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Wie können wir unsere Kaufkraft angesichts der Inflation verteidigen?

Die Preissteigerungen fressen auch in der Schweiz den Lohnabhängigen ihre Kaufkraft weg. Gerade für ärmere Lohnabhänge und Armutsbetroffene kann die Inflation zu einer existenziellen Bedrohung werden. Es gibt allerdings einfach einzuführende Massnahmen, wie wir unsere Löhne verteidigen können. Ohne gewerkschaftliche Mobilisierung wird dies aber nicht klappen. (Red.)

von Sofia Ferrari (MPS Tessin); aus mps-ti.ch

Von Dezember 2020 bis Juli 2022 erreichte die Inflation in der Schweiz einen Wert von 4,5%. Das letzte Mal, dass es eine Inflationsentwicklung in dieser Größenordnung gab, war im Zeitraum von Februar 2007 bis Oktober 2008. Der Unterschied besteht darin, dass der Inflationsanstieg heute nicht aufzuhören scheint. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass die Inflation bis Ende 2022 5% erreichen wird.

Die Inflation ist eine Krankheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Am schlimmsten trifft sie die Lohnabhängigen und die Rentenbezüger:innen. Inflation bedeutet für sie eine starke Verschlechterung ihrer Kaufkraft und ihres Lebensstandards. Im Jahr 2020 betrug der Bruttomonatslohn (Medianwert) in der Schweiz 6’665 Franken. Von Dezember 2020 bis Juli 2022 hat die Teuerung den direkten Verdienst von Lohabhängigen mit einem Medianlohn um 2’365 Franken verringert. Sollte die Inflation bis Ende 2022 auf dem aktuellen Niveau von 4,5% bleiben, würde sich der Verlust auf 3’864 Franken belaufen.

Die Inflation trifft die Lohnabhängigen in eh schon schwierigen Zeiten

Die Auswirkungen der steigenden Inflationsspirale werden durch mindestens zwei wichtige Faktoren verstärkt.

1. Erstens kommt der inflationsbedingte Kaufkraftverlust nach Jahren absolut unbedeutendem Reallohnzuwachs (in einigen Sektoren sind die Löhne real sogar gesunken); dies trotz deutlich und stetig steigender Produktivität sowie extrem steigenden Vergütungen des Kapitals (Profite, Dividenden usw.). Die Entwicklung bestätigt, dass die immer gleiche Behauptung der Unternehmer:innen, nur mit einer Steigerung des produzierten Reichtums sei eine Umverteilung (u.a. über die Löhne) möglich, eine Lüge ist.

Betrachtet man den nationalen Bruttomonatslohn (Medianwert), so lag dieser im Jahr 2010 bei 6’207 Franken gegenüber 6’665 Franken im Jahr 2020. Wir sprechen von einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme von 42 Franken… Zum Vergleich: Der durchschnittliche monatliche Kaufkraftverlust während 20 Monaten Inflation betrug 118,25 Franken. Der Reallohnindex für den Zeitraum 2011-2021 zeigt ein Gesamtwachstum von 6,9% bzw. durchschnittlich 0,62% pro Jahr. Die durchschnittliche monatliche Inflationsrate von Dezember 2020 bis Juli 2022 betrug 1,77%. Ganz konkret hat die Inflation eine Arbeiter:innenklasse getroffen, die in den letzten zehn Jahren fast ausnahmslos keine Möglichkeit hatte, ihre Kaufkraft durch regelmäßige und einschneidende Lohnerhöhungen zu steigern. Wenn es sie gab, dann waren sie mickrig, regelrechte Brosamen, buchstäblich verschlungen von beträchtlichen Preiserhöhungen bei Produkten und Dienstleistungen, die nicht freiwillig in den Warenkorb des Verbraucherpreisindex (VPI) aufgenommen wurden (also alle lebenswichtigen Güter).

2. Und damit kommen wir zum zweiten wichtigen Faktor. In allen kapitalistischen Ländern bemühen sich die herrschenden Kreise mit Erfolg, die Berechnung der realen Preissteigerungen zu manipulieren. Die Preisindizes (die wohlgemerkt nicht mit dem Lebenshaltungskostenindex übereinstimmen; in der Schweiz sind beispielsweise nicht alle Versicherungskosten oder Steuern direkt darin enthalten) werden manipuliert, um jede Lohnforderung zu blockieren, die den Kaufkraftschwund auszugleichen versucht.

Eine Methode, diesen Index zu neutralisieren, besteht darin, in die Gesamtmasse der Artikel, die den „Standardwarenkorb“ bilden, eine Reihe von Gütern einzubeziehen, die von den Lohnabhängigen wenig oder gar nicht verbraucht werden und deren Preisanstieg unter dem Durchschnitt liegt, so dass man einen Preisindex erhält, der den realen Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht objektiv widerspiegelt. Alternativ dazu werden bestimmte Dienstleistungen und Güter, deren Preise schnell steigen können, in einem Verhältnis einbezogen, das unter ihrem realen Anteil an den Ausgaben der Haushalte liegt.

Darüber hinaus gibt es verschiedene andere Möglichkeiten, die Berechnung der Teuerungszulage zu kontrollieren. In der Schweiz besteht die offensichtlichste und inakzeptabelste Lösung darin, Krankenversicherungsprämien und andere Versicherungsprämien aus dem Standardwarenkorb, der der Messung der Preisentwicklung zugrunde liegt, herauszunehmen. Diese gehören bekanntlich zu den grössten Ausgabenposten der Schweizer Haushalte. Und es sind vor allem die Krankenversicherungsprämien, die seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes 1996 explodiert sind. Auf nationaler Ebene betrugen die durchschnittlichen Krankenkassenprämien pro versicherte Person 1996 1’539 Franken. Bis 2021 sind sie auf 3’788 Franken angestiegen, was einem Wachstum von 146% entspricht! Im Zeitraum 2010-2020 betrug der Anstieg 33%, d.h. ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 3%!

Die Inflation in der Schweiz trifft also eine Arbeiter:innenklasse, die bereits seit mindestens einem Jahrzehnt einen Prozess der relativen und teilweise auch absoluten Verarmung erlebt. Die Inflationsspirale wird den Lebensstandard von Hunderttausenden von Familien erheblich verschlechtern. Und dies auch deshalb, weil die Sozialdemokratie und die Grünen und die mit ihnen verbundenen Gewerkschaftsführungen dieser sozialen Notlage scheinbar gleichgültig gegenüber stehen. Zumindest scheinen sie nicht gewillt zu sein, auf soziale Mobilisierungen zu setzen – was die einzig wirkungsvolle Antwort auf die Inflation wäre.

Was tun die Gewerkschaften?

Um sich dieser Unbeweglichkeit bewusst zu werden, muss man nur einen Blick auf die Internetportale dieser Organisationen werfen, die sich ja eigentlich um die Interessen der Lohnabhängigen kümmern sollten. Dort findet sich bis anfangs September praktisch Nichts zu diesem Thema. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) beschränkt sich auf eine knappe Pressemitteilung. Schlimmer noch als das Schweigen der Medien ist die Tatsache, dass die Gewerkschaftsführungen in diesem Land die Verteidigung der durch die Inflation verlorenen Kaufkraft nicht als absolute Priorität betrachten, für die sie die Lohnabhängigen zu mobilisieren versuchen.

Der Kontext, den wir oben schnell rekonstruiert haben, sollte eine Reaktion auslösen, die dem Problem gerecht wird. Dies gilt umso mehr, als die Verteidigung der Kaufkraft gegen die Auswirkungen der Inflation zu den Fragen gehört, die die Gesamtheit der Lohnabhängigen (und nicht nur einzelne Kategorien davon) betrifft. Der Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation hat auch einen generationenübergreifenden Charakter und betrifft nicht nur alle Erwerbstätigen, sondern auch die Bezüger:innen von Renten und Sozialleistungen verschiedener Art. So verfügen weder die AHV- noch die BVG-Renten (2. Säule) über einen automatischen Teuerungsausgleich (welcher darüber hinaus sogar noch ungenügend wäre, weil er nur spärlich vergütet wird und den realen Preissteigerungen hinterher hinkt).

Bei der AHV werden die Renten am Ende jedes Zweijahreszyklus nur angepasst, wenn die Teuerung innerhalb eines Jahres 4 Prozent übersteigt. Außerdem erfolgt die Anpassung auf der Grundlage des so genannten Mischindexes, der den Durchschnitt des Lohn- und des Preisindexes darstellt. Bei den BVG-Renten hängt die Indexierung vom Willen des paritätischen Organs oder des obersten Organs der Vorsorgeeinrichtung ab, die die volle Befugnis haben, Anpassungen an die Teuerung zu verweigern.

All dies bedeutet, dass eine Mobilisierung gegen den Kaufkraftverlust, abgesehen von seiner materiellen Bedeutung, einen jener seltenen Kämpfe darstellen würde, der in der Lage wäre, wirklich alle von direkten und indirekten Löhnen Abhängigen zu vereinen und sogar jene Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, die den Gewerkschaften traditionell eher ablehnend gegenüberstehen.

Für eine neue gleitende Lohnskala

Das Wiederauftreten von Inflationserscheinungen nach einer mehr als zehnjährigen Pause muss uns dazu veranlassen, Instrumente zum Schutz der Kaufkraft neu zu beleben. Eines der wirkungsvollsten Instrumente ist die gleitende Lohnskala, ein Lohnindexierungssystem, das es ermöglichen würde, die Lohnverluste zu minimieren.

Es handelt sich um ein System der automatischen Aufwertung der Löhne in Abhängigkeit von der Entwicklung der Inflation. Um ihre volle Wirkung zu entfalten, muss die Lohnsummenanpassung in vollem Umfang auf alle Lohnabhängigen, alle Bezüger:innen verschiedener Rentenformen sowie auf Personen in der Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung angewendet werden. Dieser Grundsatz sollte auch auf alle Formen von Sozialleistungen (vor allem Familienbeihilfen) ausgedehnt werden.

Der Indexierungsmechanismus für Löhne und Renten im Rahmen der gleitenden Lohnskala sollte auf der Grundlage eines monatlichen Anpassungsprozentsatzes angewendet werden (und nicht jährlich berechnet werden). Nur so kann vermieden werden, dass die Anpassung mit der Teuerung im Vormonat Schritt halten kann. Andere Formen der Anpassung – z. B. vierteljährlich – müssten sich mit dem im Laufe des ganzen Jahres entstandenen Verlust befassen (v.a. in Bezug auf Produkte und Dienstleitungen, die nicht jeden Monat den Preis wechseln, z.B. Krankenkassenprämien). Dies gilt auch für Löhne, die am Ende des Jahres angepasst werden. In diesem Fall ist alles, was im Laufe des Jahres nicht vergütet wird, vollständig verloren und stellt einen Verlust dar, den die Lohnempfänger für immer mit sich tragen.

Nur zur Erinnerung, dass es sich bei diesen Vorschlägen nicht um abstruse Dinge handelt, sei daran erinnert, dass es in einigen kantonalen Lohnsystemen bis in die 1980er Jahre hinein bei Lohnanpassungen eine Art rückwirkende Kompensation gab.

Wie immer liegt das Problem nicht in der technischen Lösung. Bei der gleitenden Lohnskala handelt es sich um ein System, das historisch gesehen in mehreren europäischen Ländern am Ende des Zweiten Weltkriegs eingeführt wurde und das durch die neoliberale Welle der frühen 1990er Jahre abgeschafft wurde. In der Schweiz gibt es nur noch ein unvollkommenes Beispiel für eine automatische Indexierung aller Löhne an die Inflation. Dies ist der Fall beim Gesamtarbeitsvertrag für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM). Allerdings findet der Lohnausgleich jeweils mit einem Jahr Verspätung statt.

Das grundlegende Problem liegt im Fehlen einer kämpferischen Aktivität der Gewerkschaftsbewegung in diesem Land. Überall ist von Inflation die Rede, nur nicht in den geräumigen Büros der Gewerkschaftsführung, wie es scheint. Und dann fragt man sich nach dem Grund für den niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und das Fehlen sozialer Kämpfe in der Schweiz. Und unterdessen hören die Gewinne der Bosse nicht auf zu wachsen…

Eine Mobilisierung gegen den Kaufkraftverlust wäre – abgesehen von seiner materiellen Bedeutung – eine der seltenen Gelegenheiten für einen einheitlichen gewerkschaftlich Kampf aller Lohnabhängigen im Land.

Löhne anheben – Preise einfrieren – Arbeitsplätze verteidigen!


Übersetzung des Textes durch die Redaktion.

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