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Schweiz: Die angenommene Masseneinwanderungs-Initiative der SVP

Am 9. Februar 2014 hat die stimmberechtigte Bevölkerung in der Schweiz überraschend eine von der SVP lancierte Initiative angenommen. Diese Initiative fordert, die Einwanderung aus den EU-Ländern zu begrenzen und somit die bis anhin geltende Personenfreizügigkeit mit den Staaten der EU aufzuheben. Die Konsequenzen dieses Entscheides sind sehr schwer abzuschätzen, zu unklar ist noch, wie die Unternehmen, die EU und die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten reagieren werden.

von BFS Jugend Zürich

Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen? Einmal abgesehen davon, dass die 50.3% Zustimmung in Wirklichkeit viel geringer wären, wenn die gesamte Wohnbevölkerung der Schweiz betrachtet würde, ist das Resultat dennoch beängstigend. Viel gehörte Erklärungsansätze dafür lassen sich in drei grobe Kategorien einteilen:
1. Die Schweizer sind im Grunde zu einem grossen Teil einfach fremdenfeindlich gesinnt und wollen keine Ausländer bei sich.
2. Die SVP hat es geschafft, ein Klima der Angst und der Horrorszenarien zu entwerfen, was viele Leute dazu getrieben haben dürfte, ja zu stimmen.
3. Die Medien haben ihre selbst zugeschriebene Rolle als quasi „neutrale“ Berichterstatter nicht wahrgenommen und gezielt so berichtet, dass die Initiative schlussendlich angenommen wurde.
Die Personenfreizügigkeit als heisses Eisen
Auch wenn alle diese drei Erklärungen wahrscheinlich zu einem Teil richtig sein dürften, wird oftmals ein wichtiger Punkt vergessen. Dieser zeigt sich eindrücklich, wenn der Kanton Tessin betrachtet wird. Im Kanton Tessin stimmten knapp 70% der Stimmbevölkerung dafür, im Vorfeld haben sogar die kantonalen Grünen die Ja-Parole beschlossen. Im Kanton Tessin gibt es über 60’000 Grenzpendler, also Italiener, die in der Schweiz arbeiten und abends wieder ins nahgelegene Norditalien zurückkehren. Das hat im Tessin zu einem erhöhten Druck auf die Löhne, zu Lohndumping und zu schwierigen Bedingungen für Schweizer ArbeiterInnen geführt. Die über Jahre verhandelte Arbeitspolitik zwischen Gewerkschaften und Kapitalisten wurde durch den plötzlich aufgekommenen Wettbewerb im Arbeitsmarkt über den Haufen geworfen. Der lohnabhängige Teil der Bevölkerung geriet je länger je mehr unter Anpassungsdruck und musste sich mit geringeren Löhnen zufrieden geben, wobei sich die Arbeitsumstände auch noch verschlechterten.
Diese kurze Analyse des Kantons Tessins kann nicht einfach in verkürzter Weise auf die ganze Schweiz übertragen werden. Denn interessanterweise haben genau jene Gebiete besonders stark für die Initiative votiert, die vom neu aufgekommenen Wettbewerb und dem Druck auf den Wohnungsmarkt durch einwandernde Personen unterdurchschnittlich betroffen sind. Aber interessant ist, dass die Personenfreizügigkeit ein Werkzeug für neoliberale Interessensvertretung sein kann, dass damit also soziale Sicherungssysteme und gewerkschaftliche Organisierung angegriffen werden kann, um die Löhne zu drücken und schlechtere Arbeitsbedingungen zuzulassen. In urbanen Gebieten, die bereits in eine globale Wirtschaft integriert sind und sich den neuen Leistungsparametern im internationalen Vergleich anpassen mussten, die bereits einen sehr hohen Ausländeranteil aufweisen und in denen gar kein regionaler Arbeitsmarkt im eigentlichen Sinne mehr existiert, da ist die Angst nicht mehr vorhanden und da wurde auch mehrheitlich Nein gestimmt. In Randregionen aber ist die Angst vor fremden Menschen nur die eine Komponente. Vielmehr sieht man die eigene regionale Wirtschaft, den Erhalt von Arbeitsplätzen und des eigenen Lebensstandards in Gefahr, wenn die expansiven Dynamiken des globalen Kapitalismus auch die eigenen Regionen ergreifen.
Erfolglose Kampagne der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände
Die parlamentarische Linke und die Gewerkschaften haben also das Problem, welches sie schon bei der Einführung der Personenfreizügigkeit hatten: Man ist zum einen für eine offene und multikulturelle Schweiz, in der es so wenige Hindernisse wie möglich geben soll, hier zu arbeiten und zu leben, erkennt aber gleichzeitig – mit reichlicher Verspätung – die Personenfreizügigkeit als Angriff auf die eigenen Erfolge im Kampf um Löhne und soziale Sicherungssysteme.
Dieses Dilemma äusserte sich dann auch in der ideenlosen Kampagne der Sozialdemokratie gegen die Masseneinwanderungsinitiative. Wie auch die Unternehmerseite warnte sie hauptsächlich vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Kündigung der bilateralen Verträge – ohne die real existierenden Probleme, die mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen verbunden sind, zu thematisieren.
Dass die Personenfreizügigkeit für die wirtschaftlichen Eliten nämlich von ungeheurer Wichtigkeit ist, zeigt sich dadurch, wie viel Geld der Unternehmerverband Economiesuisse im Wahlkampf in die Hand genommen hatte, um ein Ja zu verhindern. Es wird auch deutlich, wie schwierig es ist, als Linke ernstgenommen zu werden mit einer Forderung, die teilweise noch vehementer von den Kapitalisten vertreten wird. Und wie wenig die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU mit der Vorstellung vom Gleichsein aller Menschen, ohne künstliche Grenzen durch Nationen und Sprachen zu tun hat, zeigt sich an den sich dramatisch verschlechternden Arbeitsbedingungen und dem intensivierten Lohndumping in der Schweiz seit dem Inkrafttreften des Personenfreizügigkeitsabkommen im Jahr 2002.
Klasse statt Rasse!
Nichtsdestotrotz ist das Abstimmungsergebnis katastrophal. Es beflügelt die immer wieder am äussersten rechten Rand agierende SVP und zeichnet erneut das eigentlich überwunden geglaubte Bild des sturen, störrischen Bergvolkes, das so gar nicht zur offenen und urbanen Schweiz passen mag. Wiederum ist es dieser Partei gelungen, Ressentiments zu schüren und die Überlegenheit der Schweiz zu propagieren. Die wirtschaftlichen und kulturellen Folgen dieser Abstimmung lassen sich noch überhaupt nicht abschätzen. Die Unternehmen werden mit grosser Wahrscheinlichkeit auf dieses Resultat reagieren und Massnahmen ergreifen, um die Produktionsbedingungen weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Dann dürften genau diejenigen die Leidtragenden sein, die mit ihrem Ja zur Initiative ihre eigene Situation verbessern wollten. Kurz nach der Abstimmung wandte sich dann auch der FDP-Politiker Ruedi Noser an die Presse und forderte, dass mit diesem Abstimmungsresultat die Einführung von Mindestlöhnen, über die im kommenden Mai abgestimmt wird, nicht mehr nötig seien, da die Löhne anscheinend durch die Kontingentierung der Zuwanderung genügend geschützt würden.
Für die ausserparlamentarische Linke dürfte mit dem Abstimmungsergebnis wieder einmal sichtbar geworden sein, wie wichtig die Fokussierung auf den lohnabhängigen Teil der Bevölkerung doch ist. Nur durch eine konsequente Politik im Sinne dieser Klasse können die Ängste vor dem Fremden, vor dem Anderen überwunden werden. Denn schlussendlich kämpft der/die norditalienische ArbeiterIn, der jeden Morgen in die Schweiz pendelt mit denselben Problemen wie die in der Schweiz wohnhaften Lohnabhängigen. Nur schafft es die SVP genau da eine Trennlinie zu ziehen und vorzugeben, die Probleme, die mit den neoliberalen Angriffen auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen verbunden sind, durch Abschottung und Fremdenfeindlichkeit zu lösen.
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Berichte zu den Spontandemos nach der Abstimmung in Zürich…
Am Sonntagabend, 9. Februar 2014, versammelten sich um 19:30Uhr einige hundert Menschen auf dem Helvetiaplatz um gegen das Abstimmungsergebnis der “Masseneinwanderungsinitiative“ zu demonstrieren. Kurz vor 20:00Uhr liefen die Demonstrierenden, Parolen rufend, die Langstrasse entlang. Wir bogen vor der Unterführung in die Lagerstrasse ein. Viele Schaulustige blieben auf dem Trottoir stehen und beobachteten das Ganze zum Teil auch etwas zynisch. Als der Umzug versuchte über die Gessnerbrücke in die Innenstadt zu kommen, wurden wir von einigen Polizisten mit einem Wasserwerfer daran gehindert. Weiter ging es dann in Richtung Sihlbrücke, jedoch wurde auch diese von der Polizei gesperrt, worauf der Umzug auf der Badenerstrasse und später Langstrasse zurück zum Helvetiaplatz weiter ging.
Während des Umzuges wurde immer wieder Feuerwerk gezündet und diverse Reden vorgetragen. Einige nutzten die Gelegenheit, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, und fanden Sicherheit in der Menschenmenge. Unter den Steinwürfen litten unter anderem die Tamedia, eine Coop Pronto Filiale und die ZKB. Eine etwas weniger aggressive Aktion war dann wohl der Farbanschlag gegen das Bezirksgericht. Trotz dieser wenigen Wütenden war es grundsätzlich eine friedliche Demonstration, die dann auf dem Helvetiaplatz mit Dank und Musik verabschiedet wurde. Einige Leute tanzten, während andere in Gespräche verwickelt den Tag und die Demo ausklingen liessen.
… und in Basel
Wie in Zürich, Bern, Luzern und Genf gab es auch in Basel eine Demonstration gegen die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar. Die Leute versammelten sich um 19:00 Uhr auf dem Claraplatz. Genau wie in Zürich wurde über SMS und Facebook mobilisiert. Die Mitteilung verbreitete sich in kürzester Zeit weit über das aktive resp. organisierte linke Spektrum hinaus. Neben der Demo rief die Juso und SP zu einer stillen Platzkundgebung auf dem Marktplatz auf. Die Demo überquerte die Mittlere Brücke und marschierte durch die Grossbasler Innenstadt. An der Spitze wurden wie gewohnt Pyros und Böller gezündet, Parolen gerufen und es gab einige Sprühereien auf dem Weg. Die grosse Masse lief eher ruhig mit. Auf dem Weg kamen wir zweimal bei den sich selbst bei Kerzenschein beerdigenden Sozialdemokraten vorbei. Der Umzug schwoll auf dem Weg auf ca. 500-700 Demonstrant_innen an. Danach bewegte sich die Masse auf Grossbasler Seite bis zur Johanniterbrücke, überquerte diese und löste sich am Claraplatz wieder auf. Auf dem Weg erfuhren wir immer wieder Solidarität von Anwohner_innen und Verkehrsteilnehmer_innen.
Die Erfolge der SVP mit fremdenfeindlichen Initiativen scheinen zur Normalität zu werden. Trotzdem scheint dies noch immer viele Leute zu empören. Neben den linken Gruppen waren auch viele unbekannte Gesichter zu sehen. Die Demo vom 9. Februar war spontan und unvorbereitet. Die Demonstrationen in den grösseren Städten war ein Zeichen, dass viele Menschen, vor allem in den urbanen Regionen und Westschweiz, mit der fremdenfeindlichen und rassistischen Hegemonie der suburbanen und ländlichen Regionen der Deutschschweiz und des Tessins nicht einverstanden sind. Es ist jedoch zu einfach sich selbst als linke Basler_in auf die Schulter zu klopfen und zu Loben, wie weltoffen die Stadt doch sei. Immerhin 39 % der Stimmenden haben ein Ja eingelegt, was ziemlich bedenklich ist. Die Masseneinwanderungsinitiative wird nicht die letzte fremdenfeindliche Vorlage sein, welche vor das Volk kommt und wohl auch nicht die letzte, die Angenommen wird.
Der Widerstand muss weitergehen!
Mit den Demos am Sonntagabend konnten sich viele ihrer Empörung Luft verschaffen und waren wohl auch erleichtert zu sehen, dass sie nicht die Einzigen sind, die so empfinden. Doch das genügt nicht. Wenn sich dieser Trend umkehren soll, muss der Widerstand weiter sichtbar bleiben und wenn möglich intensiviert werden. Die Empörten vom Sonntag, 9. Februar sollen sich nicht damit zufrieden geben, korrekt abgestimmt zu haben und alle zwei Jahre durch die Stadt zu ziehen. Es muss versucht werden, über das organisierte, linke Spektrum hinaus weiter Aktionen und Demonstrationen zu machen, welche aufzeigen, dass die Probleme, welche die Ja-Sager_innen lösen wollten, nicht durch diese rassistische und isolationistische Politik verschwinden, sondern sogar verstärkt werden. Eine erste Möglichkeit dazu bietet die zweite Demo in Zürich gegen das fremdenfeindliche Abstimmungsresultat am Samstag, 15. März 2014.
(Die Bilder sind von der Demo am 9. Februar 2014 in Zürich.)

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1 Kommentar

  1. Nico

    „Denn schlussendlich kämpft der norditalienische Arbeiter…“
    Und was ist mit der norditalienischen Arbeiterin und allem dazwischen?
    Ansonsten finde ich den Text echt gut!

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