aber weil sich der Neoliberalismus schon längst im Bewusstsein der Menschen tief verankert hat, gibt es keinen Aufschrei. Jacqueline Fehr, sozialdemokratische Regierungsrätin des Kantons Zürich, sprach sich Ende August gegen weitere Maßnahmen und sogar gegen eine Ausweitung der Maskenpflicht aus. Sie meinte, die politischen Behörden könnten in einer Pandemie ohnehin nicht viel machen. Eine solche Aussage kommt schlicht einem politischen und persönlichen Totalbankrott gleich.

Die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt, mit einem der teuersten Gesundheitswesen der Welt, ist nicht willens und nicht in der Lage die Bevölkerung mit relativ einfachen Maßnahmen gegen eine gefährliche Pandemie zu schützen. Der liberale Individualismus zerfrisst die banalsten moralischen Regungen. Die sogenannten „Corona-Leugner“ in Deutschland könnten in der Schweiz eigentlich ihr Wunschland erkennen. Und den dummen, sich selbst ausgesprochen kritisch wähnenden „Linken“ – vor allem in Deutschland und Österreich –, die bis heute an den Haaren herbeigezogene Vergleiche über die Sterblichkeit dieser Pandemie anstellen, um deren relative Harmlosigkeit zu „beweisen“, und die ebenfalls nur noch den autoritären Staat an die Wand malen, denen empfehle ich fortan die liberale und indivualistische Schweiz als deren Gesellschaftsmodell anzuerkennen.

Die Pandemie ist eine umfassende gesellschaftliche Herausforderung

Mehrere, durchaus unterschiedliche Länder in Asien und Neuseeland haben bewiesen, dass es möglich ist, die Pandemie zu besiegen und die Virusausbreitung auszumerzen.

Was es dazu vor allem braucht: ein politischer und gesellschaftlicher Wille. Dieser fehlt leider in ganz Europa. Gerade weil die Regierungen in Europa mit ihrer wirtschaftsfreundlichen Pandemiepolitik nun Schiffbruch erleiden, schreiten einige von ihnen früher oder später zu autoritären Maßnahmen. Vorreiter ist hier der französische Präsident Macron, der seiner gewalttätigen Polizei allerei Vollmachten ausstellt.

Die Pandemie ist eine umfassende gesellschaftliche Herausforderung, die nur international koordiniert auf eine soziale Weise angepackt werden kann. Warum stellen sich die Gewerkschaften und „linken“ Parteien dieser Herausforderung nicht? Warum muss ein Chefredakteur einer Boulevard-Sonntagszeitung einfache Fragen stellen, die schon längst in der gesellschaftliche Arena sein müssten?

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