Die Kurve der täglich gemeldeten Coronafälle kennt derzeit nur eine Richtung: Sie geht steil nach oben. Die fünfte Corona-Welle ist auch in der Schweiz in vollem Gange. Doch weil es bislang, im Vergleich zu den vergangenen Wellen, (noch) weniger Spitaleintritte pro Coronafall gibt, verzichtet die Politik auf weitere Massnahmen – und nimmt damit einmal mehr tausende Erkrankungen und Tote in Kauf.
von Eva L. Blum und Philipp Schmid (BFS Zürich)
Ein Blick zurück verheisst nichts Gutes: Ende Oktober letzten Jahres lagen auf den Intensivstationen der Schweiz knapp 150 Covid-Patientinnen und Patienten – ungefähr gleich viele wie heute. Es dauerte dann aber weniger als einen Monat, bis mit über 500 Patientinnen und Patienten der vorläufige Höchststand in der Pandemie erreicht wurde und dies die Intensivstationen an den Rand der Überlastung und darüber hinaus brachte. Zwar gab es damals noch keine Impfung. Aber heute ist die viel gefährlichere Delta-Variante im Umlauf. Es gibt also wenig Grund anzunehmen, dass die Dynamik anders verlaufen sollte. Und es braucht wenig Fantasie, um vorauszusagen, dass der Bund schon bald wieder gesamtschweizerisch Massnahmen ankündigen muss.
Bis es soweit ist, werden viele Menschen völlig unnötig erkrankt und gestorben sein und Ärzt:innen und Pfleger:innen bleiben im erschöpfenden Dauerstress gefangen. Dazu kommt, dass die Spitäler – aufgrund der massenhaften Berufsaustritte und den allseits bekannten untragbaren Arbeitsbedingungen – bereits jetzt Mühe haben, genügend Personal zu rekrutieren. Der vom Bundesrat geforderte Ausbau der Kapazitäten steht also auf dem Spiel, weil schlicht kein Personal zur Bewältigung der Arbeit vorhanden ist. Die Folgen davon benennt die Schweizer Corona-Taskforce am 23. November 2021 klipp und klar: Wenn nicht sofort wirkungsvolle Massnahmen ergriffen werden, müssen die Spitäler ab Dezember triagieren.
Unkontrolliert laufenlassen – an den Schulen
Die derzeitige Strategie der Regierungen, die Ausbreitung des Virus in Kauf zu nehmen, läuft also auf ein unnötiges Sterben und eine Durchseuchung aller Ungeimpften hinaus. Letztere sind nicht nur die Impfunwilligen, sondern auch alle, die sich nicht haben impfen können, seien es Immungeschwächte, seien es diejenigen, die aufgrund prekärer Lebensverhältnisse sich nicht trauen ein paar Tage freizunehmen, seien es Menschen ohne Papiere. Vor allem sind dies aber alle Unter-12-Jährigen.
Derzeit entwickeln sich vor allem die Schulen zum Schwerpunkt der Ausbreitung des Virus. Der Druck der Coronaleugner:innen und der vorauseilende Gehorsam der Schulleitungen führten dazu, dass vielerorts die vor den Sommerferien eingeführten Massentests eingestellt und die Maskenpflicht abgeschafft oder flexibilisiert wurden. Deshalb wütet das Virus in den Schulen teilweise völlig unkontrolliert (aufgrund der heruntergefahrenen Massentest und des ungenügenden Contact-Tracing sind die Ansteckungszahlen zudem wohl weitaus höher, als offiziell angegeben).
Der Unterricht findet also statt, als ob nichts gewesen wäre. Das Argument, das auch Bundesrat Berset wiederholt, lautet, dass der Krankheitsverlauf bei Kindern und Jugendlichen oft weniger schwerwiegend sei. Erfahrungen aus den USA zeigen jedoch, dass mit der Delta-Variante auch Kinder häufiger schwere Verläufe durchleben und an Long Covid leiden. Und wie das Beispiel des Kantons Bern zeigt, bedeutet die verantwortungslose Politik der Regierung de facto eine Durchseuchung der Schulen, was wiederum dazu führt, dass Kinder zuhause auch bereits Geimpfte massenhaft anstecken.
Wird der steile Anstieg der Ansteckungen in der Gesamtbevölkerung nicht gestoppt, heisst das, dass die Überlastung der Intensivstationen und des Gesundheitssystems trotz der Impfungen lediglich hinausgezögert wird. Gefährdet sind vor allem diejenigen, bei denen der Impfschutz bereits wieder nachlässt und die Immunantwort von Anfang an nicht perfekt war. Wenn eine geimpfte Person dennoch erkrankt, ist ihr Risiko für einen schweren Verlauf zwar immer noch geringer als bei Ungeimpften, doch das Risiko an Long Covid zu erkranken liegt mit ca. 20% in derselben Grössenordnung wie bei Ungeimpften.
Es ist nicht eine «Pandemie der Ungeimpften»
Sich in der gegenwärtigen Lage nur auf die Ungeimpften zu konzentrieren, ist nicht hilfreich. Denn dies lenkt vom grundsätzlichen Versagen des Bundesrates ab und ignoriert, dass auch Geimpfte das Virus weitertragen und erkranken. Wer von der «Pandemie der Ungeimpften» redet, übersieht aufs Gröbste, dass Impfen zwar wichtig, aber keineswegs ein hinreichendes Mittel einer solidarischen Pandemiebekämpfung ist. Was wir jetzt erleben, ist also das Resultat einer von Anfang an gescheiterten Politik. Die Regierungen in Europa und Nordamerika hätten – mit einer konsequenten Strategie – die Möglichkeit gehabt, die Pandemie zu beenden. Sie haben sich anders entschieden: die Profite der Unternehmen gehen vor, das Leben und die Gesundheit der Menschen sind zweitrangig. Impfstoffe als «techno-fix» sollten reichen, damit die Geschäfte möglichst ungehindert weitergehen können (und sich dazu einige wenige Pharmakonzerne mittels Staats- bzw. Steuergeldern massiv bereichern ). Die Warnungen unzähliger Wissenschaftler:innen, dass neue Mutationen von Sars-CoV-2 diese Strategie durchbrechen könnten, wurden ignoriert.
Delta: Eine Pandemie in der Pandemie
Hätte es die Welt noch mit dem Erreger zu tun, mit dem die Pandemie im Herbst 2019 gestartet ist, könnte man mit den aktuellen Impfquoten den Seuchenzug für beendet erklären. Obwohl auch das ursprüngliche Sars-CoV-2 sehr infektiös war, hätte eine Impfquote von 60% ausgereicht, um das Virus zu stoppen. Doch Viren mutieren. Und sie tun dies umso schneller, je mehr Menschen erkranken; wenn ihre Ausbreitung also nicht oder nur ungenügend gebremst wird. Zuerst kam Alpha. Sie verdrängte Anfang 2021 die bis dahin in Europa dominierenden Varianten in wenigen Wochen und sorgte für die 3. Welle im Frühjahr 2021. Dann kam Delta, gegen die wiederum Alpha harmlos wirkt: Delta ist so viel infektiöser als die anderen Varianten, dass sie, zunächst mit der vierten Welle, eine Pandemie in der Pandemie startete – so als hätte man es mit einem ganz neuen Erreger zu tun. Die Impfstoffe, auf die die Politik – nicht nur in der Schweiz – fast ausschliesslich in der Bekämpfung gesetzt hat, sind zwar auch gegen diese Variante sehr wirkungsvoll, doch müssten nun mindestens 85% der Bevölkerung vollständig geimpft sein, um das Virus zu stoppen. Delta schafft es zudem häufiger als die vorherigen Varianten, geimpfte Menschen zu infizieren. Diese erkranken zwar weit seltener schwer als ungeimpfte, doch können sie das Virus weitergeben und neue Infektionsketten starten. Und weil das Virus nach wie vor so viel «Futter» hat, sind bereits neue Varianten im Umlauf.
«Ausmutiert hat es sich dann, wenn es kein Virus gibt. Das muss unser Ziel sein.»
Österreichischer Molekularbiologe Ulrich Elling im Juli 2021
Daher gilt weiterhin, wie von der Kampagne Zero Covid gefordert: Niedrige Inzidenzen sind der beste Schutz für die gesamte Bevölkerung. Impfungen alleine reichen hier offensichtlich nicht aus. Sehr tiefe Fallzahlen erreicht man nur über Kontaktbeschränkungen, eine Eindämmung der Infektionsketten und das konsequente Nachverfolgen aller Fälle (Testen, Testen, Testen).
#WirBleibenZuhause?
Angesichts explodierender Zahlen hat das Deutsche Bundesgesundheitsministerium (einmal mehr) die Kampagne #WirBleibenZuhause gestartet, als ob sich in dieser Pandemie nicht längst der Klassencharakter unserer Gesellschaft gezeigt hätte. Denn wer kann in der aktuellen Situation zuhause bleiben? Je länger die Pandemie andauert, desto stärker leiden die Armen, sozial Benachteiligten und alle, die sich bei der Arbeit oder auf dem Arbeitsweg anstecken, weil sie eben nicht einfach zuhause bleiben können.
Es sind weltweit die Bersets, Lindners, alle Unternehmensvertreter:innen und die politische Rechte, die sich vehement und seit dem Frühjahr 2021 mit Erfolg gegen einen weiteren Lockdown stellen. Die Wirtschaft soll ja nicht nochmals von Beschränkungen betroffen sein. Was das für gesundheitliche und soziale Schäden mit sich bringt, erleben wir aktuell von Neuem. Weitaus tragischer ist aber, dass sich dadurch das Virus immer weiter ausbreiten wird. Eine solidarische Antwort auf das bewusst in Kauf genommene Desaster würde bedeuten: Ein solidarischer Shutdown, getragen von unten, mit dem Ziel, die Infektionszahlen schnellstmöglich runter zu bringen und unten zu halten. Hunderte Menschenleben könnten so gerettet werden. Dabei müssen auch alle nicht-systemrelevanten Bereiche der Wirtschaft für eine gewisse Zeit heruntergefahren und ein flächendeckender Schutzschirm für alle dort Beschäftigten aufgespannt werden. Die Gewerkschaften müssen ihrer Pflicht nachkommen, die Gesundheit der Lohnabhängigen an die erste Stelle zu setzen.
Es ist nie zu spät für eine solidarische Antwort auf die Pandemie!
Nach vier tödlichen Pandemiewellen ist überdeutlich: Die Regierenden schützen nicht uns, sie schützen Konzerne, Kapital und Big Pharma. Die grosse Mehrheit der Menschen schützt sich individuell und trägt dazu bei, die gesellschaftliche Katastrophe einzudämmen. Wichtig ist jedoch gemeinsames, organisiertes Handeln. Die Forderungen der im Januar 2021 lancierten Kampagne Zero Covid sind weiterhin gültig. Kürzlich fragte Zero Covid:

Aus der Antwort auf diese Fragen eine kollektive solidarische Aktivität abzuleiten, bleibt weiterhin dringend nötig. Das Feld den Rechten und Schwurbler:innen zu überlassen, kann keine Option sein.
Am 30. November 2021 findet in Genf eine wichtige Demo vor dem UNO-Sitz statt, die einen universellen und globalen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen fordert.