42 Jahre nach der sandinistischen Revolution hat sich in Nicaragua vieles ins Gegenteil verkehrt. Was bleibt übrig? Ein Land in Armut, eine Grossteil der Nicaraguaner:innen, die in den 1980er Jahren und darüber hinaus für ihre Befreiung vom Joch des Imperialismus kämpften, ein diktatorisches Ehepaar und eine kleine Flamme des Widerstands in Form einer Generation, die unter dem heutigen Regime aufwuchs und 2018 gegen diese beklemmenden Verhältnisse auf die Strasse ging. Teil 3 eines Reiseberichts aus dem Juli 2021. Teil 1 erschien bereits am 1. und Teil 2 am 3. November. Am Sonntag folgt ausserdem ein Artikel zu den Präsidentschaftswahlen.
von Hendrick Bollinger (BFS Zürich)
Das Leben unter Ortega: Instrumentalisierung und nachvollziehbare Verdrängung
Bei anderer Gelegenheit spreche ich mit einer jungen Frau, welche für einen staatlichen Betrieb arbeitet. Sie engagiert sich nicht politisch. Die Teilnahme an Veranstaltungen von Ortegas Propagandazirkus wird von ihr aber erwartet. Wir sprechen darüber, wie sie die Auswirkungen der aktuellen Regierung in ihrem Alltag wahrnimmt. Unter den rechten Regierungen zwischen 1990-2007 waren tägliche Stromunterbrüche im ganzen Land üblich. Mit Ortega kamen Handelsbeziehungen nach Venezuela, billiges Erdöl und somit Strom. In den letzten Jahren ist der Ausbau des mobilen Datennetzes dazugekommen. Auch der Zugang zu fliessend Wasser und der Strassenbau hat den Zuspruch für den Frente Sandinista gefördert. Immer mehr Quartiere der Hauptstadt sind flächendeckend asphaltiert. Jedoch haben Strom und Internet einen stolzen Preis. Am Mobilfunk verdienen sich die Konzerne Claro aus Mexiko und Tigo aus Kolumbien eine goldene Nase. Und Nicaragua – das ärmste Land Zentralamerikas – hat die höchsten Strompreise. Dazu eine Anekdote zu Ortegas Rede am 19. Juli. Durch den Fernseher hört man Ortega mit viel Pathos sagen: «Die einfachen Bauern auf dem Land wissen, dass sie Elektrizität haben.», worauf eine Zuschauerin in die Menge rief: «Ja genau! Und sie wissen auch, dass sie den Strom bezahlen müssen.»
Die junge Staatsangestellten meint, dass alle Regierungen die Bevölkerung ausbeuten würden.[1] Doch Ortega-Murillo habe wenigstens diese materiellen Verbesserungen umgesetzt. Sie sieht den FSLN also als geringeres Übel. Im Gegensatz zu politisch stabilen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland kann die Vergabe staatlicher Stellen in Nicaragua von Parteiloyalität abhängen. In vielen Fällen ist diese angebliche Zustimmung zu Ortega-Murillo nur vorgegaukelt.
Was ich auf dieser Reise oft höre: «Alles, was wir wollen, ist in Frieden zu leben!» Ich kann es nachvollziehen, dass sich viele mit der FSLN-Regierung abfinden. Wer der Propaganda zwar nicht auf den Leim geht, die Regierung aber trotzdem unterstützt, verdrängt die brutale Verfolgung der Opposition vermutlich. Denn alle kennen jemanden, der:die im Gefängnis war, ins Ausland flüchtete, oder ermordet wurde. Aber schliesslich müssen sich Lohnabhängige in jedem Land mit den herrschenden Bedingungen arrangieren, um ihr Leben erträglicher zu machen. Es wäre jedoch ein Trugschluss, als Linke daraus eine politische Legitimation für Ortega-Murillo abzuleiten. Denn auch unter bürgerlichen und rechten Regierungen verfolgen die Lohnabhängigen genau dieselben ökonomischen und psychologischen Überlebensstrategien. Und keine linke Strömung würde deshalb auf die Idee kommen, die politische Rechte für ihren Ausbau der Infrastruktur zu loben.
Wieso gilt Ortega eigentlich immer noch als links?
Das Wirtschaftssystem als solches, welches die nationale Bourgeoisie unterstützt und die Emanzipation der Lohnabhängigen unterdrückt, bleibt unter Ortega genauso unangetastet, wie dies unter den progressiven Regierungen in Venezuela, Brasilien, Ecuador und Bolivien der Fall war oder immer noch ist. Nicaragua ist im Gegensatz zu den 1980er Jahren ganz einfach nicht der Ort, an dem eine Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus erkennbar ist. Man sollte sich jedenfalls nicht blenden lassen, wenn FSLN-Funktionäre hohle Phrasen über Sozialismus von sich geben. Vor allem nicht, da die esoterisch-religiöse Vizepräsidentin Murillo vor allem von Liebe und Gottes Gnaden faselt. Die Regierung Ortega ist ein Regime der kapitalistischen Modernisierung.
Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung hat nichts mit Antikapitalismus zu tun. Ortegas Regierung bietet keine Alternative zur Austeritätspolitik, sondern kooperiert mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwar hat sich das BIP zwischen 2007 und 2017 verdoppelt und die extreme Armut wurde unter Ortega deutlich reduziert.[2] Doch die Klassengegensätze haben ebenfalls massiv zugenommen. An Managuas zentral gelegener Strasse Carretera Masaya sind protzige Konsum- und Vergnügungspaläste aus dem Boden geschossen. Gleichzeitig arbeiten viele Nicaraguaner:innen in Maquilas (Sweatshops) für den Export in die USA. Dafür wurden Sonderwirtschaftszonen errichtet. Es scheint, als wolle Nicaragua dorthin, wo Vietnam heute bereits ist. Marktwirtschaft und Wirtschaftswachstum um jeden Preis, dekoriert mit antiimperialistischer Symbolik, die als Nationalidentität herhalten muss. Im Unterschied zu bürgerlich-demokratischen Ländern wird das wirtschaftspolitische Gefüge jedoch von einer einzelnen Partei kontrolliert. Das Wirtschaftswachstum wurde ab 2018 stark gebremst, da Ortega geopolitisch weitgehend isoliert dasteht. Nicaragua ist ein armes Land mit wunderschönen neuen Polizeiautos. Für den Sicherheitsapparat kratzt das Regime seine verbleibenden Mittel zusammen.
Egal ob in Venezuela Proteste von Juan Guaidó, dem Aushängeschild einer faschistoiden Partei[3] aus der herrschenden Klasse, angeführt oder Nicaragua von einem spontanen Volksaufstand ergriffen wird. In der Logik der Campist:innen sind es immer instrumentalisierte Massen im Dienst der CIA. Es ist nie eine selbst denkende und handelnde Bevölkerung, die sich dagegen wehrt, in einem autoritären Staat zu leben. Die Linke müsste dabei eigentlich auf der Seite der Unterdrückten stehen. Auch wenn der Unterdrücker ein zum Autokraten gewordener Ex-Guerillero ist.
Es gibt auf dem gesamten amerikanischen Kontinent kaum einen Herrscher, welcher eine derart umfassende Machtfülle besitzt, wie Ortega. Er und Rosario Murillo kontrollieren die Regierung, das Parlament, die Gerichtsbarkeit, den Wahlrat, die Polizei und das Militär. Bereits vor den letzten Wahlen von 2016 schrieb die WOZ (Nr. 44, 2016, S. 13), es gebe kaum ein formal demokratisches Land, in welchem der Wahlsieg des Machthabers so klar vorhersehbar sei. 2021 ist noch viel eindeutiger, dass Ortega gewinnen wird.
Ausserdem existiert im Hintergrund eine Ortega treu ergebene, gut trainierte und bestens ausgerüstete paramilitärische Truppe, die bereit steht, um jederzeit gewaltsam gegen die Bevölkerung vorzugehen, wenn es das Herrscherpaar für nötig halten sollte. Laut dem dissidenten FSLN-Kader wurde beispielsweise Dora-Maria Tellez, eine frühere Kampfgefährtin Ortegas, diesen Juni nicht von der offiziellen Polizei verhaftet. Es sollen Söldner:innen in Polizeiuniformen gewesen sein, da befürchtet wurde, die Polizei würde das Vorgehen gegen eine Heldin der Revolution allenfalls verweigern. Tellez wurde verhaftet, da sie gegen Ortega bei den Präsidentschaftswahlen antreten wollte. Seither sitzt sie im Gefängnis.
Nationale Befreiungsbewegungen, die einen bewaffneten Arm besitzen, sind stets mit einem Dilemma konfrontiert. Um die Somoza-Diktatur zu besiegen, war der bewaffnete Kampf zweifelsohne unerlässlich. Somoza liess keinerlei friedliche Opposition zu. Ab 1979 wurde das Ziel verfolgt, Nicaragua zu demokratisieren. Das Dilemma besteht darin, wie man mit einer in Kriegszeiten notwendigen militärischen Führungsstruktur in einer fortan demokratischen Gesellschaft umgeht. Die Ursprünge des heutigen Autoritarismus von Ortega-Murillo stammen aus den1980er Jahren. Es wurde viel unternommen, um den Staat zu demokratisieren. Die Demokratisierung des Frente Sandinista liess allerdings zu wünschen übrig. Der FSLN hielt in den 1980er-Jahren keinen einzigen Parteikongress ab. Die Macht konzentrierte sich hauptsächlich in den Händen der neun Comandantes der Revolution. Daniel Ortega war einer dieser Comandantes und stets an der Staats- und Parteispitze.
Momentan ist keine organisierte emanzipatorische Kraft sichtbar, welche Daniel Ortega, Rosario Murillo und ihrem System die Stirn bieten können. Die als Studierendenproteste bekannt gewordene Jugendbewegung von 2018 – es waren bei weitem nicht nur Student:innen, die am Aufstand teilnahmen – zeigte Ansätze eines Umbruchs auf. Als ich einen Teenager fragte, ob er glaube, dass es nach Ortegas Wiederwahl im November 2021 zu neuen Protesten kommen werde, sagte er nur «hoffentlich».
Am Sonntag finden in Nicaragua Präsidentschaftswahlen statt. Dazu folgt ein Übersichtsartikel.
Titelbild: Strassenszene im Süden Managuas.
[1] «te roban todos» auf Deutsch: «sie stehlen alle von dir»
[2] Es gibt diverse klientelistische Hilfsprogramme, die ja auch der Grund dafür sind, dass Ortega immer noch eine Massenbasis hat.
[3] Gemeint ist die Partei Voluntad Popular des ultrarechten Politikers Leopoldo Lopez. Guaidó war bis 2020 und somit während seinem gescheiterten Versuch, auf abenteuerliche Weise Präsident Venezuelas zu werden, deren Mitglied.