Menu Schließen

Strommarkt: Die Zauberlehrlinge des freien Marktes

Das obskure Räderwerk des europäischen Strommarktes bedarf einer Durchleuchtung. Ein Blick auf die Geschichte der Liberalisierung des europäischen Strommarktes zeigt, dass die aktuelle Versorgungsunsicherheit die Folge von bewussten politischen Entscheidungen ist. (Red.)

von José Sanchez; aus solidaritéS

Kurze Geschichte des europäischen Strommarktes

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aufgrund der Anforderungen des Wiederaufbaus und neuer politischer Orientierungen in vielen kapitalistischen Ländern Europas öffentliche Konzerne im Energiebereich geschaffen. Die Erzeugung, Übertragung und Verteilung von Strom wurden vom Staat reguliert und finanziert. Denn Strom ist keine Ware wie jede andere.

In den frühen 1980er Jahren wurden diese öffentlichen Monopole in vielen Bereichen (Gesundheit, Bildung, Energie) durch eine neoliberale Welle beendet. Angeregt durch diese Deregulierungsbewegung erinnerten Politiker:innen der Europäischen Kommission an Artikel 90 der Römischen Verträge, die 1957 den aus sechs Ländern bestehenden europäischen Markt definierten, um die Einführung eines wettbewerbsorientierten Marktes im Bereich der Stromversorgung zu rechtfertigen.

Dass dieser Artikel nicht ohne praktische Folgen für die gesamte Bevölkerung angewendet wurde, kümmerte sie dabei nicht. Für die neoliberalen Fundamentalist:innen zählte nur die möglichst allumfassende Anwendung des Prinzips des „freien Wettbewerbs“.

Gewisse europäische Konzerne wollten in die verschiedenen nationalen Märkte eindringen und die staatlichen Unternehmen umgehen, um die grossen Stromverbraucher:innen in der Industrie und im Dienstleistungssektor direkt zu beliefern. Es war also die Aussicht auf neue private Gewinne, die die EU-Kommission dazu motivierte, den Gas- und Strommarkt vollständig für den Wettbewerb zu öffnen. Der Wirtschaftswissenschaftler Paolo Cechinni schätzte damals, dass die staatlichen Monopole Profite in der Höhe von 3% bis zu 7% des BIP verhindern würden. Dies weckte den Appetit vieler Kapitalgeber, die auf neue Gewinne warteten.

Das Ende des staatlichen Monopols

Margaret Thatchers England war das erste Land, das 1984 das öffentliche Strommonopol aufhob. Nach einer Richtlinie der EU-Kommission von 1996 stürzten sich auch die anderen europäischen Länder auf diesen neoliberalen Weg: Zunächst durch die Abschaffung des Import- und Exportmonopols; dann des Monopols für die Stromerzeugung und -versorgung. Und schliesslich musste auch das Verteilnetz durch eine Mautgebühr für den Wettbewerb geöffnet werden.

So können nun neue (meist private oder wie private funktionierende) Betreiber:innen die bestehenden Übertragungsnetze nutzen und sich gleichzeitig die hohen Investitionen für die Stromübertragung sparen. Dies ist eine Karikatur des Wirtschaftsliberalismus. Die von öffentlichen Konzernen mit Steuergeldern errichtete Infrastruktur (Stromleitungen, Kraftwerke, Transformatoren) wird ohne eigene Investitionen und Instandhaltungskosten genutzt, um sich ausschliesslich um den lukrativen Handel mit Strom zu kümmern.

Zu Beginn waren die Stromnetze überwiegend national und regional ausgerichtet, je nach Bedarf in der Nähe der Abnehmer:innen (Bevölkerung, Industrie, Dienstleistungen). Die Länder waren kaum miteinander verbunden, was Exporte fast unmöglich machte. Es wurde eher als Notfalllösung betrachtet.

Heute ist die Situation umgekehrt: Dreissig Länder sind miteinander zu einem grossen Netz verbunden, das entspricht einem Markt von 520 Millionen Menschen und sehr energiehungriger Industrien (Chemie, Metallurgie, Dienstleistungen).

Kurzfristigkeit wird immer dominanter

Auch die Regeln für die Vermarktung wurden geändert. Zunächst bestand der Verkaufsmarkt vor allem aus Terminverträgen über lange Zeiträume (10-15 Jahre). Der kurzfristige Markt („Spotmarkt“) blieb einem kleinen Kreis vorbehalten. Das Aufkommen neuer Produktionsmittel, vor allem aus Gas, führte zu einem starken Wettbewerb um die Preise für Grossverbraucher:innen. Dieser Wettbewerb wiederum führte vorerst zu Preissenkungen auf dem Spotmarkt, der für manche Anbieter:innen (Energiehandelsunternehmen) zum profitabelsten Markt wurde. Langfristige Verträge machten 2015 nur noch ein Drittel der Transaktionen aus.

Dieser Trend führte allerdings zu einer grösseren Anfälligkeit für spekulative Praktiken in der gesamten Energiekette von Gas und Strom. Die Entscheidung Brüssels, eine neue Art von Angeboten zuzulassen, die als „dynamische Preisgestaltung“ bezeichnet werden, machte das System noch fragiler. Diese Angebote basieren auf den Preisen der Strombörse in Echtzeit und geben alle Energiespekulationen an die Endverbraucher:innen weiter. Da Gaskraftwerke im Jahr 2020 20% der gesamten europäischen Stromerzeugung sicherstellten, war es für diese Anbieter:innen ein Leichtes, ständig mit dem Angebot zu spielen, indem sie den Gashahn auf- oder zudrehten. Der grosse Anteil des mit Gas produzierten Stroms in Europa und die wichtige Rolle, in die sich diese Anbieter:innen manövriert haben, bedeutet aber auch, dass ein rapider Anstieg des Gaspreises, wie aktuell im Zuge des Ukraine-Krieges, massive Auswirkungen auf den europäischen Strommarkt hat.

In einer im Januar 2022 veröffentlichten Studie erklärt Greenpeace Schweiz, dass „eine Energieversorgung ohne Atomkraft und ohne CO2-Emissionen in der Schweiz“ bis 2050 möglich ist. Die Nichtabhängigkeit von ausländischem Strom ist also realistisch.

Unserer Ansicht nach muss die Stromerzeugung wieder zu einem öffentlichen Monopol werden, nicht nur, um die Preise wieder unter Kontrolle zu bringen, sondern auch, um schnell die Energiewende planen zu können. Die Reduzierung der Treibhausgase und die Senkung des Stromverbrauchs unserer Gesellschaft sind keine Ziele des Marktes. Der Liberalismus hat uns in eine inflationäre und produktivistische Spirale getrieben. Um unsere Energiezukunft zu definieren, müssen wir die Energieversorgung als Teil der gesellschaftlichen Grundversorgung denken, in öffentliches Eigentum überführen, und unter die Kontrolle der im Sektor Arbeitenden und der Nutzer:innen stellen.


Übersetzung durch die Redaktion. Bild: Bau des Emosson-Staudamms im Wallis 1971.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert