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Interview mit der Russländischen Sozialistischen Bewegung: Die revolutionäre Linke in Russland über den Widerstand hinter Putins Front

Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert auch die russische Gesellschaft nachhaltig. Westliche Medien berichten vom russischen Mediengesetz, das die offiziellen Narrativen über den Krieg erfolgreich als die einzige öffentliche Diskursposition etabliert. Aber wie ist die Zensur und Sperrung von regierungskritischen Medienformaten sowie die Inhaftierung und teilweise Verurteilung von Antikriegsaktivist:innen zu deuten? Wo trifft die Repression den Widerstand? Ist sie Ausdruck eines gesamthaften Transformationsprozesses der russischen Gesellschaft? Welche Perspektiven ergeben sich daraus? Wir haben mit Mitgliedern der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD) gesprochen und sie gefragt, wie die revolutionäre Linke in Russland die gegenwärtige Krise einordnet und damit in aktivistischer Hinsicht umgeht.

Interview mit der RSD von João Woyzeck (BFS Zürich); aus antikap

Die RSD bekennt sich zu einem demokratischen revolutionären Sozialismus und vertritt ökosozialistische Positionen. Ihr Ziel ist eine breite klassensolidarische Massenbewegung durch die Zusammenführung linker, gewerkschaftlicher, feministischer und ökologischer Aktivist:innen, um eine lebenswerte Alternativezum System Putin zu erkämpfen, die dann auf der Grundlage von öffentlichem Eigentum und politischer Selbstverwaltung Freiheit bringt. Dazu arbeitet die RSD eng mit neuen Gewerkschaften, engagiert sich medienaktivistisch und setzt sich zudem in Protesten sowie Kultur- und Bildungsprojekten ein.[1]

Die veränderte Ausgangslage für regierungskritischen Aktivismus

Am 4. März 2022 winkten die Duma und der russische Präsident Wladimir Putin eine folgenreiche Änderung des russischen Strafgesetzes (Art. 207.3) und des Ordnungswidrigkeitengesetzes (Art. 20.3.3.) durch. Neu standen somit die öffentliche Verbreitung von Aussagen, die das Regime für Falschinformationen über die sogenannte «militärische Sonderoperation» (darunter nur schon Wörter wie Krieg, Invasion, Angriff) befindet, die vermeintliche öffentliche Diskreditierung der russischen Streitkräfte (auch vermittels unkoordinierter öffentlicher Protestaktionen) sowie die Forderung von Sanktionen gegen Russland unter Strafe. Dabei kann die Strafe von 700’000 Rubeln bis hin zu 3 Jahren Haft reichen. Würden dieselben Handlungen vermittels der eigenen Dienststellung oder aus ideologischer Feindschaft, was auch immer das Regime darunter zählen mag, begangen, sogar 10 Jahre Haft oder 3 Mio. Rubel Strafe.[2]

Der staatliche Dienst für Medien- und Kommunikationsaufsicht Roskomandzor droht Medien bei Berichterstattung, die der Staatsdoktrin widerspricht, Sperrung oder juristische Verfolgung an. Medien, die sich nicht einschüchtern lassen, werden kurzerhand gesperrt. Am 27. Februar wurde eine regelrechte Sperrungswelle (Current Time, Krym.Realii, The New Times, das Online- Student:innenmagazin DOXA, Taiga.Info etc.) losgetreten. Das russische Regime liess es sich auch nicht nehmen, die grossen unabhängigen Medien, Radio Moskwi und den TV-Sender Doschd, zu sperren. Sie würden Aufrufe extremistischer Gruppen verbreiteten, hiess es![3] Nach wiederholter staatlicher Einschüchterung setzte auch die 19 Jahre alte Nowaja Gaseta ihre Publikation bis auf Weiteres aus.[4] Mittlerweile sind über 1’500 Websites oder Links gesperrt.[5]

Die totalitaristische Dominierung des öffentlichen Diskurses macht auch vor der Bildung nicht halt: Schulen der 7.- 11. Klasse erhielten Manuals, um am 1. März eine Sozialkundestunde über die «militärische Sonderoperation» abzuhalten[6], universitäre und Hochschuleinrichtungen halten immer wieder Präsentationen zur geopolitischen «Orientierung» der jungen Erwachsenen.[7]

Regierungskritische Telegramkanäle wie OVD-Info – nach der Sperrung regierungskritischer Medien und Sozialer Medien wie Instagram die letzten unabhängigen russischen Nachrichtenquellen – berichten von unangemeldeten Hausdurchsuchungen (ob nun zur Einschüchterung oder zur Sicherstellung von Informationen), Festnahmen und teils Anklagen wegen der Teilnahme an Protestaktionen, dem Verlust der Arbeitsstelle oder dem Verweis von der Uni aufgrund von Antikriegsaktivismus. Ausserdem wird die Liste angeblicher ausländischer Agent:innen – dem Staat unliebsame Personen des öffentlichen Lebens wie Journalist:inneen oder Historiker:innen – immer länger.[8] Per 16. Mai registriert OVD-Info bereits 15’443 Verhaftungen im Zusammenhang mit Antikriegsaktionen seit Kriegsbeginn.[9]

Die RSD fordert gegenwärtig die Freilassung der Antikriegsaktivistin Aleksandra Skochilenko. Sie wird derzeit in der Untersuchungshaft systematisch schikaniert. Ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft. Das alles nur, weil sie Antikriegspreisschilder in Läden angebracht hatte. Für das Regime Putin Grund genug, um ihr durch politischen Hass motivierte Falschaussagen über die russische Armee anzulasten. Quelle: Telegramkanal der RSD.

Gleichschaltung und gewaltsames Auseinandertreiben der Antikriegsproteste durch Bereitschaftswachen oder die dem Innenministerium direkt unterstehende OMON-Sondereinheit verunmöglichen praktisch Massenversammlungen. Auf dissidenten Telegramkanälen kursieren trotz alle dem jede Woche erneut hunderte Bilder von sogenannten einsamen Mahnwachen, d.h. von mutigen Aktivist:innen, die ein Blatt oder Plakat mit Sprüchen wie bspw. «Putin muss zurücktreten» an öffentlichen Plätzen medienwirksam zur Schau stellen, bevor sie von Sicherheitsbehörden abgeführt und in den Kastenwagen geschmissen werden.

Besondere Aufmerksamkeit gebührt hier dem Feministische Antikriegswiderstand (FAR), der am 8. März Blumen mit blaugelben oder grünen (Symbol des Antikriegsprotests) Schleifen in mehreren russischen Städten durch Frauen an Kriegsmahnmalen niederlegen liess[10] oder am 3. April mehr als 250 Kreuze im Gedenken an die 5’000 ermordeten Zivilist:innen im ukrainischen Mariupol aufstellen liess. Der FAR ist somit ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie die oktroyierte Isolation durchbrochen wird, um die fehlende versammelte Masse durch die Koordination visueller Protestaktionen zu kompensieren![11]

Da die Menschen in Russland nicht mehr zusammenkommen können, überlegen sie sich verschiedene kreative Wege, um kriegs- und regierungskritische Positionen im öffentlichen Raum präsent zu halten:

Manche Personen bringen in Supermärkten eigene Preisschilder wo anstatt der Preisangaben Informationen über den Krieg draufstehen. Die feministische Antikriegswiderstand beschriftet beispielsweise Geldscheine, die ja durch jedermanns Hand wandern, mit kriegskritischen Slogans oder Information zum Angriffskrieg. Grüne Schleifen hängen an allen möglichen Orten, von Ästen bis zu Gitterstäben. Das Anbringen oder Tragen von grünen Schleifen wurde zu einem regelrechten Flashmob, spontan griff dieser Trend um sich und taucht unabhängig immer wieder auf.

Antikriegsaktivist:innen versuchen auf kreativste Weise, die Gleichschaltung des autokraten Regimes zu umgehen. Falsche Preisschilder verbreiten Informationen, die in Russland entweder nicht mehr frei erhältlich sind oder anders geframed werden. Hier: „Die russische Armee bombardierte mit Granaten eine Kunstschule in Mariupol, in der sich etwa 400 Menschen versteckt hielten.“ Quelle: https://theins.ru/news/249948 (03.04.2022).

Solche und ähnliche Protestaktionen werden bereits als Diskreditierung der russischen Armee gewertet und können zu Verhaftungen oder Anklagen führen.[12]

Solche dezentralisierten, unkoordinierten und stillen Protestaktionen haben keine Präsenz, die den Raum physisch ausfüllt. Dennoch erobern sie den öffentlichen Raum für regierungskritische Diskurspositionen.

Wir wollten wissen, wie sich das Leben als progressive und regierungskritische Aktivst:in seit dem 24. Februar verändert hat und welche Perspektiven eine Analyse der Situation innerhalb von Putins autokraten Griff zulässt. Das Interview mit der RSD ist der Versuch eines Einblickes in den Widerstand hinter Putins Front.

Du möchtest mit einer Spende helfen?

Operation Solidarity bietet Hilfe für Menschen aus der Ukraine, die auf der Flucht sind, und unterstützt emanzipatorische Bewegungen in der Ukraine bei der Verteidigung gegen den imperialistischen Krieg: https://operation-solidarity.org/donate/.

Antikriegsfond ist ein vom russischen Antikriegswiderstand selbstorganisiertes Projekt, um Menschen zu unterstützen, die aufgrund einer regierungskritischen oder Antikriegshaltung ihren Job verlieren: https://lefteast.org/%EF%BF%BCfundraising-for-the-russian-anti-war-movement-strikes-layoffs-resignations

Weitere Information zur RSD findest du auf ihrer Webpage: http://anticapitalist.ru

Oder in Englisch auch auf: https://www.facebook.com/russocmovement

Interview mit der RSD

Die westliche Linke kann Druck auf den Teil der linken Presse ausüben, die der russischen und ukrainischen Linken keine Stimme gibt, weil die russische und ukrainische Linke eben keine neutrale Position in Bezug auf den gewalttätigen Konflikt einnimmt und es ablehnt, ihn als „inter-imperialistischen Konflikt“ zu bezeichnen, und weil sie auf eine aktivere Unterstützung der Ukraine drängt. Obwohl die westliche Linke einem solchen Standpunkt nicht unbedingt zustimmen muss, hat es einen kolonialistischen Beigeschmack, die russische und ukrainische Linke zum Schweigen zu bringen […].

Entwicklung der Gesellschaft

João Woyzeck (BFS Zürich): Was erwarten die Menschen in Russland, die dem Putin-Regime kritisch gegenüberstehen, von einem Rückzug aus der Ukraine oder einer Niederlage im Krieg? Gibt es eine (neu) erwachte Aufbruchsstimmung oder ein Tauwetter für eine bessere Zukunft?

RSD: Ich sehe keinen Optimismus im Hinblick auf einen möglichen Rückzug oder eine Niederlage. Ganz im Gegenteil, die vorherrschende Stimmung ist eher negativ. Auch wenn eine mögliche Niederlage oder ein Rückzug das Regime durchaus in Frage stellen könnte.

Es ist richtig, dass autoritäre Regime nach schweren militärischen Niederlagen dazu neigen, zusammenzubrechen. Um die durch militärische Niederlagen geschaffenen Möglichkeiten zu nutzen, müsste es im eigenen Land jedoch ein gewisses Ausmass an oppositionellen Organisationsstrukturen und Ressourcen geben.

Darüber hinaus neigen autoritäre Regime dazu, besonders gewalttätig zu werden, wenn sie existentiell herausgefordert werden oder am Rande eines Zusammenbruchs stehen. Russland erlebt bereits seit einiger Zeit eine Welle sich steigernder Repressionen.

Erlebt das Regime im Krieg eine Niederlage oder wird zum Rückzug gezwungen, wird dies sehr wahrscheinlich dazu führen, dass sich für das herrschende Regime die Wahrnehmung einer Bedrohung im eigenen Land verstärkt und es die Repressionen weiter intensiviert.

Gleichzeitig wurde die organisierte Opposition, die diese Krise zu ihrem Vorteil nutzen könnte, seit Jahren systematisch unterdrückt. Zwar könnte das Zusammentreffen der militärischen Niederlage, der Sanktionen, der Spannungen innerhalb der Elite und des Drucks der Opposition eine gewisse politische Instabilität hervorrufen, die einen Regimewechsel möglich erschienen lässt. Aber selbst wenn dies geschieht, ist es wahrscheinlich, dass darauf noch brutalere Repressionen folgen werden.

Man darf dabei eines nicht vergessen. Was auch immer als Ergebnis des Rückzugs geschehen wird, die Menschen sind sich darüber im Klaren, dass das Regime der Ukraine und auch dem eigenen Land bereits enormen Schaden zugefügt hat. Dieser Schaden ist bereits entstanden, und auch ein möglicher Regimewechsel, wie wahrscheinlich er auch sei, kann ihn nicht mehr rückgängig machen.

Manche regierungskritische Beobachter:innen in Russland, darunter die RSD, befürchten, dass Russland in einen Faschismus sinken könnte. Könnt ihr die Tendenzen beschreiben, die ihr als faschistisch begreift?

Russland tritt unserer Meinung nach gerade in eine Phase der Faschisierung ein.

Aus aktueller Veranlassung muss gesagt werden, dass die Kriegsverbrechen[13], die mit dem Zurückdrängen der russischen Truppen aus Butscha ans Licht kamen, vielleicht in einem neuen, düstereren Licht betrachten werden müssen. In der russischen Zeitschrift RIA Nowosti[14], Teil des Staatsunternehmens Rossija Sewodnjaging, ging Timofej Sergejzew, ein russischer politischer Stratege und Kolumnist, bereits einen Schritt weiter in der Diskursformierung über den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sergejzew bot nicht bloss ein alternatives Narrativ, um den Angriff als Befreiung der Ukraine zu rechtfertigen, sondern rechtfertigte Kriegsverbrechen gegen die Ukraine. Konkret wurde zum Ausdruck gebracht, dass der Grossteil der Ukraine und ihrer Bevölkerung nazistisch sei, weswegen es nicht mehr länger darum gehe, die ukrainische Bevölkerung von ihren nazistischen Unterdrücker:innen zu befreien. Wirkliche «Entnazifizierung wird unweigerlich auch eine Ent-Ukrainisierung sein». Das Narrativ der Entnazifizierung wird also nicht mehr genutzt, um einen militärischen Angriff zu rechtfertigen, sondern um die ukrainische Bevölkerung zu dehumanisieren.

Um auf die eigentliche Frage zu kommen: Wenn von einer Faschisierung Russlands die Rede ist, darf dabei nicht zu sehr an den klassischen Faschismus der 1920er und 1930er in Deutschland und Italien gedacht werden. Es ist hilfreich, die gegenwärtigen Entwicklungen der Regierung vom Konzept des Post-Faschismus, her zu verstehen, wie ihn Enzo Traverso definiert[15]. Es handelt sich demnach nicht um eine Massenbewegung von unten und von ausserhalb der institutionalisierten Politik, die den Staat einzunehmen und zu stürzen versucht. Der Post-Faschismus besitzt keine signifikante Massenbasis und ihm fehlt auch das disruptive Moment. Es handelt sich um eine Faschisierung von Oben und aus dem Inneren der institutionalisierten Politik.

Tatsächlich ist das russische Regime losgelöst von selbstorganisierten Bewegungen in der Bevölkerung.

Man kann gar beobachten, wie das Regime selbst rechtsextreme ausserparlamentarische Organisationen, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine befürworten, unterdrückt, weil es fürchtet, diese könnten ihrer Kontrolle entgleiten.

Ihr sagt, es handle sich nicht um die Wiederkehr des klassischen Faschismus. Warum sprecht ihr nicht einfach von Autoritarismus? Anders gefragt: Was ist das spezifische an der post-faschistischen Entwicklung in Russland, das diese von anderen autoritären Regimen unterscheidet?

Es gab auch für die Zivilbevölkerung eingegrenzte Gesellschaftsbereiche, um sich frei zu artikulieren. Was wir jetzt sehen, ist der Übergang von einer autoritären Form der Herrschaft zu einer totalitären Form der Herrschaft: jegliche von der offiziellen Propaganda abweichende Meinung wird kriminalisiert.

Wir finden sicherlich Merkmale, wie sie Enzo Traverso beschreibt: Verteidigung imaginierter traditioneller Werte, die Rückbesinnung auf einen protektionistischen Nationalstaat gegen den Globalismus, eine Art wirtschaftsliberalen Sozialdarwinismus.

Gleichzeitig ist dasselbe Regime ideologisch aber auch sehr eklektisch und bietet keine strukturierte Ideologie. Die intellektuellen Wurzeln des gegenwärtigen Regimes sind eine wichtige und komplizierte Frage, die einer detaillierten Antwort bedarf.

Allerdings kann uns auch Karl Polanyis Definition[16] des klassischen Faschismus helfen, den Post-Faschismus des Putin-Regimes verstehen. Er ist gewissermassen ein Reflex des bedrohten Kapitalismus. Polanyi beschrieb den Kapitalismus als latent faschistisch. Ihm wohne ein innerer Widerspruch inne, insofern, als dass das egalitäre Versprechen gleicher politischer Rechte in einem Spannungsverhältnis mit Klassenvorrechten steht, die mit einem System persönlichen Profits verbunden sind. 

Vor diesem Hintergrund erscheint die Faschisierung des russischen Regimes auch nicht als plötzlicher Bruch, sondern als die dramatische Zuspitzung der Existenz eines politischen Systems, das seit Mitte der 1990er Russland beherrscht. Durch die innerrussische und internationale gesellschaftliche Isolation des Regimes sowie durch das Fehlschlagen des beabsichtigten raschen Blitzeroberungskrieges geriet das Regime in die Defensive, was wiederum die reaktionäre Veranlagung des Systems verstärkte. Auch der Krieg selbst ist seinerseits mitunter aus dem Umstand erwachsen, dass der Übergang des postsowjetischen Russlands zum freien Markt und die damit verbundene gesellschaftliche Atomisierung zu internen Krisen geführt hat und das Regime diesen sozialen Konflikt durch militärische Aggressionen nach Aussen wenden musste.[17]

Wichtig ist zu sagen, dass das Regime eine starke reaktionäre und antirevolutionäre Note besitzt. Das Regime wandelt sich gerade zu einem System, welches auf die vollkommene Unterdrückung der Gesellschaft abzielt und die Zerstörung jeglicher Formen der sozialen Selbstorganisation in Russland (Gewerkschaften, Grassroots-Bewegungen, linke Organisationen etc.) mit einer militärischen Aggression nach Aussen verknüpft.

Aus dem Telegramchannel «NEWOJNA»:
In den Müll mit dem Abfall
mit dem Krieg
dem Faschismus
dem Imperialismus!

Auch kulturell lässt sich beobachten, dass eine neue Phase oder Intensität erreicht worden ist. Bisher war es immer so, dass es gewissermassen kontrollierte und abgesteckte Räume innerhalb der gelenkten «Demokratie» Putins gab. Es gab Blockparteien in der Duma, die nicht in allen Punkten mit Putin oder der politischen Partei Jedinaja Rossija (dt. Einiges Russland) einiggehen mussten. Es gab auch für die Zivilbevölkerung eingegrenzte Gesellschaftsbereiche, um sich frei zu artikulieren. Was wir jetzt sehen, ist der Übergang von einer autoritären Form der Herrschaft zu einer totalitären Form der Herrschaft: jegliche von der offiziellen Propaganda abweichende Meinung wird kriminalisiert.

Ihr sprecht mit Polanyi und Traverso von der reaktionären Antwort von Oben auf ein sich im Scheitern befindliches System. Inwiefern betrifft diese Faschisierung auch andere Bereiche der russischen Gesellschaft?

In der klassischen politischen Theorie, insbesondere bei Hannah Arendt, findet sich eine interessante Darstellung der Merkmale des Totalitarismus, die für das gegenwärtige Russland interessant sein kann. Arendt stellt heraus, dass es bei Totalitarismus nicht nur um die Politisierung der Gesellschaft geht, also alle zu treuen Nazis zu machen, sondern vor allem um die Depolitisierung der Gesellschaft. Und wenn wir uns das gegenwärtige Russland anschauen, fällt auf, dass immer mehr russische Bürger:innen Debatten über den Krieg vermeiden wollen, ihre eigenen Bedenken unterdrücken wollen, sich aus ernsthaften, tiefgehenden oder potentiell kontroversen Gesprächen mit Arbeitskolleg:innen oder Nachbar:innen raushalten. Die Propaganda des Regimes will also gerade nicht Menschen zu politischem Engagement provozieren, sondern ihnen Angst machen vor tiefen Gesprächen.

Russische Propaganda ist gerade das mediale Schlagwort. Wie funktioniert diese russische Propaganda?

Der vorherrschende gesellschaftliche Konsens ist bei der Meinungsbildung besonders wichtig. […] Die Meinungsumfragen, die immer wieder veröffentlicht werden, um Putins Beliebtheit oder die allgemeine Unterstützung für den Angriffskrieg zu demonstrieren, geben bspw. an, dass man mit seiner Ansicht allein dasteht und entmutigen regierungskritische Meinungsträger:innen, sich offen zu äussern, oder bewegen unsichere Personen in eine bestimmte Tendenz.

Um die Propaganda des Kremls zu verstehen, muss man sehen, dass es nicht nur um direkte Überzeugungsarbeit geht. Direkte Überzeugung ist womöglich der am wenigsten effektive und am wenigsten wichtige Aspekt russischer Propaganda. Denn die Übernahme von Inhalten bedingt ein aktives kognitives Engagement. In Autokratien aber ist der Impuls, sich aktiv zu engagieren, ungemein kleiner. Denn die grundlegende Erfahrung in Autokratien ist, dass politisches Engagement ohnehin keinen Einfluss auf das Leben hat und keine Veränderung bringt. Propaganda produziert politische Nichtbeteiligung – lebt aber auch von politischer Nichtbeteiligung. Propaganda leistet also nicht nur Überzeugungsarbeit, sondern erzeugt auch politischen Zynismus. Da politische Beteiligung sowieso nichts bringt und Politik als manipulativ wahrgenommen wird, depolitisieren sich Menschen. Dieser Passivität der russischen Bürger:innen entspricht auch die Handlungsweise der Regierung. Der Staat versteht sich mehr auf Demobilisierung denn auf Mobilisierung. Teilweise werden auch selbstorganisierte Grass-Roots-Bewegungen, die die offizielle Narrative unterstützen, nicht gerne gesehen. Denn sie sind schwierig zu kontrollieren. Mit seiner Propaganda möchte das Regime weniger die eigene Ansicht in den Köpfen der Bürger:innen verankern, als vielmehr die Bevölkerung davon abschrecken, politisch aktiv zu werden, notfalls auch zeigen, wozu der Staat repressionsmässig fähig ist.

Eigentliche Überzeugungsarbeit möchte das Regime nicht bei gewöhnlichen Menschen leisten, sondern indem es die Ansichten von Aktivist:innen, die als Unterstützer:innen des Staates agieren oder der Staatsdoktrin nahestehen, verstärkt.

Der Staat springt hier ein, indem er Aktivist:innen, die beispielsweise kritisch gegenüber der NATO oder dem Westen veranlagt sind, mit kohärenten Schemata unterstützt, d.h. diffuse Ressentiments oder halbfertige Ideen durch konkrete Narrative vervollständigt und das rhetorische Werkzeug bietet, um argumentieren zu können.

Der vorherrschende gesellschaftliche Konsens ist bei der Meinungsbildung besonders wichtig. D.h. man konstruiert die Grenzen des gesellschaftlich Sagbaren, der sozial erwünschten Meinung sehr stark in der Wechselwirkung mit anderen Positionen und der dadurch suggerierten Standartmässigkeit. Die Meinungsumfragen, die immer wieder veröffentlicht werden, um Putins Beliebtheit oder die allgemeine Unterstützung für den Angriffskrieg zu demonstrieren, geben bspw. an, dass man mit seiner Ansicht allein dasteht und entmutigen regierungskritische Meinungsträger:innen, sich offen zu äussern, oder bewegen unsichere Personen in eine bestimmte Tendenz.

Schaut man sich die Kommunikationsmittel der Kremlpropaganda an, merkt man, dass es sich um eine hybride Propagandaführung handelt: Moderne internetbasierte Soziale Medien und die traditionellen Nachrichtenformate wie Zeitungen und Fernsehen spielen zusammen.

Dabei sind auch im Internet besagte indirekten Effekte der Propaganda zu erkennen. So dienen Internetbots nicht der direkten Überzeugungsarbeit, weil sie ohnehin relativ leicht als Bots auszumachen sind, sondern verbessern bspw. das Ranking bestimmter Diskurspositionen in Suchmaschinen. Sie sorgen dafür, dass das staatlich abgesegnete Narrativ rascher zugänglich ist.

Auch Trolle verfolgen nicht das primäre Ziel, Personen in den Sozialen Medien von ihren Ansichten zu überzeugen. Sie sind zunächst einmal dazu da, positive Kommentare zu offiziellen Narrativen zu liefern. Trolle haben allerdings den Effekt, dass sie andere Personen davon abschrecken, die eigene Meinungen zu äussern; sie entmutigen, Kritik an der offiziellen Erzählweise zu äussern.

In diese Manipulation stimmt auch die in Russland weit verbreitete Suchmaschine Yandex ein. Yandex setzt bestimmte Ergebnisse systematisch herab, weswegen es bedeutend unwahrscheinlicher als etwa auf Google ist, Informationen über Proteste oder Kritik am Staat rasch zu finden.

Die so gelenkte Prominenz gewisser Narrativen in Online-Medien fällt mit den Darstellungen in den traditionellen Medien zusammen. Ein weiterer wichtiger Aspekt der russischen Propaganda ist eine Art Synchronisationseffekt. Newsaggregate, d.h. verschiedene Medien (Social media, Zeitungen, TV-Sendungen etc.) befördern (scheinbar unabhängig voneinander) dieselbe Narrative. Diese scheinbar zufällige Übereinstimmung auf verschiedenen Kanälen bestätigt für viele Menschen die Glaubwürdigkeit der offiziellen Meinung. In der Psychologie würde man von «Konsistenz als Heuristik» sprechen: wenn es auf allen Kanälen behauptet wird, muss da ja was dran sein! Gerade Menschen, die Medieninhalte nicht kritisch hinterfragen oder auch nicht wirklich wissen, wo alternative Informationen zu finden sind, bemessen Glaubwürdigkeit danach, wie standardmässig gewisse Diskurspositionen oder Narrativen sind.

Organisation und Aktivismus

Als Sergeij Zukasow wie viele andere unabhängige Kandidat:innen 2019 von den Wahlen zur Moskauer Stadtduma ausgeschlossen wurde, ging die RSD gegen die sogenannte gelenkte Demokratie auf die Strasse.

Was den praktischen Aktivismus der RSD betrifft: Was hat sich nach dem 24. Februar verändert? Wie organisiert und mobilisiert ihr euch jetzt?

Unser derzeitiges Ziel ist es, mit den Arbeiter:innen- und Student:innenorganisationen sowie den Menschenrechtsorganisationen in Kontakt zu treten.

Wir glauben, dass diese Dezentralisierung die Sicherheit für die RSD erhöhen und gleichzeitig unseren Aktivist:innen helfen wird, wirkliche Organisationsarbeit zu leisten.

Soweit wir die Nachrichten aus den westeuropäischen Ländern verfolgen, gab es seit den imposanten Massenprotesten vom 6. März immer mehr einsame Mahnwachen bzw. Streikposten, bei denen Menschen einzeln oder in sehr kleinen Gruppen Plakate hochhielten, aber immer weniger Massenproteste. Ist das ein Zeichen für eine Atomisierung der Antikriegsbewegung?

Man sollte Atomisierung und Dezentralisierung nicht verwechseln, da Ersteres eine negative Konnotation birgt. Es gibt tatsächlich weniger Versammlungen und keine Organisation, die die Antikriegsbewegung koordinieren will. Und doch gibt es jeden Tag tonnenweise Berichte aus jeder russischen Region, aus vielen Universitäten und Unternehmen und von individuellen Geschichten des Widerstands. Das Wichtigste ist, dass heutzutage alles öffentlich wird. Um die Öffentlichkeitsarbeit zu fördern, haben unsere Aktivist:innen einen sozialistischen Telegramkanal namens NEWOJNA [НЕВОЙНА auf Russisch; NOTWAR] eingerichtet, der diese dezentralen Aktionen bündelt. Auch wenn die Aktionen unkoordiniert bleiben, ist das Gefühl der kollektiven Verbundenheit, des massiven Widerstands da. Man muss sich nur mal anschauen, wie die Leute auf die Anti-Kriegs-Performance der ehemaligen Redakteurin des Perwy Kanal (dt. Erster Kanal), Marina Ovsiannikova, reagiert haben. Sie tat es allein und löste dennoch bei Millionen ein Gefühl der Solidarität aus.

Um die Öffentlichkeitsarbeit zu fördern, haben unsere Aktivist:innen einen sozialistischen Telegramkanal namens NEWOJNA [НЕВОЙНА auf Russisch; NOTWAR] eingerichtet, der diese dezentralen Aktionen bündelt. 

Gibt es derzeit irgendeine Art von aktivistischer Solidarität oder Zusammenarbeit mit progressiven Gruppen oder Menschen in der Ukraine?

Wir stehen in ständigem Kontakt mit unseren ukrainischen Genoss:innen des Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) und arbeiten an gemeinsamen Erklärungen und Veranstaltungen. Einige unserer in Europa ansässigen Genoss:innen haben geholfen, Spenden für die ukrainische Linke zu sammeln. Wir verbreiten zudem ihre Texte und Beiträge auf Facebook, da dies für sie und die Welt von entscheidender Bedeutung ist [Link zur englischsprachigen Seite findet sich am Ende des Artikels].

Die BFS ist solidarisch mit dem Sozialnyj Ruch, der in den ukrainischen Widerstand involviert ist, und mit der RSD, die Teil des russischen Antikriegswiderstands ist. Die BFS steht in engem Kontakt mit beiden und hat ihr Manifest veröffentlicht.

Eine Frage, die sich viele friedensbewegte und Linke stellen ist: Wie kann den Ukrainer:innen geholfen werden? Was habt ihr für Ratschläge?

Anders als 2014 spielt die Rechte im heutigen Krieg, der zum Krieg der gesamten Bevölkerung geworden ist, keine so zentrale Rolle mehr[18] – und unsere Genoss:innen der antiautoritären Linken in der Ukraine, Russland und Belarus kämpfen gemeinsam gegen den russischen Imperialismus [Links zur Unterstützung der ukrainischen oder russischen antiautoritären Linken findet sich am Anfang des Artikels].

Abgesehen von Spenden sollte man daran arbeiten, die Sichtbarkeit der antiautoritären Linken in der Ukraine und in Belarus, die gerade jetzt mit der Waffe in der Hand kämpfen, zu erhöhen. Es empfiehlt sich, Interviews mit ihnen zu führen, da sie darum ringen, Gehör zu finden. Was die westliche Linke anbelangt, so schlagen wir vor, folgende Forderungen zu erheben: Unterstützung für alle Geflüchteten in Europa unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Erlass der Auslandsschulden der Ukraine, Sanktionen gegen russische Oligarch:innen.

In West- und Mitteleuropa hört man fast nur von Nawalny und Chodorchovsky, wenn es um die russische Opposition geht. Welche Rolle spielen progressive und linke oder gar marxistische Ideen und Organisationen? Wo können linke Gruppen ihren spezifischen Platz innerhalb der Opposition finden und was zeichnet die Linke aus?

Marxistische Ideen haben in Russland eine historische Chance auf eine Neubelebung. Wir sehen, dass die Preise steigen, die Entlassungen Hunderttausende von Menschen ohne Existenzgrundlage zurücklassen. Die aktuelle Kriegssituation kann auch aus einer klassenbasierten Perspektive verstanden werden: ein beträchtlicher Teil der russischen Soldaten kommt aus armen Regionen, für sie stellt die Armee die einzige soziale Aufstiegsmöglichkeit dar.

Die Rolle von Marxist:innen besteht darin, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten und eine breite Agitation zu betreiben. Die RSD will zeigen, dass dieser Krieg wie immer von den Ärmsten bezahlt werden wird. Wir veröffentlichen umfassend auf unserem NEWOJNA-Kanal auf Telegram und entwickeln Taktiken für die visuelle Agitation [Aktionen, um kriegskritische Positionen oder Informationen über den Krieg trotz medialer Gleichschaltung und gewaltsamer Repression an öffentlichen Räumen zirkulieren zu lassen; Anm. d. Red.] an allen Orten.

Gleichzeitig sehen wir unsere Rolle darin, Verbindungen mit Linken in der ganzen Welt herzustellen, einschliesslich der Ukraine, USA, Spanien und Grossbritannien. Wir sehen diese Verbindungen jetzt als entscheidend an, da die überwältigende Mehrheit der Weltgemeinschaft Putin für die kriegerische Aggression verantwortlich macht. Dies ist eine gute Wende und eine gute Chance für die russische Linke, um Druck auf die Regierung auszuüben.

Wir sollten dabei jedoch nicht vergessen, dass die ausländische kapitalistische Elite 20 Jahre lang mit Putin kooperiert hat, und es ist dies die Aufgabe der globalen Linken, die Regierungen überall unter Druck zu setzen. Praktisch sollten Linke die Regierungen dazu drängen, die Konten von 20’000 russischen Milliardär:innen zu sperren, wie Thomas Piketty kürzlich vorgeschlagen hat.

Nicht zuletzt sollten Linke ihre eigene Vision der internationalen Beziehungen und der internationalen Sicherheitsarchitektur entwickeln, die eine multilaterale nukleare Abrüstung (die für alle Atommächte verbindlich sein wird) und die Institutionalisierung internationaler wirtschaftlicher Antworten auf jede imperialistische Aggression in der Welt beinhalten sollte.

Internationale Politik

Führte der Angriffskrieg gegen die Ukraine bei euch zu einer Neubewertung der geopolitischen Rolle der Putin-Regierung sowie der NATO?

Wir haben gesehen, wie Putins Imperialismus in Aktion aussieht. In den 2000ern und 2010ern wurden die Aktionen des russischen Staates auf der Weltbühne von drei verschiedenen Vektoren geleitet. Einerseits institutionalisierte und konsolidierte Putin die Einbindung der russischen Wirtschaftselite in die Weltwirtschaft. Andererseits versuchte die russische Führung, die Rolle eines regionalen imperialen Zentrums zu spielen, das die ehemaligen Sowjetrepubliken kontrolliert, unter anderem durch die Schaffung wirtschaftlicher und politischer Zusammenschlüsse und Bündnisse wie der Eurasischen Wirtschaftsunion. Und schliesslich versuchte Putin, die Weltordnung durch Hackerangriffe, die Finanzierung von rechtsextremen Parteien in Europa etc. zu destabilisieren.

Es war Putins Ziel, im Jahr 2024, wenn die Präsidentschaftswahlen anstehen, Länder wie Kasachstan, Armenien, Belarus und die Ukraine um jeden Preis an die Russische Föderation zu binden oder zumindest die Möglichkeit auszuschliessen, dass sie sich in die westlichen militärisch-politischen internationalen Strukturen eingliedern. Nachdem die Probleme mit Armenien, Kasachstan und Belarus gelöst waren, hat die russische Führung, bewaffnet mit einer nationalistisch-imperialen Ideologie, einen Krieg gegen die Ukraine begonnen.

Allerdings hat es noch nicht den Anschein, als habe Putin mit diesen Aktionen alle seine Ziele erreicht. Die westlichen Länder und die NATO haben sich nicht zerstritten, sondern sich gegen Putin verbündet, und es wurden noch nie dagewesene Sanktionen gegen Russland verhängt. Gleichzeitig hat der Westen der Ukraine nicht die Unterstützung gewährt, auf die sie gezählt hatte. In gewisser Weise haben sich also die Strategien der beiden Imperialismen geändert. Der russische Imperialismus begann einen Eroberungskrieg, während die NATO, ohne dabei den Nicht-Block-Status der Ukraine infrage zu stellen, die bisherige Linie der Schwächung Russlands fortsetzte, ohne zu einer offenen militärischen Intervention überzugehen: Sanktionen, Waffenlieferungen sowie umfassenden ideologischen Krieg gegen die russische Führung.

Heute ist es wichtig, die alten, weitgehend von der Linken geteilten Stereotypen zu überdenken, wonach jede Diktatur, die sich der NATO widersetzt, wenn sie schon nicht Unterstützung verdient, so doch zumindest das kleinere Übel darstellt. Das Putin-Regime ist, obwohl es weltweit viel schwächer als die Vereinigten Staaten und die NATO ist und nicht alle fünf Punkte der Imperialismusdefinition von Lenin erfüllt [Für Anm. d. Red. dazu siehe Fussnote 19], eine primäre Bedrohung – zumindest für seine Nachbarn. Zu einer solchen Bedrohung wurde es bei dem Versuch, in die erste Riege der Weltimperialisten aufzusteigen. Dieser Wettstreit, der die Welt an den Rand eines Atomkriegs gebracht hat, muss gestoppt werden. Das Angriffskrieg war ein gewaltiger Fehler des russischen Regimes, und das Projekt der multipolaren Welt, das weitgehend mit dem Aufstieg von Putins Russland verbunden war, ist gescheitert. Das heisst aber nicht, dass wir zur früheren unipolaren Welt unter Führung der NATO zurückkehren oder uns mit der Parität zwischen den USA und China als den beiden derzeit stärksten Mächten zufriedengeben sollten. Das Ergebnis dieses Krieges sollte ein Kurs sein, der auf eine radikale Reduzierung der Rolle jeglicher Militärblöcke und die Erneuerung und Demokratisierung internationaler Strukturen wie der UNO abzielt und dabei ein neues Sicherheitssystem anstrebt, das im Interesse aller Länder wirkt und sie nicht dazu zwingt, sich dem einen oder anderen Machtzentrum anzuschliessen.

Wie kann den Russ:innen, die der russischen Regierung kritisch gegenüberstehen, geholfen werden? Wie können westliche Progressive und Linke dabei helfen?

1. Finanzielle Unterstützung

Die westlichen Linken können diejenigen der russischen Linken unterstützen, die aus Angst vor Verfolgung aus Russland fliehen mussten. In den meisten Fällen sind sie ohne Mittel zur Unterstützung. 

2. Mentoring

Wir müssen anerkennen, dass die russische Linke nicht über genug Erfahrung im politischen Kampf verfügt und dass sie praktische Ratschläge von reiferen Aktivist:innen braucht, wie man eine starke Gewerkschaft oder Student:innenvereinigung organisiert, wie man unter der Arbeiter:innenklasse und den Student:innen agitiert, wie man die Sicherheit der eigenen Bewegung aufrechterhält, usw. Die russische Linke könnte bspw. von kostenlosen Online-Workshops und -Schulungen profitieren, bei denen die Teilnehmer ihre Erfahrungen austauschen können.

3. Hilfe bei Informationskampagnen 

Die westliche Linke kann Druck auf den Teil der linken Presse ausüben, die der russischen und ukrainischen Linken keine Stimme gibt, weil die russische und ukrainische Linke eben keine neutrale Position in Bezug auf den gewalttätigen Konflikt einnimmt und es ablehnt, ihn als „inter-imperialistischen Konflikt“ zu bezeichnen, und weil sie auf eine aktivere Unterstützung der Ukraine drängt. Obwohl die westliche Linke einem solchen Standpunkt nicht unbedingt zustimmen muss, hat es einen kolonialistischen Beigeschmack, die russische und ukrainische Linke zum Schweigen zu bringen und nur der Expertise aus Übersee in Bezug auf den Krieg zu vertrauen.

Vielen Dank für dieses sehr aufschlussreiche Interview! Wir wünschen euch und der russischen Opposition gegen den Krieg und gegen Putin ganz viel Stärke und Durchhaltevermögen. Wir sind jeden Tag aufs Neue beeindruckt vom ungebrochenen Widerstandswillen und hoffen, dass sich mehr Linke weltweit offen zeigen für den Erfahrungsschatz der russischen Antikriegsbewegung.

In Solidarität mit der RSD und den anderen progressiven regierungskritischen und kriegsfeindlichen Gruppen, die BFS.


[1] Abrufbar auf: http://anticapitalist.ru/about_rsm/ (o.J.).

[2] Vgl. 2022 Laws Establishing War Censorship and Prohibiting Anti-War Statements and Calls for Sanctions. Abrufbar auf: https://en.wikipedia.org/wiki/Russian_fake_news_laws (10.04.2022).

[3] Abrufbar auf: https://ovdinfo.org/articles/2022/03/02/zayavlenie-ovd-info-v-svyazi-s-blokirovkami-smi (02.03.2022).

[4] Abrufbar auf: https://www.fontanka.ru/2022/03/28/70537676/ (28.03.2022).

[5] Abrufbar auf: https://roskomsvoboda.org/post/ban-1500-ssylok/ (01.04.2022).

[6] Abrufbar auf: https://zona.media/article/2022/02/28/propaganda-lessons (28.02.2022).

[7] Abrufbar auf: https://news.doxajournal.ru/novosti/vuzy-okazyvayut-davlenie-na-studentov-iz-za-vojny-s-ukrainoj-hronika/?utm_source=tg&utm_medium=soc&utm_campaign=v-sankt-peterburgskom-gosudarstvennom-in&utm_content=59739034 (seit 25.02.2022, wird upgedatet).

[8] Abrufbar auf: https://www.sibreal.org/a/minyust-priznal-inoagentami-zhurnalistov-dozhdya-the-bell-i-istorika-evgeniya-ponasenkova/31781857.html (01.04.2022).

[9] Abrufbar auf: https://ovdinfo.org/ (wird upgedatet).

[10] Abrufbar auf. https://www.themoscowtimes.com/2022/03/09/russia-default-on-debt-is-imminent-fitch-a76833 (09.03.2022).

[11] Abrufbar auf: https://www.themoscowtimes.com/2022/04/05/russian-activists-find-ways-to-protest-despite-the-bans-a77213 (05.04.2022).

[12] Abrufbar auf: https://semnasem.org/articles/2022/04/05/tihij-protest-kak-zhiteli-regionov-bez-slov-reagirovali-na-sobytiya-v-ukraine (05.04.2022).

[13] Nachdem die Belagerung Butschas, einer Stadt im Oblast Kiew und ein strategischer Punkt für den Vormarsch der russischen Armee auf Kiew, von der russischen Armee aufgegeben werden musste, tauchten ab dem 1. April Foto- und Videomaterial auf. Dieses Material zeugt von den grausamen Szenen, die sich unter der Belagerung der Stadt abgespielt hatten. Auf den Strassen lagen Tote, Leichen waren z.T. verstümmelt und vebrannt worden, Leichen von Zivilist:innen, die mit auf den Rücken gefesselten Händen aufgereiht waren, waren nächster Nähe erschossen worden (Indiz für Massenerschiessungen ohne Verfahren), gemäss einer Untersuchung von Radio Free Europe war auf einem Campingplatz eine Folterkammer eingerichtete worden, Mädchen ab 14 berichten, vergewaltigt worden zu sein. Wie viele Menschen Opfer der Massaker wurden, ist unklar. Unter Berufung auf ein Interview mit dem Bürgermeister von Butscha berichtete Reuters am 12. April von 403 Toten. In einem Artikel von BBC News war von mindestens 500 Toten die Rede.

Es handelt sich ganz klar um Kriegsverbrechen. Ob auch von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen (Kriegsverbrechen als Teil eines weit verbreiteten Usus oder als systematische Staatspolitik) werden kann, muss der Internationale Strafgerichtshof prüfen. Abrufbar auf: https://en.wikipedia.org/wiki/Bucha_massacre#After_the_Russian_withdrawal (15.04.2022).

[14] Im Artikel finden sich auch Aussagen wie: «Der Ukrainismus ist eine künstliche antirussische Konstruktion, die keinen eigenen zivilisatorischen Inhalt hat, ein untergeordnetes Element einer fremden und fremden Zivilisation. Die Entstaatlichung allein wird für die Entnazifizierung nicht ausreichen – das Bandera-Element ist nur ein Darsteller und eine Leinwand, eine Verkleidung für das europäische Projekt der Nazi-Ukraine, daher ist die Entnazifizierung der Ukraine auch ihre unvermeidliche Enteuropäisierung.»

Siehe den Artikel, abrufbar auf: https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html (03.04.2022; aktualisiert: 05.04.2022).

[15] Enzo Tarverso ist ein italienischer Historiker und Journalist und ehemaliges Mitglied der trotzkistischen Ligue communiste révolutionnaire (LCR). Er hat zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, unter anderem zum Holocaust, Beiträge zu einer differenzierten Betrachtung des marxistischen Ansatzes zum Holocaust und zur nationalen Frage sowie Beiträge zu faschistoiden Phänomenen der Gegenwartsgeschichte. Abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Enzo_Traverso (14.01.2022).

[16] Karl Polanyi (1886 – 1964) war ein österreichisch-ungarischer Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler. Sein Buch The Great Transformation gilt heute als eines der historischen Standardwerke der Soziologie. Darin beschreibt Polanyi die Entstehung der Nationalstaaten und der Marktwirtschaft sowie die Wechselwirkung zwischen beiden als die zentralen Eckpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. und 20. Jhdt. Verfügbar unter: https:// de.wikipedia.org/wiki/Karl_Polanyi (30.03.2022).

Polanyi kritisierte die neoklassische Konzeption der Wirtschaft. In seinem Werk The Great Transformation wandte er sich gegen das fast mystische Vertrauen in die Selbstregulierung des Marktes und betonte die staatliche Intervention in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Verfügbar unter: https:// de.wikipedia.org/wiki/Große_Transformation (13.01.2022).

[17] Polanyi warnte davor, den Faschismus kulturhistorisch zu erklären, d.h. bspw. durch nationale Mentalitäten. Polanyi warnte auch davor, den Faschismus zu sehr als politisches Phänomen zu interpretieren. Für Polanyi basierten alle Gesellschaftsformen auf ökonomischen Voraussetzungen. Für Polanyi war das Besondere an der Wirtschaft marktliberaler Gesellschaften, das sie auf dem Eigennutzen des Einzelnen basierte, was er als unnatürlich ansah. In dem Sinne war der Faschismus für Polanyi die spezifische politische Möglichkeit eines in die Krise geratenen wirtschaftsliberalen Systems, um den Markt und die entsprechende Gesellschaft wieder zu stabilisieren.
In diesem Zusammenhang bemerkte Polanyi, dass marktliberale Gesellschaften nach immer mehr Profit streben, aber gleichzeitig auch versuchten, die Bürger:innen vor den schädlichen Auswirkungen eben dieses Profitwirkens schützen.
Wenn diese Tendenzen in Konflikt geraten, bietet sich der Faschismus als politische Lösung an, indem er auf Profit und wirtschaftliche Stabilität drängt und dafür die bürgerlichen Freiheiten aufgibt.

Oleg Komlik hat die zentralen Auszüge aus Polanyis The Great Transformation in einem Artikel auf seiner Webseite „Economic Sociology & Political Economy“ zusammengestellt. Abrufbar unter: https://economicsociology.org/2017/01/22/karl-polanyi-on-the-rise-of-fascism-and-market-economy/ (n.d.)

[18] Die RSD verweist uns auf den Artikel des ukrainischen Aktivisten Taras Bilous, den wir auf sozialismus.ch ins Deutsche übersetzt haben. Aufrufbar auf: https:// sozialismus.ch/international/2022/die-linkeim-westen-muss-umdenken/ (16.03.2022).

[19] Lenin definierte Imperialismus nach 5 Punkten:

«1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses Finanzkapitals; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.» Aufrufbar auf: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/kapitel7.htm (22.07.2008). [URL muss manuell eingegeben werden, um die Seite aufzurufen!]

Russlands Wirtschaft basiert entgegen dem Lenin’schen Modell vor allem auf der Ausfuhr von Waren (nicht von Kapital in periphere Regionen der Erde), d.h. vor allem von fossilen Rohstoffen wie Öl und Gas. Gleichzeitig kann Russland aber auch nicht einfach als von den USA und anderen westlichen Staaten des Globalen Nordens abhängiger Staat beschrieben werden. Dies zeigt nur schon der jahrzehntelange Konflikt zwischen Russland und dem Westen auf diplomatischer wie (wenn auch nicht direkter) militärischer Ebene. Zudem dehnt Russland seinen Einfluss über andere Staaten in und ausserhalb von Europa aus, auch wenn sich dies vor allem auf die militärische Stärke Russlands stützt und nicht auf den Anteil am globalen Finanzkapital.

Ich bin trotz meiner Kritik an Lenin (seine Politik entfernte sich ab 1918 sukzessive von seiner rätedemokratischen Vision in Staat und Revolution) immer noch der Ansicht, dass seine Imperialismus-Definition weiterhin ein nützliches Analysewerkzeug bietet.

Gerade vor dem Hintergrund besagter Definition finde ich es nicht richtig, Putins Russland den Status als imperialistischer Staat abzusprechen, zumindest nicht in undifferenzierter Weise. Denn tatsächlich erfüllt Russland einen essentiellen Aspekt von Lenins Definition:

Auch wenn Russland 2021 gemessen an Gesamtumsatz, Gewinn, Vermögen und Marktwert gerademal 2 Firmen unter den Top 100 internationalen Konzernen bzw. 12 unter den Top 1000 platzierte, d.h. kaum Kapital exportiert oder fremde Märkte erschliesst/ unterwandert, profitiert Russland sehr wohl politisch wie ökonomisch von der teils militärisch teils durch wirtschaftliche Abhängigkeit (Rohstoffexporte) erwirkten Expansion des eigenen Einflussbereiches. Russland annektiert Gebiete militärisch (Georgien, nun Ukraine), unterstützt durch Gewalt (ihm treue) Autokratien gegen selbstorganisierte lokale Oppositionen (Syrien, Kasachstan) oder macht als Hegemon in regionaler Bündnispolitik ganze politische Systeme zu gefügigen Semi-Puppenregierungen (Belarus, ehemals Ukraine). Allein schon, dass dieser Einfluss spätestens seit 2013 über die ex-sowjetischen Gebiete hinausreicht, sollte zu denken geben. Russland gehört damit nämlich eindeutig zu den wenigen Staaten, die die Welt unter sich aufteilen; auch wenn eher mit regionalem als globalem Einflussbereich.

Russland also als nicht-imperialistisch, aber dafür als typisch halbkolonial (Wirtschaft und internationale Stärke basieren vor allem auf den heimisch reichhaltig vorhandenen Bodenschätzen und Grundnahrungsmitteln; die Industrie ist vor allem auf den Rüstungssektor ausgerichtet, aber in anderen Sektoren wenig differenziert und ausgebaut; deswegen relativ wenig Bedeutung für die Beherrschung internationaler Wertschöpfungsketten ausserhalb des Energie- und Grundnahrungsmittelsektors) zu kategorisieren, birgt das Risiko, die aktiv ausgeübte und gewalttätige Expansion zu relativieren (wirklich schlimm seien doch die Taten der NATO, da einige ihrer Mitglieder die wirklichen Imperialisten sind; es sei doch primär ein defensiver Reflex auf Einmischung der imperialistischen NATO-Mitglieder in den russischen Einflussbereich).

Dies kann reale politische Auswirkungen haben wie etwa eine Geringschätzung der akuten materiellen Bedrohung der ukrainischen Bevölkerung durch einen de facto Eroberungskrieg. Deswegen muss Russlands Aussenpolitik zwingend als Weltmachtstreben anerkannt werden.

Und das darf keineswegs als moralische Definition von Imperialismus missverstanden werden. Wenn überhaupt, dann wird dadurch ein Kernaspekt an Lenins Definition ernst genommen, und zwar dass es sich im Wesentlichen um die Aufteilung der Welt durch die grosskapitalistischen Machtblöcke handelt. (Eine Aufteilung, die, wie sich grade zeigt, noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.) [Anm. d. Red.]

Zum Ranking der russischen internationalen Konzernen: 51.: Sberbank; 99.: Rosneft; 309.: Surgutneftegas; 367.: Gazprom; 388.: Norilsk Nickel; 467.: LukOil; 513.: Transneft; 530.: Novatek; 597.; VTB Bank; 751.: Tatneft; 861.: Novolipetsk Steel; 908.: Severstal; 1001.: Polyus, 1004.: EN+ Group International; 1155.: Inter Rao; 1209.: X5 Retail Group; 1335.: Magnit; 1591.: Moscow Exchange; 1605.: Magnitogorsk Iron & Steel; 1779.: Credit Bank of Moscow; 1818.: Sistema; 1965.: RusHydro. Abrufbar auf: https://www.forbes.com/lists/global2000/#3330e2755ac0 (2022).

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