Der Landesmantelvertrag für das schweizerische Bauhauptgewerbe (LMV) ist der wohl beste und wichtigste Gesamtarbeitsvertrag in der Schweiz. Er regelt nicht nur die Arbeitsbedingungen von 86‘000 Bauarbeiter:innen, sondern hat auch entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsverträge von circa 200‘000 anderen Handwerker:innen. In den aktuellen Neuverhandlungen versuchen die Baumeister:innen weitere Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen auf dem Bau zu erreichen. Um der Offensive der Chefs entgegenzutreten, braucht es eine breite und kämpferische Mobilisierung auf den Bausstellen und die solidarische Unterstützung von weiteren Lohnabhängigen.
von BFS/MPS
Der Schweizer Bauwirtschaft geht es sehr gut
Nur wenige Branchen der Schweizer Wirtschaft weisen so günstige Wachstumsraten auf wie das Baugewerbe. Sowohl die Bauinvestitionen also auch die erzielte Wertschöpfung erlebten in den letzten 30 Jahren ein stürmisches Wachstum – und das obwohl die Anzahl Bauarbeiter:innen stark zurückgegangen ist.
Im Jahr 1990 erwirtschafteten in der Schweiz 166‘500 Bauarbeiter:innen einen Umsatz von 17,2 Milliarden Franken. Heute arbeitet gerade mal noch die Hälfte, circa 86‘000 Bauarbeiter:innen, auf Schweizer Baustellen. Allerdings bescherten diese den Schweizer Bauunternehmen im letzten Jahr Umsätze in der Höhe 23,1 Milliarden Franken. Im ersten Quartal 2022 hat das Bauhauptgewerbe bereits einen Umsatz von 4,8 Milliarden Franken und damit das zweitbeste Ergebnis seit 2012 erzielt.
Angesichts der Klimakatastrophe und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist eine ökologisch nachhaltige Sanierung der Bausubstanz in der Schweiz sowie das Wegkommen von (russischen) fossilen Energieträgern dringend nötig. Daraus ergeben sich enorme Investitions- und Bautätigkeiten, die der Baubranche auch in den kommenden Jahrzehnten gute Geschäftsbedingungen garantieren werden.
Der Anstieg der Ausbeutung auf dem Bau
Die Zunahme der Wertschöpfung im Bausektor und damit der Profite der Bauunternehmen ist in erster Linie auf zwei Gründe zurückzuführen.
1. Die massive Steigerung der Arbeitsintensität auf dem Bau: Immer weniger Bauarbeiter:innen erarbeiten immer grössere Umsätze für die Bauunternehmen.
2. Das Einfrieren der Reallohnsteigerungen: Letztes Jahr waren die Baumeister:innen nicht mal mehr bereit, die bereits auf 1,5% gestiegene Inflation auszugleichen.
Das Wachstum der Schweizer Baubranche in den letzten 30 Jahren ging also mit einem starken Anstieg der Ausbeutung der Bauarbeiter:innen einher. Umso ungerechtfertigter sind die aktuellen Angriffe der Baumeister:innen auf den LMV.
Die Ziele der Baumeister:innen
Die Baumeister:innen sind in den aktuellen Verhandlungen fest entschlossen,sofort eine grössere Flexibilität bei den Arbeitszeiten durchzusetzen (Einführung einer Art Jahreszeitrechnung, um im Sommer mehr arbeiten zu lassen und im Winter zu kompensieren). Dafür sind sie bereit, sich auf einen vertragslosen Zustand zuzubewegen.
Mittelfristig wollen die Chefs aber auch weitere Einschränkungen beseitigen (u.a. Beschränkung der Samstagsarbeit), um die Produktivität – und damit ihre Profite – weiter zu steigern.
Und schliesslich bereiten die Baumeister:innen Angriffe auf die Löhne vor, die sie aber wahrscheinlich nicht in den aktuellen Verhandlungen vorbringen werden. Ihr Ziel diesbezüglich ist allerdings klar: Sie wollen die im LMV geregelten Mindestlöhne je nach beruflicher Qualifikation ersetzen durch einen einheitlichen Mindestlohn von 4‘500 Franken, alle anderen Lohneinstufungen streichen und durch das Prinzip der individuell ausgehandelten Leistungslöhnen ersetzen. Die Abkehr von kollektiv geregelten Lohnstufen würde eine massive Abwärtsspirale bei den Löhnen in Gang setzen.
Die veränderte Taktik der Baumeister:innen
Es ist unübersehbar, wie zielstrebig die Baumeister:innen bei der Durchsetzung ihrer Interessen trotz der guten Wirtschaftslage vorgehen. In den aktuellen Verhandlungen verhalten sie sich taktisch aber anders als in den letzten Jahren. Das könnte gefährlich werden.
1. Die Baumeister:innen scheinen die Frühpensionierung mit 60 Jahren nicht in Frage zu stellen. Das ist natürlich gut. Bei den letzten Vertragsverhandlungen haben die Chefs immer wieder versucht, das Rentenalter 60 anzugreifen – teilweise mehr aus taktischen Gründen, um die Gewerkschaften zu anderen Zugeständnissen zu zwingen. Diese Angriffe haben auf den Baustellen allerdings Wut ausgelöst und zu starken Mobilisierungen der Bauarbeiter:innen geführt. Dass dieses Mal die Frühpensionierung als Angriffsziel nicht einmal erwähnt wird, wird eine demobilisierende Wirkung haben und eine allfällige Streikbewegung erschweren.
2. Die Baumeister:innen geben sich in den aktuellen Verhandlungen sehr zurückhaltend. Sie werden ihre wahren Absichten erst im letzten Moment bekannt geben, um so eine Reaktion der Gewerkschaften und die Mobilisierung auf den Baustellen zu verhindern.
3. Zum ersten Mal seit vielen Jahren haben die Baumeister:innen eine landesweite Propagandakampagne entwickelt. Sie verteilen auf den Baustellen die Broschüre „Baunews“, die zwar entschlossen die Interessen der Unternehmen vertritt, aber ohne die herrische Arroganz, die bisher das Markenzeichen der Baumeister:innen war. Darin verbreiten sie aber dieselben Lügen, wie bei jeder Verhandlung: Eine LMV-Kündigung wäre sowohl für die Unternehmen als auch die Arbeiter:innen gut und sowieso würde sich auch ohne Gesamtarbeitsvertrag an den Arbeitsbedingungen gar nichts ändern…
Nur kollektive Mobilisierungen können den LMV verteidigen
Mit der Frühpensionierung mit 60 haben die Bauarbeiter:innen vor 20 Jahren die letzte grosse soziale Errungenschaft in der Schweiz erkämpft, die auch für die Verträge in verwandten Branchen zum Vorbild wurde. Dieser Fortschritt wurde nicht (nur) am Verhandlungstisch erkämpft, sondern in erster Linie durch eine flächendeckende Streikbewegung und die Blockade des Bareggtunnels im November 2002. Die Bauarbeiter:innen und die Gewerkschaften haben damals entschlossen und zielgerichtet mobilisiert, gekämpft, und schliesslich gewonnen.
Ohne eine kämpferische gewerkschaftliche Orientierung und eine echte Mobilisierung auf den Baustellen wird es schwierig bis unmöglich, die perfiden Angriffe der Baumeister:innen auf den LMV abzuwehren. Die Fokussierung der Gewerkschaften auf die sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen mit den Bauunternehmen ist zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht das soziale Kräfteverhältnis auf den Baustellen aufbauen kann, das nötig wäre, um den zielstrebigen Baumeister:innen entgegenzutreten. Nur die kollektive Mobilisierung und Streiks der Bauarbeiter:innen sowie die solidarische Unterstützung von anderen Lohnabhängigen werden dafür sorgen können, die Chefs von ihren Plänen zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Flexibilisierung der Arbeitszeiten abzubringen.
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