42 Jahre nach der sandinistischen Revolution hat sich in Nicaragua vieles ins Gegenteil verkehrt. Was bleibt übrig? Ein Land in Armut, eine Grossteil der Nicaraguaner:innen, die in den 1980er Jahren und darüber hinaus für ihre Befreiung vom Joch des Imperialismus kämpften, ein diktatorisches Ehepaar und eine kleine Flamme des Widerstands in Form einer Generation, die unter dem heutigen Regime aufwuchs und 2018 gegen diese beklemmenden Verhältnisse auf die Strasse ging. Vorliegend ist der erste Teil eines Reiseberichts aus dem Juli 2021. Teil 2 und 3 folgen im Verlauf der Woche.
von Hendrick Bollinger (BFS Zürich)
Sapo ist das spanische Wort für Kröte. Schlägt man die Bezeichnung des Tieres im Wörterbuch nach, gelangt man ebenfalls zu folgenden Übersetzungen ins Deutsche: gerissene Person, Polizist, Spitzel, Verräter oder Denunziant. Gerade weil sapo diese Nebenbedeutungen anhaften, wird es in Nicaragua verwendet, um die Anhänger:innen des früheren Guerilla-Kommandanten und heutigen Präsidenten Nicaraguas, Daniel Ortega, zu bezeichnen. Sie werden ebenfalls Danielistas oder Orteguistas genannt. Daniel ist die unangefochtene Führerfigur des Frente Sandinista (FSLN[1]), also der Sandinistischen Bewegung[2], welche 1979 die Diktatur von Somoza stürzte und eine ähnliche Ausstrahlung hatte wie 20 Jahre zuvor die kubanische Revolution. Doch diese hoffnungsvolle Zeit des Aufbruchs, in der eine der grausamsten Militärdiktaturen Lateinamerikas besiegt, ein ganzes Land alphabetisiert und eine Bodenreform durchgeführt wurde, ist lange her. 1990 wurden die Sandinistas abgewählt. Es folgten 16 Jahre neoliberale Regierungen. Seit 2007 sind Daniel und der Frente wieder an der Macht. Seine Anhänger:innen weiterhin bloss als Sandinistas zu bezeichnen – was sie selbst freilich tun –, ist jedoch nicht mehr angemessen, wenn man erkennt, dass die Parteiführung des FSLN rund um Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo die Ideale der Revolution längst verraten haben. Das Ehepaar Ortega-Murillo steht heute an der Spitze eines selbstgefälligen Regimes, welches seit 2007 immer autoritärer wurde. Was aus der Revolution der 1980er Jahre noch übrig bleibt, ist hauptsächlich die antiimperialistische Rhetorik. Deshalb wird in diesem Text von Danielistas auf der einen und Dissident:innen, also Ortega-kritischen Sandinistas, auf der anderen Seite gesprochen.
2018 kam es zu einem mehrmonatigen Volksaufstand, welcher das Regime Ortega-Murillo ernsthaft ins Wanken brachte. Auf zunächst moderate Proteste gegen Rentenkürzungen reagierte die Regierung mit massiver Repression. Studierende besetzten ihre Fakultäten und die Polizei wurde immer brutaler und in ihren Gewaltorgien von FSLN-Schlägertrupps unterstützt. Landesweit wurden als Protestform dutzende Strassensperren (im nicaraguanischen Spanisch tranques genannt) errichtet. Zwischenzeitlich war es unklar, ob sich Ortega an der Macht halten könnte. Heute sitzt er wieder fest im Sattel. 2018 gab es je nach Quelle zwischen 300 und 400 Todesopfer. Die allermeisten wurden durch die Polizei und militante Anhänger:innen der Regierung umgebracht. Die Unterdrückung des Aufstands von 2018 war das Gewalttätigste, was sich Ortega seit seiner Wiederwahl 2006 geleistet hat. Viele sprachen davon, Nicaragua sei 2018 am Rande eines Bürgerkriegs gewesen. Doch die Opposition hatte niemals den bewaffneten Kampf in Erwägung gezogen, sondern immer auf einen verfassungskonformen Regierungswechsel gesetzt. Linke Oppositionelle, das heisst dissidente Sandinistas, werden seither systematisch mundtot gemacht. Der Unmut grosser Teile der Bevölkerung ist derzeit zwar zum Schweigen gebracht worden. Die Wut kann sich aber jederzeit erneut entladen.
Dieser Reisebericht stellt dar, wie ich Nicaragua im Sommer 2021 wahrgenommen habe. Ich befasse mich seit rund zehn Jahren mit der Politik des Landes und dem Sandinismus. Vor dem Aufstand von 2018 war ich schon mehrfach im Land gewesen. Es mag sein, dass der Bericht vieles wiederholt, was andere Texte zur Kritik an Autoritarismus, Dogmatismus, Stalinismus und Campismus[3] schon geleistet haben. Er soll als Ergänzung zu anderen Texten, welche in der Antikap und auf sozialismus.ch bereits veröffentlicht wurden, gesehen werden. Insbesondere der Artikel Das Versagen der «progressiven» Regierungen bietet eine Analyse der Entwicklung seit der Jahrtausendwende. Für weitere Informationen zum Aufstand von 2018 und seinem Hintergrund wird der zweiteilige Artikel Aufstand gegen Ortega empfohlen.
Der vorliegende Text bietet weniger eine umfassende Analyse dessen, was aus dem Sandinismus geworden ist. Ich erhoffe mir jedoch durch den Reisebericht einen Beitrag dazu zu leisten, anhand der von mir erlebten Situationen beispielhaft aufzuzeigen, in welche Tragödie sich das einst so hoffnungsvolle politische Projekt des Sandinismus entwickelt hat.
19. Juli in Managua: 42 Jahre nach der Revolution
Jedes Jahr wird der triunfo gefeiert, der Tag an dem die Guerillatruppen des Frente Sandinista 1979 siegreich in der Hauptstadt eingezogen sind. Zwei Tage zuvor musste der Militärdiktator Somoza nach Miami flüchten. 2021 treffe ich tausende feiernde Danielistas und vor allem extrem viel Polizei an. Die Massenaufläufe sollen früher viel grösser gewesen sein. Im Juli 2018, als der Aufstand gerade erst vorbei war, wurde Daniel an seiner Feier fast alleine stehen gelassen. Das Polizeiaufgebot, welches ich antreffe, erstreckt sich über die 1.5 Kilometer lange Avenida Bolívar. Am einen Ende ist die Rotonda Hugo Chávez, ein grosser Verkehrskreisel. Am anderen Ende befinden sich die Seepromenade und kurz dahinter die Plaza de la Revolución, wo Ortega und Murillo am Abend ihre üblichen Reden halten werden. Alle 10 bis 20 Meter steht mindestens ein:e Polizist:in. Viele davon sind mit Kalaschnikows oder Schrotflinten bewaffnet. Schusswaffen sind im Strassenbild Zentralamerikas viel üblicher als in Europa. Doch ein derart grosses Polizeiaufgebot habe ich in Nicaragua noch nie gesehen. Die meisten Polizist:innen haben eine blaue Standarduniform. Es sind aber auch viele schwarz uniformierte Antimotines – die Bereitschaftspolizei zur Aufstandsbekämpfung – vor Ort.
Der FSLN ist durch diverse fahnenschwenkende Toyota Hilux Pick-Up Trucks[4] und Ordner:innen, welche die Polizei unterstützen, präsent. Zum Beispiel steht rund um die Plaza de la Revolución ein Cordon von einheitlich mit weissen Shirts und Baseballmützen gekleideten Parteimitgliedern. Sozusagen das Fussvolk im Sicherheitsaufgebot. Parteiintern gilt es vermutlich als Privileg, den Präsidenten schützen zu dürfen. In einem anderen Kontext ist ein parteieigener, linker Ordnungsdienst ja durchaus sinnvoll. Im Gesamtbild des FSLN von 2021 trägt es zum Bild ihrer Sektenhaftigkeit bei. Letztere liess sich in der Vergangenheit zum Beispiel daran erkennen, dass sich die Zuschauer:innen des präsidialen Festakts auf Geheiss von Rosario Murillo in Form eines Pentagramms aufstellen mussten.
Weiter sind organisierte Verbände der Juventud Sandinista (JS, Sandinistische Jugend; Jugendorganisation der Partei) präsent, die sich während meinem Aufenthalt Richtung Plaza de la Revolución bewegen. Dort dürfen sie als handverlesene Gäste der offiziellen Feier samt Hauptredner Daniel Ortega beiwohnen.
Ansonsten sind die Grenzen zwischen einer unorganisierten Teilnahme der Danielistas, zum Teil auch mit Toyota-Hilux, kollektiv angereisten FSLN-Quartiergruppen und dem aufgebotenen Parteidispositiv fliessend und für aussenstehende kaum auseinanderzuhalten. Sichtbar wird die organisierte parastaatliche Parteistruktur dahinter beispielsweise, wenn sich jemand mit Funkgerät aus einem Hilux lehnt und den JS-Mitgliedern Anweisungen erteilt, wo sie sich einordnen sollen.

Wegen Covid war der 19. Juli 2021 seit langem die grösste Veranstaltung im Land. Die Leute haben auf der Avenida und auf der riesigen nach dem ehemaligen Papst benannten Plaza de la Fe Juan Pablo II Abstand eingehalten. Jede Demo in der Schweiz, die ich seit Beginn der Pandemie besucht habe, war dichter gedrängt. Generell fällt mir auf der ganzen Reise auf, dass die Nicas, wie sich die Nicaraguaner:innen umgangssprachlich nennen, die Maskenpflicht ernster nehmen, als es in der Schweiz der Fall ist.
Eine Sache sollte man jedoch nicht vergessen, wenn man über die Pandemiepolitik dieser Regierung spricht. Bis Mitte 2020 behauptete Ortega ernsthaft, Masken seien nur was für die Bourgeoisie. Deshalb liess er Leute auf der Strasse, welche Masken trugen, und sogar Krankenhauspersonal verfolgen. Unterdessen ist er eingeknickt und in Nicaragua sind Masken gang und gäbe. Nachdem an Ostern 2020, als das Virus Zentralamerika bereits erreicht hatte, weiterhin die üblichen Prozessionen mit Menschenmassen stattfanden, gibt sich die Regierung unterdessen zumindest verbal als Covid-sensibilisiert. Es ist in einem Land wie Nicaragua schwierig zu sagen, welche Schutzmassnahmen aufgrund der Infrastruktur überhaupt umsetzbar wären. Dazu kommt, dass die Covid 19-Pandemie im globalen Süden lediglich eine unter vielen Bedrohungen darstellt. Natürlich ist das Virus deshalb nicht weniger gefährlich. Ganz im Gegenteil, denn es sind weniger Beatmungsgeräte als im globalen Norden vorhanden.
Sehr fragwürdig ist, weshalb die drei Einkaufszentren Managuas und alle grossen Volksmärkte seit Pandemiebeginn durchgehend geöffnet waren. Von den Einkaufszentren dürfte höchstens Plaza Inter, das Günstigste, Relevanz haben, da die anderen aufgrund der Preise weitgehend leer sind. Es ist ein Rätsel, weshalb die Regierung die Verteilung mit Grundnahrungsmitteln nicht anders organisiert. Viele Nicas kaufen trotz ihrer Angst vor dem Virus auf den Märkten ein, da es kaum Alternativen gibt. In diesem Punkt gleicht Nicaraguas Pandemiepolitik jener in Europa. Beide Orte sind durch und durch auf die Sicherung der Profite ausgerichtet.
Das Regime behauptet, in den Nachbarstaaten gäbe es viel mehr Covid-Infektionen. Nicaraguas offizielle Zahlen tendieren gegen Null, da sie kaum gemessen werden. Das liegt sicherlich auch an der Strukturschwäche, für welche diese Regierung wenig kann. Aber es liegt auch an ihrem Unwillen. Verstorbene werden nicht als Covid-Tote deklariert und Murillo behauptete ernsthaft, Nicaragua sei Dank Gottes Hilfe weitgehend verschont geblieben. Ein ganzes Land muss die Konsequenzen solcher Hirngespinste aushalten.
Vor Beginn des offiziellen Abendprogramms am 19. Juli begebe ich mich zurück in meine Unterkunft, um mir Ortegas Rede im Fernsehen anzusehen. Zu Beginn der Rede hätte ich beinahe Mitleid mit ihm bekommen, würde es sich nicht um einen Autokraten handeln. Denn er wirkt sehr altersgeschwächt. Die Annahme, dass Ortega altersbedingt alles andere als klar im Kopf und seine Frau und Vizepräsidentin der eigentliche Kopf der Regierung ist, ist weit verbreitet. Für einige Allgemeinplätze von Daniel aus der Sparte Antiimperialismus und Lobpreisungen der eigenen Sozialprogramme reicht es jedoch. Am Ende der Rede baut Ortega doch noch etwas Pathos auf, jedoch auf bedrohliche Weise. Er schliesst seine Rede mit dem Satz «El pueblo armado, jamas será aplastado» («Das bewaffnete Volk wird nicht erdrückt werden»). Das stammt zwar nicht von ihm, sondern ist eine Adaption vom chilenischen «El Pueblo unido jamas será vencido» («Das vereinte Volk wird nicht besiegt werden») und wird ansonsten von sozialen Bewegungen verwendet. Dass ein totalitärer Herrscher, der erst vor drei Jahren noch einen Aufstand blutig niederschlagen liess, sowas verkündet, ist eine Kriegserklärung an die Opposition.
Der 2. Teil des Reiseberichts stellt zuerst die scharfe Kritik an Ortega-Murillo von Seiten der sandinistischen Dissidenz dar, und versucht anschliessend einen Blick auf die verbleibende danielistische FSLN-Basis zu geben. Der 3. Teil beschreibt, warum die Regierung Ortega ein Regime der kapitalistischen Modernisierung ist.
Titelbild: Präsidialer Festakt am 19. Juli auf der Plaza de la Revolución.
[1] Frente Sandinista de Liberación Nacional (Sandinistische Front für die Nationale Befreiung). Die Guerillaorganisation wurde 1961 gegründet, konnte durch eine Kombination aus guevaristischer Guerillastrategie, einem Volksaufstand in den Städten und geschickter Diplomatie 1979 den Diktator Somoza stürzen. Nachdem der FSLN an der Macht war, wurde er mehr und mehr von Guerilla zur Partei.
[2] Benannt nach Augusto César Sandino, welcher in den 1920/30er Jahren den Widerstand gegen die US-Besatzung in Nicaragua anführte.
[3] Campismus bedeutet Lagerdenken und ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als sowjetuniontreue Kommunist:innen weltweit Regime und Bewegungen unabhängig von deren Ideologie unterstützt haben, solange sich diese nur gegen den US-Imperialismus zur Wehr gesetzt haben.
[4] Diese Pick-Up Trucks spielen eine wichtige Rolle. Denn für die allermeisten Nicaraguaner:innen wären sie unerschwinglich. Als treuer Parteisoldat kriegt man sie vom FSLN. Dadurch wird die Basis mobil gemacht.
Pingback:Nicaragua: Der tiefe Fall einer Revolution (Teil 2)
Pingback:Nicaragua: Der tiefe Fall einer Revolution (Teil 3)
Pingback:Nicaragua: Für die Freilassung von Dora María Téllez