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Auf Kredit wird das nicht funktionieren: Warum die Staatsschulden der Ukraine gestrichen werden müssen

Schon vor der völkerrechtswidrigen Invasion durch Russland war die Ukraine eines der ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder Europas. Und der brutale Angriffskrieg Russlands treibt die Schulden durch die immensen Schäden an der Infrastruktur und an den Institutionen weiter in die Höhe. Unbezahlbar erscheint indessen der Verlust an menschlichem Leben. Yulyia Yurchenko, Dozentin für politische Ökonomie am Political Economy, Governance, Finance and Accountability Institute der Uni Greenwich (UK), wagt eine kritische Analyse der derzeitigen Darlehensmechanismen und erklärt, weswegen diese der Ukraine schon vor Beginn der Krieges nicht wieder auf die Beine hätten helfen können. Angesichts des zerstörerischen Eroberungskrieges muss umso mehr eine neue Perspektive her, in dessen Zentrum ein absoluter Schuldenschnitt für die Ukraine steht. (Red.)

von Yuliya Yurchenko; Commons Journal

Am 10. April aktualisierte die Weltbank ihre BIP-Prognose für die Ukraine, um festzustellen, dass die russische Invasion die ukrainische Wirtschaft nur schon im Jahr 2022 um 45 % schrumpfen lassen wird. Das ist jedoch eine sehr optimistische Prognose. Am 29. März überschritten die direkten einmaligen Verluste des Landes aufgrund der Invasion bereits über 1 Billion Dollar. Schon vor der Invasion war die Ukraine eines der ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder Europas. Die laufenden Haushaltsausgaben für Waffen, humanitäre Bedürfnisse und die medizinische Versorgung der Verwundeten sind exponentiell gestiegen. Aus diesem Grund hat der IWF nach Gesprächen mit dem ukrainischen Finanzministerium bereits einen Fonds eingerichtet, der es anderen Ländern ermöglichen soll, mehr Mittel auf die Konten der Ukraine zu transferieren.

Astronomische Summen werden nach dem Krieg auch für den Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastrukturen, die Säuberung und Dekontaminierung von Städten, Dörfern, Land, Wald und Wasser benötigt. Unter diesen Bedingungen wäre die Begleichung der Staatsschulden nur möglich, wenn das Militär und andere dringende Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt würden – andernfalls reichen die zur Verfügung stehenden Mittel einfach nicht aus, auch nicht mit Spenden aus anderen Ländern und Organisationen. Die Deckung dringender Bedürfnisse – und nicht die Zinszahlungen von Krediten – sollte Priorität haben.

Zerstörtes Haus und Auto von Zivilist:innen nach einem russischen Angriff/ Reuters

Gleichzeitig sollte der wirtschaftliche Wiederaufbau der Nachkriegszeit sorgfältig geplant werden. Das kann nur eines bedeuten: Es ist an der Zeit für eine umfassende und vielseitige internationale Hilfe und eine Lockerung der Bedingungen für die IWF-Hilfe, um im eigenen Land finanzpolitische Aktivitäten zu ermöglichen, und nicht für kriegsbedingte Sparmassnahmen, damit die Schulden beglichen werden können. Dies kann nur durch koordinierte Massnahmen der Ukraine, internationaler Organisationen, ausländischer Politiker:innen und verschiedener gesellschaftlich aktiver Gruppen erreicht werden.

In diesem Artikel werde ich die wichtigsten Aspekte der Entstehungsgeschichte der ukrainischen Schulden, ihre Schädlichkeit während des Krieges und die allgemeinen Bedingungen für die Wirksamkeit des makroökonomischen Wiederaufbauprogramms, insbesondere die Rolle der Institution des Staates in einem solchen Prozess, darstellen.

Eine kurze Geschichte der Schulden

Nach der Unabhängigkeit verlor die Ukraine die realwirtschaftliche Basis, die notwendig gewesen wäre, um die Wirtschaft zu stützen und die öffentlichen und privaten Schulden zurückzuzahlen. Hinzu kam der Druck auf die Wirtschaft durch den ständigen Bedarf an Fremdkapital (Staat, Handel und Verbraucher), erschwert wurde dies durch die nur begrenzte Fähigkeit zur Rückzahlung von Zinsen. Die Wirtschaft wurde durch die Kombination aus Importabhängigkeit, Dollarisierung und Abwertung der Landeswährung weiter geschwächt, was bis heute anhält. Oleksandr Kravchuk (2015) dokumentiert detailliert, wie diese Schulden entstanden sind und welche Voraussetzungen für ihre Akkumulation in der Ukraine sorgten.

Die Lage verschlechterte sich durch den vielschichtigen Schock der COVID-19-Pandemie und nun durch eine neue Phase der russischen Invasion. Die Regierung versuchte, die negativen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie durch weitere Marktreformen zu kompensieren. Die Makrofinanzhilfe der EU hat das Land bei der Bekämpfung der Folgen der COVID-19-Pandemie unterstützt, und eine solche Hilfe kann auch heute noch hilfreich sein. Die Unterstützung durch den IWF ist sehr wichtig, auch deshalb, weil es der IWF ist, der Anweisungen für den Umgang mit Schulden und Hilfen ausarbeitet. Aber für die Ukraine sind die letzten Teilzahlungen der Mikrofinanzhilfe des IWF mit „grösseren und umfassenderen [Anforderungen] verbunden und beziehen sich auf die Stärkung der Verwaltung der öffentlichen Finanzen, der Regierungsführung und der Durchsetzung der Gesetzgebung, die Reform des Justizwesens, den Wettbewerb auf dem Gasmarkt, die Verbesserung des Geschäftsklimas und die Verwaltung staatlicher Unternehmen.“ Das bedeutet höhere Versorgungspreise, eine Sparpolitik bei den Staatsausgaben und die Kommerzialisierung der staatlichen Unternehmen. Die Schritte des IWF müssen daher unverzüglich revidiert werden, um Raum für eine autonome Führung der Wirtschaft zu schaffen.

Internationale Kreditgeber:innen und schuldenverwaltende Institutionen – der IWF, die Weltbank und die Europäische Zentralbank – können in dieser Situation helfen, aber das derzeitige Modell des Vorgehens muss angepasst werden. Darüber hinaus sind fast alle konventionellen Krisenfinanzierungsinstrumente bereits ausgeschöpft worden. So hat die Ukraine beispielsweise bereits 1,4 Milliarden Dollar über den Rapid Financing Mechanism (RFI) erhalten, die „innerhalb von 3-5 Jahren zurückgezahlt werden müssen“. In den Darlehensbedingungen heisst es, dass der Darlehensnehmer „verpflichtet ist, mit dem IWF zusammenzuarbeiten, um Anstrengungen zur Lösung der Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu unternehmen und die allgemeine Wirtschaftspolitik zu beschreiben, die der Darlehensnehmer zu verfolgen gedenkt“. Es ist aber offensichtlich, dass die Ukraine in den nächsten 3-5 Jahren nicht in der Lage sein wird, solche Beträge zu zahlen. Und dass andere Lösungen für den Finanzbedarf gesucht werden müssen.

Fünfter Präsident der Ukraine Petro Poroschenko bei einem Treffen mit der geschäftsführenden Direktorin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde

Ein Land im Kriegszustand ist nicht in der Lage, geltende Bedingungen für bereits bestehende Schulden zu erfüllen, geschweige denn für neue Schulden. Selbst wenn der „Konflikt“ als eine Situation klassifiziert wird, in denen der RFI eingesetzt werden kann, sind die Massnahmen ungeeignet für den Zweck, dem sie gerade zugedacht werden. Sie sind schlicht moralisch und wirtschaftlich unpraktisch, das nicht zuletzt wegen der finanzpolitischen Austerität und der marktwirtschaftlichen Herangehensweise an nicht-marktwirtschaftliche Probleme, die von der oben erwähnten Wirtschaftspolitik erwartet werden – ihrer wirtschaftlichen Grundlage.

Die Rolle des Staates und der IFI beim wirtschaftlichen Wiederaufbau

Ineffiziente Ansätze zur Steuerung der Wirtschaft während der COVID-19-Pandemie haben viele Politiker:innen und Ökonom:innen weltweit gelehrt, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu begrüssen, weil die Märkte die Krise nicht allein bewältigen konnten – ein bekanntes und allgemeines Marktversagen in Aktion.

Und auch der Staat in der Ukraine ist im Gegensatz zu seiner klischierten Wahrnehmung nicht aufgebläht, sondern ganz im Gegenteil ist „der Anteil des Nationaleinkommens, der durch Steuern und Haushaltszuweisungen verteilt wird, in der Ukraine viel geringer als in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften der EU“.

Es war denn auch der Staat, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau grosser Teile Europas, Japans und Südkoreas spielte. Auf der Grundlage dieser historischen Erfahrung wurde das Konzept des „Entwicklungsstaates“ ausgearbeitet, und jetzt ist es an der Zeit, sich darauf zurückzubesinnen und mit dem Mythos der ungezügelten Märkte, die die Länder eigentlich aus den Angeln heben, zu brechen.

Nach dem europäischen Green Deal und dem New Green Deal in den Vereinigten Staaten würde der Staat zum führenden Investor, um Vertrauen zu schaffen, den keynesianischen „animalischen Instinkte“ der Investor:innen zu „zähmen“ und die Wirtschaft zu stabilisieren. Der IWF und andere internationale Kreditgeber, die als letztes Mittel dienen, werden als Finanzierungsquellen benötigt. Aber es sind schlussendlich doch die staatlichen Institutionen, die die Entwicklungsprogramme in ihren Ländern durchführen, und sie sollten daher in einem solchen Prozess auch über Autonomie verfügen. Lokalen Unternehmen sollte beim Zugang zu öffentlichen Investitionen höchste Priorität eingeräumt werden. Diese Souveränität bei der Umsetzung der wirtschaftlichen Entscheidungspolitik sollte im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und ihren Gläubigern neu interpretiert und berücksichtigt werden.

Allerdings wiederholen die Absichtserklärung und das aktualisierte Memorandum über die Wirtschafts- und Finanzpolitik zum aktuellen Stand-by-Abkommen für die Ukraine, die 2021 veröffentlicht wurden, die alten Grundsätze für den Erhalt von Finanzmitteln. Das Memorandum skizziert „Massnahmen zur Umsetzung von Strukturreformen“, nämlich „Reformen im Währungs-, Steuer- und Finanzsektor, die auf die Verbesserung des Geschäftsklimas und die Stärkung der Durchsetzung der Rechtsordnung sowie auf die Bekämpfung der Korruption abzielen“. Allerdings ergibt sich daraus das Problem, dass diese Reformen alles andere als darauf abzielen, weitere Ungleichheit, sozioökonomische Anfälligkeit und den Bedarf an noch mehr Schulden zur Stabilisierung der Zahlungsbilanz auf Kosten dringenderer Bedürfnisse zu bekämpfen.

In den internationalen Finanzinstitutionen (IFI) herrscht bereits seit einigen Jahren eine Ansicht vor, wonach die Austeritätspolitik und die übermässig kontrollierten Rahmenbedingungen für die Empfängerländer von Krediten ineffizient seien. Christine Lagarde, gegenwärtig Präsidentin der Europäischen Zentralbank, teilte diese Ansicht, als sie noch an der Spitze des IWF stand. Es ist nun an der Zeit, eine solche Vision in die Praxis umzusetzen, insbesondere bei der Hilfe für die Ukraine. Wir werden viel Hilfe brauchen, von der direkten und sofortigen bis hin zur langfristigen Hilfe, und dafür werden herkömmliche Kreditmechanismen nicht ausreichen. Eine Vereinfachung der Bedingungen für die Gewährung von Darlehen, eine umfassende makroökonomische Unterstützung und ein vollständiger Schuldenerlass würden es der Ukraine ermöglichen, den dringend benötigten Handlungsspielraum zu erhalten und die verfügbare Hilfe so effizient wie möglich zu nutzen.

BIP-Märchen, wirtschaftliche Abwertung und Buchhaltungsverluste

Jeder Versuch, die Schwächen der ukrainischen Wirtschaft zu verstehen, sollte damit beginnen, den gewählten Analyserahmen sorgfältig zu überdenken und zu prüfen, ob er für den Zweck geeignet ist. Alles in allem besteht die dringende Notwendigkeit, bei der Gestaltung, Durchführung und Analyse politischer Massnahmen von einem „Übergangs“-Narrativ wegzukommen und zu einem differenzierteren Verständnis der komplexen Auswirkungen von Reformen der öffentlichen Dienste, ihrer Art und ihrer vielfältigen, geografisch und wirtschaftlich ungleichen und geschlechtsspezifischen Auswirkungen in den untersuchten Ländern zu gelangen. Wir haben nicht gesehen, dass es an öffentlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen mangelt, sondern vielmehr, dass diese verfallen, nicht mehr finanziert und verkauft werden, und sprechen daher von wirtschaftlicher Rückentwicklung mit allen damit verbundenen sozioökonomischen Kosten, d. h. (Feminisierung der) Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, sporadische Umstellung auf Subsistenzlandwirtschaft, Abwanderung von Fachkräften, Arbeitsmigration und unterschiedliche Abhängigkeit von Geldüberweisungen, extremer Reichtum für einige wenige und Armut für viele usw.

Ein Jugendlicher im Hintergrund der Ruinen seines Hauses in Tschernihiw mit einer streunenden Katze, die er auf der Strasse aufgelesen hat / AP

Bislang steht die Ukraine zu ihren Schuldenverpflichtungen sowohl in der Rhetorik und als auch in der Praxis. Die Erklärungen der zuständigen Beamt:innen, z.B. des Finanzministers Serhii Marchenko und des Kommissars für die Verwaltung der Staatsschulden Yuriy Butsa, lehnen Überlegungen zur Schuldenumstrukturierung etwa ab. Am 1. März wurde eine halbjährliche Kuponzahlung in Höhe von 292 Mio. US-Dollar auf Eurobonds geleistet und es wurden Militäranleihen ausgegeben. Letztere sollen zur Deckung von Gehältern und Pensionen dienen, so Butsa. Aber auch Anleihen sind Schulden. Was das Land aber braucht, ist ein Schuldenerlass und keine zusätzlichen Schulden.

Es ist klar, dass die Ukraine unter dem enormen Druck des Krieges als verlässlicher Partner erscheinen will, stark und standhaft. Aber unter den Bedingungen eines ungleichen Krieges ist ein solches Verhalten Wahnsinn. Darüber hinaus werden auch Kredite und Anleihen nicht den gesamten Bedarf und die Mittel decken können, die für die Abwehr der russischen Aggression, die Bewältigung der humanitären Krise, die Zerstörung und den Verlust der Infrastruktur und das Chaos bei den Humanressourcen infolge der Massenvertreibung von Menschen erforderlich sind. All dies ist auch ohne zusätzliche Schulden eine gigantische Belastung.

Letztlich läuft alles auf eine Frage hinaus: Wer und was hat für unser Finanzministerium, die Regierung und die Organisationen, die die Wirtschaft stabilisieren sollen, Priorität: das Überleben der Ukrainer:innen oder eine Handvoll privater Investor:innen und ihre jährliche milliardenschwere Bereicherung, selbst in Kriegszeiten?


Übersetzung aus dem Englischen durch Redaktion sozialismus.ch

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