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Nicaragua: Der tiefe Fall einer Revolution (Teil 2)

42 Jahre nach der sandinistischen Revolution hat sich in Nicaragua vieles ins Gegenteil verkehrt. Was bleibt übrig? Ein Land in Armut, eine Grossteil der Nicaraguaner:innen, die in den 1980er Jahren und darüber hinaus für ihre Befreiung vom Joch des Imperialismus kämpften, ein diktatorisches Ehepaar und eine kleine Flamme des Widerstands in Form einer Generation, die unter dem heutigen Regime aufwuchs und 2018 gegen diese beklemmenden Verhältnisse auf die Strasse ging. Teil 2 eines Reiseberichts aus dem Juli 2021. Teil 1 erschien bereits am 1. November. Teil 3 folgt im Verlauf der Woche.

von Hendrick Bollinger (BFS Zürich)

Dissidente Sandinistas: Im Exil, im Knast oder ohne grösseren Einfluss

Einige Zeit nach dem 19. Juli treffe ich einen Mann der früher sandinistisches Kader war, wozu ihn ein internationales Studium in der Zeit vor der Revolution qualifizierte. Nach dem Sieg über den Militärdiktator kam er zurück nach Nicaragua, um beim Aufbau seines Landes mitzuwirken. Er hat in den 1980ern in verschiedenen Ministerien gearbeitet und war als Offizier im Contra-Krieg[1] an der Front. Er ist bis heute FSLN-Mitglied, da er sich weigert seinen Parteiausweis abzugeben. Er kritisiert Ortega-Murillo jedoch aufs Schärfste.

Mein Gesprächspartner ist der Meinung, dass diese Regierung nicht nur autokratisch sei, sondern durchaus die Bezeichnung Diktatur verdiene. Als Begründung nennt er Folgendes:

  • Undemokratisches Parteiregime: 1993 hat Ortega den Parteikongress abgeschafft. Seither existiere der FSLN eigentlich nicht mehr als Partei, sondern sei bloss noch eine Hülse und diene vor allem der Machtsicherung Ortegas. Nach 2007 wurde das Wahlgesetz dermassen ausgehöhlt, dass es für den FSLN in Kombination mit seiner allumfassenden Herrschaft fast unmöglich wurde, Wahlen zu verlieren. Auch der oberste Gerichtshof wird vom Präsidenten kontrolliert.
  • Verifikation des Wähler:innenregisters: Unser Gespräch fand kurz vor dem Wochenende statt, an welchem sich alle Staatsbürger:innen in ihrem Quartier als wahlberechtigt verifizieren lassen können. Durch persönliches Erscheinen kann so gewährleistet werden, dass das Register für die Wahlen im November 2021 aktuell ist. An sich in einem Land wie Nicaragua ein übliches Prozedere. Allerdings bietet dies der Regierungspartei eine Gelegenheit, um unbequeme Personen an der Registrierung zu hindern. In einer von einer einzigen Partei dominierten Gesellschaft wie Nicaragua wären wohl bereits hier internationale Wahlbeobachter:innen notwendig. Diese lässt die Regierung aber nicht einmal für die Wahlen selbst zu.
  • Wahlfälschung: Es wird auch richtig gefälscht. Mein Gesprächspartner geht davon aus, dass diverse verstorbene Familienangehörige von FSLN-Mitgliedern registriert werden. Weiter ist es möglich, die Registrationsnummern von Oppositionellen zu notieren und ihre Stimmen bei den Wahlen verschwinden zu lassen. Ausserdem ist es bereits vorgekommen, dass Wahllokale in FSLN-kritischen Quartieren gar nicht erst geöffnet wurden.
  • Politische Gefangene: Je nach Zählart sind 20-30 bekannte Exponent:innen der Opposition im Gefängnis (Stand Ende Juli 2021, unterdessen sind es mehr). Offiziell weiss niemand, wo sie sind. Auf Nachfrage durch Familienangehörige heisst es jeweils, es gehe ihnen gut. Jedoch können sie nicht mit der Aussenwelt kommunizieren. Es gibt nur Vermutungen, dass sie sich in El Chipote befinden würden, einem Gefängnis, in welchem bereits Militärdiktator Somoza Gefangene einsperrte und folterte. Insgesamt nennt mein Gesprächspartner 130 politische Gefangene.
  • Erzwungenes Exil: Wie praktisch alle Nicas kennt er Leute, die das Land verliessen, da sie bedroht wurden. Eine Europäerin in seinem Umfeld, welche hier mit ihrer Familie lebte und arbeitete, erhielt Morddrohungen.
  • Aufrüstung: Russland baut derzeit seine militärische und nachrichtendienstliche Infrastruktur in Nicaragua massiv aus. Dazu gehören russische Abhöranlagen an der Karibikküste sowie jüngst zum Beispiel eine Lieferung von rund 60 Panzern an die Streitkräfte.
  • Zensur: Nachdem Ortega am 19. Juli seine Rede, wie erwähnt, mit der Kriegserklärung an die Opposition beendete nahm das Regime sämtliche ausländische TV-Sender weg vom Netz. Offensichtlich fürchtet sich die Regierung davor, dass Nicas die Kommentare ausländischer Stationen, zum Beispiel aus Mexiko, zu Ortegas Propaganda-Rede hören können.

Die verbleibende FSLN-Basis: Um jeden Preis für Daniel

Die Nacht auf den 19. Juli sei wie Silvester für Sandinistas, wird mir gesagt. Es gibt ein grosses Feuerwerk. Eigentlich hätten es die Errungenschaften der 1980er Jahre verdient, zelebriert zu werden. Doch jenen Sandinistas, welche gegen Daniel sind, ist nicht nach Feiern zu Mute. Mir auch nicht.

Dafür kam ich mit der danielistischen Basis in Kontakt. Ich unterhalte mich lange mit einem Familienvater und seiner Tochter. Die Lage ihres Hauses war 2018 durch tranques (Strassensperren) tangiert, was zum Problem wurde, da die Parteiloyalität der Familie allgemein bekannt ist. Das hat an sich aber noch nicht viel zu bedeuten. Millionen von Menschen identifizieren sich mit dem FSLN, nur eine Minderheit davon ist Teil von Partei-Schlägertrupps[2] oder der paramilitärischen Verbände, die 2018 wie aus dem Nichts auftauchten. Der Grossteil dieser Danielista-Basis dürfte die Gewalt von 2018 wohl nicht legitimieren, sondern sie schlichtweg leugnen. Es fragt sich, was schlimmer ist. 

Avenida Bolívar in Managua am Vorabend des 19. Juli.

Lange bevor die Revolutionsregierung Mitte der 1980er Jahre notgedrungen die Wehrpflicht einführen musste, ging der Familienvater, mit dem ich mich unterhalte, freiwillig an die Front. Er war von den Idealen der Revolution überzeugt, die ihn in seiner Jugend vom Joch der Militärdiktatur befreit hatte. Wie Unzählige seiner Generation hat er in den 1980er Jahren sein Leben für die Revolution aufs Spiel gesetzt. Viele seiner Compañer@s sind an der Front umgekommen. Seine Tochter ist Mitglied der Juventud Sandista. In der JS aktiv zu sein, ist meistens etwa gleich harmlos wie ein:e Pfadfinder:in zu sein. Klar ist man in einer Vorfeldorganisation der Partei und trägt selbst zur Verbreitung von deren Propaganda bei. Ebenfalls wurden JS-Verbände schon dafür eingesetzt linksoppositionelle Demos (8. März) zu blockieren. Doch meine Gesprächspartnerin erzählt mir von Tätigkeiten wie zum Beispiel dem Organisieren von Charity-Aktionen für Hurrikan-Opfer.

Eines Nachts 2018 sei eine bewaffnete Gruppe auf Motorrädern zu ihnen nach Hause gekommen und habe versucht das Haus anzuzünden, während die Familie schlief. Der mittlere Sohn bemerkte, dass sich jemand an ihrem Haus zu schaffen machte. Der Vater konnte die Angreifer in die Flucht schlagen, da er, wie sehr viele Nicas, im Besitz einer Schusswaffe ist. Ebenfalls in dieser Zeit des Aufstands bekam die Tochter diverse Nachrichten, in denen ihr gedroht wurde, man würde sie überfallen und vergewaltigen, da sie in der JS sei.

Ich gebe diese haarsträubende Geschichte nicht wider, um die Opposition von 2018 zu diskreditieren. Leider arbeitet die Propagandamaschinerie von Ortega-Murillo mit solchen Anschuldigungen gegen alle Oppositionellen inklusive der Student:innen. Es geht mir darum zwei Aspekte dieses Konflikts aufzuzeigen.

  • Erstens: Während eines Aufstandes mischen die verschiedensten Gruppierungen mit. Bereits an einer Demonstration, die zur Strassenschlacht mit der Polizei ausartet – sei es in Europa oder in Zentralamerika –, hat niemand die absolute Kontrolle darüber, welche Akteur:innen genau beteiligt sind. 2018 in Nicaragua herrschte über Wochen hinweg Ausnahmezustand. Es liegt also auf der Hand, dass Kleinkriminelle ebenfalls mitmischten. Glaubt man Ortega, so wurden alle Strassensperren von skrupellosen Banden organisiert. Doch gilt eine politische Protestaktion als weniger legitim, nur weil einige Trittbrettfahrer:innen Wegelagerei betreiben? Viele junge Leute in Zentralamerika werden kriminell, da ihnen der legale Arbeitsmarkt keine Perspektive bietet.
  • Zweitens: Diese instabile Sicherheitslage macht es für dissidente Sandinistas der Revolutionsgeneration und der 2018 entstandenen Student:innenbewegung unglaublich schwierig, das Regime Ortega-Murillo zu kritisieren und eine politische Alternative dazu aufzuzeigen. Die jetzige FSLN-Regierung gilt als Garantin für Stabilität, auch wenn sie mit eiserner Hand herrscht und sich selbst bereichert. Doch vor 2007 war das Land unsicherer. Sich fortzubewegen, insbesondere als Frau, ist viel sicherer als in El Salvador oder Honduras, wo Überfälle an der Tagesordnung sind. Und wer heute aufgrund eines Einbruchs die Polizei ruft, bekommt in der Regel Hilfe.[3] In einer Gesellschaft, in welcher fast alle täglich damit beschäftigt sind, sich ökonomisch über Wasser zu halten, ist es klar, dass diese relative Stabilität vielen relevanter scheint als ein visionäres politisches Projekt. Letzteres braucht Zeit. Der FSLN selbst war fast 20 Jahre im Untergrund aktiv, bevor Somoza gestürzt wurde. Nicaraguas Stabilität hat aufgrund der Niederschlagung des Aufstands jedoch gelitten und gilt nur für jene, die sich Ortegas Regime fügen.

Diese Familie hat wie Millionen andere Nicas ökonomisch von der FSLN-Regierung profitiert. Vorsichtig stelle ich im Gespräch Fragen nach dem Privatvermögen des Ortega-Clans. Dies führt zu vehementen Abwehrreaktionen. Vater und Tochter behaupten, es sei eine Unterstellung des Imperialismus, der politischen Rechten und abtrünniger Sandinistas, dass Ortega steinreich sei. Einer der Lieblingsbegriffe der Danielistas scheint «guerra de desinformación» (Desinformationskrieg) zu sein. Natürlich war nach Lesart der FSLN-Propaganda der gesamte Aufstand von 2018 ein von langer Hand geplanter Staatsstreich. Doch im Gegensatz zu Venezuela, wo die Unterstützung für Guaidó und davor für Capriles durch die USA nicht zu übersehen ist, bleiben Ortega-Murillo bis heute die Beweise schuldig, inwiefern 2018 geplante und externe Einflussnahme stattgefunden habe und es somit kein spontaner Volksaufstand gewesen sei. Dies zu beweisen wäre das Mindeste, was man von einem Staat erwarten kann, der einen derart grossen Sicherheitsapparat unterhält.

Ortega und sein Vermögen scheinen unantastbar. Man hinterfragt als Danielista öffentlich gar nicht, ob Ortega alles benötigt, was er besitzt. Was er macht, wird halt irgendwie schon zum Wohle der Nation sein. Dabei ist die Selbstbereicherung des Ortega-Clans total offensichtlich, sobald man parteiunabhängige Medien konsumiert. Allerdings sind fast alle Medien in der Hand von Ortegas nächsten Verwandten.

Ich werde gefragt, ob ich denn Beweise für Ortegas Reichtum hätte? Einer der Beweise steht nur wenige Kilometer entfernt. Das Ehepaar Ortega-Murillo lebt und regiert in ihrer Residenz El Carmen mitten in Managua. Seit 2018 ist das circa einen Quadratkilometer umfassende Quartier rund um El Carmen militärisch abgeriegelt. Es ist wohlgemerkt ihre Privatresidenz und nicht der staatliche Präsidentensitz. Viele Nicas fahren täglich daran vorbei. Doch Beweise hätten mir wohl auch nichts gebracht. Egal, ob ich CNN oder Le Monde Diplomatique als Quelle genannt hätte, es sind angeblich immer Falschinformationen, um Nicaragua zu destabilisieren. Diese Mauer der Ignoranz fühlt sich an wie in einer Sekte.

Es wird wohl nie geklärt werden, wer 2018 diese danielistische Familie angriff. Vielleicht war es eine apolitische Bande. Vielleicht waren es Schergen einer der alten Oppositionsparteien. Auch wenn diese rechten Parteien heute weitgehend bedeutungslos sind, dürften sie 2018 erfolglos versucht haben, ihren früheren Einfluss zurückzugewinnen. Ihr Personal ist höchstens in ideell breit gefächerten Zusammenschlüssen der Opposition mitvertreten. Doch auch diese können Ortega bei weitem nicht die Stirn bieten.

Abschliessend sei erwähnt, dass dieses Familienschicksal in krassem Kontrast zu den Ereignissen von 2018 als Ganzes steht. Die Opposition ist zu mindestens 99 Prozent friedlich. Es gibt keine unabhängigen Berichte, dass Anhänger:innen der Regierung ins Ausland fliehen mussten, dass sie entführt wurden, oder ähnliches,. Gleichzeitig ist die Verfolgung von Oppositionellen kaum zu übersehen.

Am Freitag folgt Teil 3 des Reiseberichts welcher unter anderem darauf eingeht, dass die Regierung Ortega ist ein Regime der kapitalistischen Modernisierung ist.


Titelbild: Avenida Bolívar in Managua am 19. Juli.


[1] Schon bald nach der Machtübernahme des FSLN fingen rechtsextreme und von den USA unterstützte Contras (vom spanischen contrarrevolucionario) an, die neue Regierung zu bekämpfen. Militärisch konnten sie sich zwar nicht durchsetzen. Sie destabilisierten aber das Land und waren mitverantwortlich, dass der FSLN 1990 abgewählt wurde.

[2] Oft wird innerhalb der ideell sehr breiten Oppositionsbewegung für die Schlägertrupps der Begriff «turbas sandinistas» (Sandinistischer Mob) verwendet. Aus Respekt vor dem Sandinismus in seiner ursprünglichen Form, verwende ich diesen Begriff nicht.

[3] Das gilt zumindest für Managua. Über andere Städte und Regionen kann ich keine konkreten Aussagen machen. Klar ist jedoch, dass man an abgelegenen Orten weitgehend auf sich alleine gestellt ist.

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1 Kommentar

  1. Pingback:Nicaragua: 4 Jahre nach dem Volksaufstand, und ein halbes Jahr nach Ortegas Wahlfarce

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