Die 20-jährige amerikanische Besatzung Afghanistans war für viele Menschen bereits zur schnöden Alltäglichkeit geworden. Der abrupte Abzug der Vereinigten Staaten und seiner Bündnispartner hat der Weltgemeinschaft wieder ins Gedächtnis gerufen, wer die Taliban sind, welche Modernitäts- und Menschenfeindlichkeit sie antreibt. Das ungewisse, oder vielleicht allzu gewisse Schicksal vieler Afghan:innen, die sich die Chance auf eine demokratischere Zukunft ausgemalt hatten, erschüttert die Welt. Der militärische Abzug offenbarte aber auch, was für ein Debakel die militärische Mission der Vereinigten Staaten schlussendlich gewesen war. Der französische Wissenschaftler Adam Baczko blickt im Interview zurück auf das absolute Versagen der Vereinigten Staaten 20 Jahre nach Beginn ihrer Intervention und auf die Stärke, welche die Taliban-Bewegung bis heute behielt. (Red.)
Interview mit Adam Baczko*; aus alencontre.org
Die Taliban schienen unaufhaltsam auf Kabul vorzurücken. Warum konnte die Situation nicht gewendet werden?
Dieses Szenario war nun mal leider von dem Moment an, da die Amerikaner:innen ihren Rückzug ankündigten, vorhersehbar- und auch vorhergesehen worden. Die Regierung Biden war da ganz eindeutig: sie wird nicht intervenieren, um die Regierung zu retten. Das ist schlicht und ergreifend eine Desertation. Der dysfunktionale und korrupte afghanische Regierungs- und Militärapparat ist nicht in der Lage, dem Vormarsch der Aufständischen zu widerstehen. In Afghanistan ist nunmehr weder der Staat noch sonst jemand in der Lage, eine Alternative zu den Taliban zu bieten. […]
Die Armee der afghanischen Regierung ist seit 2014 im Verfall begriffen, mit einer jährlichen Fluktuationsrate (der Verlust von Soldaten im Verhältnis zur Gesamtstärke) von einem Drittel. Das ist gewaltig und kann zu den heftigsten Konflikten führen! Nur ihre Eliteeinheiten, die von den Amerikaner:innen ausgebildeten Spezialeinheiten, sind effizient, aber sie können nicht überall gleichzeitig sein und sie sind zudem durch die Kämpfe dezimiert worden. In den letzten Jahren hatte man den Eindruck erhalten, die Kämpfe hätten abgenommen. Das stimmt nicht. Der Krieg ging tatsächlich mit grosser Intensität weiter. Es war nur niemand mehr vor Ort, um darüber zu berichten.
Warum waren die afghanischen Stammesführer nicht in der Lage, den Taliban die Stirn zu bieten?
Die regionalen Machthaber der 2000er Jahre verdanken ihre Legitimität ihrer Ernennung durch die afghanische Regierung oder die Vertreter:innen des Westens; sie sind nicht mehr die Kriegsherren der 1990er Jahre, die in ihren Lehensgebieten eine Basis in der lokalen Bevölkerung hatten. Zudem hatte ihre Milizstrategie der 2010er Jahre katastrophale Auswirkungen: Im Gegensatz zu den besagten klientelistischen Netzwerken und gewalttätigen Milizen mit missbräuchlichen Praktiken sind die Taliban zum Sinnbild der Ordnung geworden. Paradoxerweise ist es ihnen gelungen, die «moralische» Aura wiederzuerlangen, die sie erfolgreich gemacht hat, als sie an die Macht kamen.
Und dennoch waren die Menschen der Herrschaft der Taliban um die Wende zum Jahr 2000 leid geworden. Das Islamische Emirat konnte viele Forderungen der Bevölkerung nicht erfüllen. Und es entstand beispielsweise ein echter Wunsch nach Wahlen. Nach dem Sturz des Regimes der Taliban standen die Wähler:innen trotz der Attentate stundenlang Schlange, um zu wählen! Doch die zweite Amtszeit von Präsident Karzai und die beiden Amtszeiten von Ghani waren das Ergebnis von manipulierten Wahlen. Die Vertreter:innen des Westens haben ihr eigenes Versprechen der Demokratie nicht ernst genommen.
Sind die Taliban denn heute noch beliebt, zumindest in ländlichen Gebieten?
Nein, nicht im wahltechnischen Sinn. Wenn heute in Afghanistan Wahlen abgehalten würden, würden die Taliban wahrscheinlich nicht einmal ein Viertel der Stimmen erhalten. Aber sie treffen eine gewisse gesellschaftliche Erwartung in ländlichen Regionen. In den von ihnen kontrollierten Gebieten gewährleisten sie die Sicherheit. Sie helfen bei der Lösung von Landstreitigkeiten, die zahlreich sind in einem Land, das so viele Kriege und Vertreibungen erlebt hat. Ihre Institutionen gelten im Gegensatz zu den staatlichen Institutionen als unkorrumpiert und relativ effizient. Das ist nicht geringzuschätzen.
Haben sich die Taliban verändert? Sind diejenigen, die jetzt an die Macht gekommen sind, denn noch dieselben wie 1996?
Die Anführer stammen aus der ersten Generation. Die Basis der Kämpfer wurde tatsächlich erneuert und verjüngt, aber die Führung ist die gleiche geblieben und besteht nunmehr aus vielen alten Gesichtern. Die Bewegung ist sehr gefestigt, sie bildet ihre Kader weiterhin in den Madrasas [Schule für Islamwissenschaften; Anm. d. Red.] an der afghanisch-pakistanischen Grenze aus und stützt sich nach wie vor auf eine starre, sehr bürokratische klerikale Struktur. Die Taliban lieben Formulare, Briefköpfe, Logos, Unterschriften… Das künftige Islamische Emirat von Afghanistan 2021 wird, wenn es denn zustandekommt, viel mit jenem von 1996 gemeinsam haben.
Hankerum haben die Taliban in zwei Bereichen Erfahrungen gewonnen. Erstens, im wirtschaftlichen Bereich. Dies ist ein Thema, das sie jetzt als zentral ansehen, während sie sich vor zwanzig Jahren noch überhaupt nicht dafür interessiert hatten, sondern alles geschehen liessen, ohne sich wirklich darum zu kümmern. Ausserdem machten sie Fortschritte an der diplomatischen Front. Ihr Verständnis der internationalen Politik hat sich verändert. Damals waren diese religiösen Menschen ländlicher Herkunft nicht in der Lage, die geopolitischen Zusammenhänge zu verstehen. Mittlerweile sind sie zu gewandten Verhandlungsführern geworden, wie die Gespräche in Doha mit den Amerikanern gezeigt haben.
Haben sie Alliierte im Ausland?
Sie haben einen Sponsor: Pakistan, welches die Lage so einschätzt, als habe sie den Krieg gegen die Vereinigten Staaten gewonnen. Aber Verbündete im eigentlichen Sinne, nein. Nachbarländer wie der Iran und China können aus pragmatischen Gründen der Grenzsicherung Partner sein, aber vorläufig nicht.
Was haben die Amerikaner:innen nach 20 Jahren Krieg erreicht?
Nichts. Ihr Rückzug aus Afghanistan erfolgte ohne jegliche Bedingungen. Nicht einmal der «decent interval» [Hinauszögern des Kollapses von Südvietnam 1975 durch die Nixon-Regierung bis nach der Präsidentschaftswahl, Anm. d. Red.], wie Kissinger es nach Vietnam formulierte, wurde gewährt. Washington hat eine Hauptforderung: die Ausreise von Al-Qaida-Kämpfern aus Afghanistan. Aber sie sind immer noch da. Die Taliban führen zwar einen Kampf auf Leben und Tod gegen den Islamischen Staat, aber sie beherbergen weiterhin Zellen der Al-Qaida. Und diese sind sicherlich zahlreicher als noch vor dem 11. September 2001.
Diese Niederlage hat sich in den Verlust des amerikanischen Willens, den Nahen Osten global umzustrukturieren, eingraviert. Es ist das Ende eines 30 Jahre langen Kapitels, das mit dem Golfkrieg 1991 begann. Washingtons wiederholte Fehler, 2003 im Irak und dann in Syrien, endeten mit dem Desaster in Afghanistan. Der unter George Bush eingeleitete «Krieg gegen den Terror» wird mit anderen Mitteln (Drohnen, Spezialeinheiten), aber nicht mehr in Form einer massiven Intervention weiterverfolgt.
Seit dem damaligen Sturz der Taliban ist eine Generation vergangen. Kann Afghanistan zurückfallen?
Nein, das Land, die Gesellschaft hat sich tiefgreifend verändert. Allein Kabul ist von 600’000 auf fünf Millionen Einwohner:innen angewachsen. Afghanistan ist ein urbaneres Land geworden. Die Taliban werden dies nicht zurückdrehen können. Aber nur, dass wir uns da mal nicht täuschen: Für Hunderttausende von gebildeten, informierten und berufstätigen oder einfach nur einer städtischen Kultur angehörigen afghanischen Frauen wird dies ein schrecklicher Rückschritt sein. Sie haben unter dem Taliban-Regime keine Zukunft. Wie alle Afghan:innen, die mit der Armee, Botschaften, NGOs oder ausländischen Institutionen zusammengearbeitet haben. Das Land wird einen neuen Exodus kennenlernen. Es ist zum grossen Anteil unsere Verantwortung als westliche Personen, daher ist es nur logisch, dass wir diese Vertriebenen auch aufnehmen.
*Adam Baczko ist Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris. Das Interview wurde kurz vor dem Fall von Kabul am 13. August 2021 veröffentlicht. Übersetzung durch die Redaktion.