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Leben statt Kapital! Solidarische Notbremse jetzt!

Der zynische Ansatz der Schweizer Regierung, die Ansteckungsdynamik auf ein bestimmtes Niveau einzustellen, hat bereits unzähligen Menschen das Leben gekostet. Ohne einen solidarischen Shutdown, der die Virusausbreitung verlangsamt, werden wir mit der neuen Virusvariante Omikron wahrscheinlich in Pandemie-Belastungen kommen, die jenseits von allem liegen, was wir bisher kennen. Mehr denn je gilt es jetzt daher, sich bedingungslos und wirksam auf die Seite der Gesundheit und des Lebens zu stellen: Leben statt Kapital!

von Eva L. Blum (BFS Zürich)

Die Schweiz hat, wie viele Staaten in Europa, den Weg der abgebremsten Durchseuchung gewählt, also: Flatten the curve. Zuletzt waren die Fallzahlen über Wochen stark angestiegen, aktuell stagniert die fünfte Welle der Pandemie auf hohem Niveau. Nicht aber die Einweisungen ins Krankenhaus, diese steigen weiter an. Mitte Dezember wurde die kritische Schwelle von 300 Covidpatient:innen auf den Intensivstationen erreicht. Die Science Taskforce hatte bereits im November gewarnt, dass diese Zahl ohne Massnahmen im Dezember erreicht sei und dass sie deutliche Folgen für die Qualität der Behandlung haben werde. Doch die Warnungen der Wissenschaftler:innen verhallten einmal mehr ungehört. So lange die Belastung mit Corona-Patient:innen auf den Intensivstationen relativ tief sei, seien weitere Massnahmen unnötig, so Alain Berset an einer Medienkonferenz.

Am 17. Dezember hat der Bundesrat nach längeren Beratungen mit den Kantonen nun doch noch einige leichte Verschärfungen der Massnahmen beschlossen. In der Vernehmlassung waren auch Teilschliessungen von Restaurants, Fitnesscentern, Discos oder Bars. Diese wurden jedoch klar abgelehnt. Übrig bleiben 2G und 2G+ Regelungen und, sofern möglich, eine Homeoffice-Pflicht. Während die Gewerkschaften, die sich in der Pandemie bislang kaum um Schutz der Lohnabhängigen gekümmert haben, die Massnahmen begrüssen, fordert der Chefökonom beim Dachverband Economiesuisse, die Homeoffice-Pflicht dürfe nur solange dauern, wie sie effektiv nötig sei. Auch der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) kritisiert die Massnahme als «nicht verhältnismässig».

Wirtschaft versus Menschenleben

Die Diskussion um die aktuelle «Massnahmenverschärfung» zeigt einmal mehr, dass sich die Schweizer Politik und mit ihr die Wirtschaftsverbände auch in der 5ten Welle am neoliberalen Handlungsrahmen orientieren, der ein Ausbalancieren von Wirtschaft und Menschenleben vorsieht. Im Klartext heisst das: die Todesopfer sind nur soweit zu begrenzen, dass das Weiterlaufen von Produktion und Reproduktion nicht allzu stark beeinträchtigt wird. Genauso sind auch die Schutzmassnahmen – wie Homeoffice oder Lockdowns – nur soweit zulässig, dass sie «die Wirtschaft» nicht übermässig belasten. Auch wenn es so scheint, als würde die Pandemie dadurch unnötig in die Länge gezogen, als sei ihre staatliche Bewältigung ineffizient, muss man nach fast zwei Jahren doch konstatieren: Gemessen an der selbst gesetzten Aufgabe geht die Rechnung auf. Für die Schweizer Wirtschaft läuft es den Umständen entsprechend gut, einige Privatvermögen konnten durch Corona sogar enorm wachsen. Im Grossen und Ganzen ist also gelungen, worum es beim Pandemie-Management geht. Dass damit vermeidbares Leid nicht vermieden, sondern in Kauf genommen wurde und wird, ist kein Zeichen von Staatsversagen, sondern zeigt vielmehr, worin der Staat im Kapitalismus seine Aufgabe sieht.

Omikron in der Schweiz: Weiter wie bisher trotz völlig neuer Ausgangslage

Doch nun wird die Sachlage deutlich komplizierter, denn die neue, hoch ansteckende Virusvariante Omikron ist längst auch in der Schweiz angekommen. Im Kanton Genf, dem aktuellen Omikron-Hotspot, verdoppeln sich die Fallzahlen derzeit innerhalb von zwei bis drei Tagen. Ein Blick auf die sich dramatisch zuspitzende Lage in Dänemark oder Grossbritannien würde genügen, um abschätzen zu können, was in Kürze auf die gesamte Schweiz zukommen könnte. Doch Bundespräsident und Bundesrat geben sich ahnungslos und beschwichtigen. Das Wichtigste sei nach wie vor die Delta-Variante, hier müsse man noch gewisse Massnahmen treffen. Bei Omikron wüsste man, «dass die Variante wahrscheinlich noch ansteckender» sei. Aber noch gäbe es auch viele Unsicherheiten. Zum Beispiel wisse man nicht, «ob diese Virusvariante schlimmer sei für Personen, die schon geimpft sind».

Da die neue Variante erst am 24. November in Südafrika entdeckt wurde, ist es kein Wunder, dass es noch viele offene Fragen gibt. Auch ist die Datenbasis noch immer zu schmal, um verlässliche Prognosen abgeben zu können. Doch was bislang klar ist – und fast täglich kommen neue Erkenntnisse hinzu – sollte mehr als ausreichen, um sofort wirksame Massnahmen zu erlassen, die die Kontakte und damit die Übertragungsmöglichkeiten deutlich reduzieren. Allein ein solches vorsorgliches Handeln wäre der Risikosituation, in der wir uns befinden, angemessen. Dies betont auch der neue Expert:innen-Rat der Deutschen Bundesregierung in seiner ersten Stellungnahme vom 19. Dezember. Zwar lässt sich die weitere Ausbreitung ohnehin nicht mehr stoppen, aber auch eine Verzögerung wäre jetzt entscheidend. Denn wie die Zahlen aus Dänemark und Grossbritannien zeigen, kommt die Omikron- auf die Delta-Welle oben drauf; nur verläuft sie viel steiler.

Die vom neoliberalen Kalkül getriebene Ignoranz (auch) der Schweizer Politik gegenüber den Erkenntnissen der Epidemiologie lässt sich seit Beginn der Pandemie beobachten. Doch jetzt, im Fall von Omikron, erhält sie eine neue Qualität. Denn der Preis, der nun zu zahlen sein wird, wird hoch sein. Sehr hoch.

Keine Welle, eher eine Wand

«Im Vergleich zur Delta-Welle ist Omikron eher eine Wand. Ohne einen koordinierten Lockdown dürften wir in Pandemie-Belastungen kommen, die jenseits von allem liegen, was wir bisher kennen.»

Dirk Pässler auf Twitter.
  • Bis Ende Dezember rechnet die Science Task Force allein aufgrund der Delta-Welle mit bis zu 400 Covid-Intensivpatient:innen. Das sind rund hundert mehr als heute – und vielen Spitälern fehlt bereits jetzt das Personal, um die Intensivpatient:innen angemessen zu betreuen. Handeln die Kantone nicht, droht der Schweiz Ende 2021 genau das, was man seit Beginn der Pandemie eigentlich verhindern wollte: die harte Triage in den Spitälern.
  • Die bislang vorliegenden Daten lassen den Schluss zu, dass Omikron deutlich ansteckender ist als Delta und auch Menschen infizieren kann, die bereits eine Immunität haben. Damit können sie das Virus weitergeben, weshalb Massnahmen wie 2G oder 2G+ bei Omikron kaum noch Effekt haben werden.
  • Omikron breitet sich nicht nur sehr schnell aus; die Virusvariante hat auch eine sehr kurze Inkubationszeit, so dass viele Menschen in kurzer Zeit krank werden. Dies führt nicht nur dazu, dass viele Menschen in die Spitäler kommen, sondern dass in vielen Bereichen Menschen ausfallen, weil sie krank sind und zu Hause bleiben müssen. Omikron wird also wahrscheinlich zu massiven krankheitsbedingten Arbeitsausfällen führen. Auch in essentiellen Berufsgruppen sei mit grossen Ausfällen zu rechnen, twittert der Berliner Virologe Christian Drosten mit Bezug auf die Schilderungen im britischen Guardian.
  • Ob Omikron zu schwereren Verläufen als andere Varianten führt, ist noch unklar. Doch da Omikron ansteckender ist, gehen mit steigenden Fallzahlen auch mehr schwere Fälle einher, auch wenn die Variante für sich genommen, nicht zu schwereren Fällen führen sollte. Dazu hat die kanadische Biologin Malgorzata Gasperowicz eine Grafik erstellt. Darauf zu sehen ist, wie Todesfälle auch bei milderen, aber infektiöseren Varianten stark ansteigen. Omikron könnte also zu deutlich mehr Todesfälle führen als Varianten, die weniger infektiös sind, dafür aber schwerere Verläufe auslösen.

«Schwerer Verlauf tötet linear, hohe Ansteckung tötet exponentiell. Da liegt die Gefahr durch Omikron»

Malgorzata Gasperowicz auf Twitter.
  • Omikron gilt als «Escape-Variante», d. h. die bislang verwendeten Impfstoffe bieten einen deutlich reduzierten Schutz vor Ansteckungen. Da eine 3te Impfung («Booster») mit mRNA-Impfstoffen vor schweren Verläufen zu schützen scheint, weil mit der Auffrischimpfung der Antikörperspiegel zum Schutz vor Ansteckung wieder angehoben wird, setzt die Politik (auch) in der Schweiz erneut vor allem auf die Impfung. Doch sind bereits Omikron-Fälle auch bei dreifach Geimpften bekannt. Die Virologin Sandra Ciesek von der Uniklinik Frankfurt warnt daher, dass eine Konzentration auf die Booster-Kampagne nicht reichen werde, auch weil der Schutz wieder nachlasse. Doch da das Impfen als «wirtschaftsverträgliche» Massnahme gilt, forcieren vor allem die reichen Länder des Nordens die 3te Impfung. Die Mitte Dezember geäusserte Bitte des WHO-Generalsekretärs, die Auffrischimpfung zugunsten ärmerer Länder zumindest aufzuschieben, wird (erneut) ignoriert.
  • Von der zu Beginn der Pandemie geheuchelten internationalen Solidarität ist in der Realität nicht viel zu spüren: Als man im Herbst im Globalen Norden begann, die dritte Impfung zu planen, war in den Ländern des Globalen Südens noch nicht einmal so viel Impfstoff verfügbar, um das medizinische Personal zu schützen. Das Perfide daran: Grosse Studien, die geholfen haben, die Zulassungen für die Impfstoffe zügig zu erlangen, waren in Ländern des Globalen Südens durchgeführt worden. Von den hehren Versprechungen übrig geblieben ist, dass reiche Länder und Privatpersonen Impfstoff spenden, der dann in den Ländern des Globalen Südens verteilt werden kann. Bis August 2021 sollten 640 Millionen Impfdosen in diese Länder gehen, lediglich ein Viertel davon kam an. Bei einem an Omikron angepassten Impfstoff wird es wieder genauso laufen: während sich die Länder des Nordens frühzeitig Millionen Impfdosen sichern, kann der Süden bestenfalls auf Almosen warten.

„There remains a vast gap in rates of #COVID19 vaccination between countries:
-41 countries still haven’t been able to vaccinate 10% of their populations
-98 countries have not reached 40%
We also see significant inequities between population groups in the same country“-
@DrTedros

World Health Organization (WHO) auf Twitter.

Solidarischer Shutdown: JETZT!

Die Forderungen der Initiative ZeroCovid, die Pandemie mit einer radikalen Niedrig-Inzidenz-Strategie zu bekämpfen, erhalten durch Omikron eine neue Dringlichkeit. Daher sollen sie an dieser Stelle – in etwas erweiterter und der aktuellen Lage angepassten Form – noch einmal wiederholt werden:

  • Die Kontakte sind für eine kurze Zeit radikal einzuschränken. Das ist keine individuelle Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Wir brauchen JETZT eine Notbremse, einen solidarischen Shutdown aller Bereiche, in denen sich die Menschen anstecken können, die aber für unsere Versorgung und unser Leben nicht wichtig sind. Die Menschen, die Not leiden und von einschränkenden Massnahmen besonders betroffen sind, müssen vom Staat unterstützt werden. Die Menschen, die während der Schliessung der Schulen ihre Kinder betreuen müssen, sind durch die öffentliche Hand finanziell zu unterstützen. Niemand darf zurückgelassen werden. Diese Massnahmen sind durch eine Sondersteuer auf Vermögen und Gewinne zu finanzieren.
  • Die Gewerkschaften sollten zu (Online-)Betriebsversammlungen aufrufen, um im Fall hoher Ansteckungsgefahr, Streiks organisieren zu können. Sollte sich die Lage aufgrund extrem hoher Fallzahlen zuspitzen, könnten Streiks weitere Ansteckungen zumindest verzögern. Frühzeitige Arbeitsniederlegungen könnten es darüber hinaus erlauben, den Betrieb insgesamt aufrechtzuerhalten. Sollte die Gefahr der Schliessung wichtiger Infrastrukturen bestehen, müssten die Gewerkschaften eigenständig ein Schichtmodell planen und durchsetzen. Das hiesse beispielsweise, dass die Belegschaften halbiert oder gedrittelt werden und immer nur ein Drittel gleichzeitig arbeitet, dann das nächste Drittel usw. Einige Unternehmen haben solche Modelle im Verlauf der Pandemie bereits getestet.
  • Da das Impfen ein weiterer wichtiger Baustein in der Pandemiebekämpfung ist, sind die Herstellungskapazitäten global auszubauen. Die Behörden müssen alle Einwohner:innen zu einem ersten, zweiten und dritten Impftermin in der Nähe des Wohnorts oder Arbeitsorts proaktiv einladen. Die Menschen sind in allen erforderlichen Sprachen über den individuellen und gesellschaftlichen Sinn des Impfens zu informieren. Persönliche ärztliche Beratung für Menschen die sich unsicher sind, helfen das Impfvertrauen zu erhöhen. Tests müssen ebenfalls in der Nähe des Wohnorts und des Arbeitsorts jederzeit kostenlos verfügbar sein.
  • Alle stark betroffenen Länder des Globalen Südens brauchen dringend internationale Unterstützung – eine Pandemie lässt sich nur international und gemeinsam beenden. Die Patente auf Impfstoffe sind aufzuheben. Die technologisch führenden Länder müssen zu einem Technologietransfer bei der Impfstoff- und Medikamentenherstellung an die armen Länder gezwungen werden. Wirksame, an Omikron angepasste Impfstoffe, müssen global in ausreichender Menge verfügbar sein.

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1 Kommentar

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