Menu Schließen

Immer noch Lanzsitzerin, nicht mehr so ganz Putinversteherin: mein Ärger mit Frau Dr. Doktor Wagenknecht

Ich habe vor Kurzem das jüngste Bild-Interview mit der LINKE-Politikerin (DE) Frau Sahra Wagenknecht geschaut und die Einstellungen, die sie dort vertreten hatte, haben mich aufgewühlt. Auf den Inhalt soll der Vollständigkeit halber trotzdem kurz eingegangen werden. Es ging dem Axel Springer-Medienformat Bild TV darum, dass sich eine Politikerin, die, obwohl sie eher links aussen zu verorten ist, einer Bild-Umfrage zufolge die zurzeit populärste:r deutsche Politiker:in sei und gerade unter den Bild-Konsument:innen, die gegenwärtig am rechten Rand wählen, die höchste Popularität genösse. Vor dem Hintergrund dieses Stimmungsbildes wurde gewerweisst – eher effekthascherisch denn ernst gemeint –, ob Frau Wagenknecht denn nicht eine eigene Partei anstreben wolle, um durch ihre enorme Popularität die Wähler:innen rechts und links zu bündeln. Das inhaltlich Gehaltvolle am Interview drehte sich dann um die altbekannten und kontroversen Wagenknechtschen Positionen. Letzterem verdankt sich denn auch meine Verärgerung. Aber ich wollte meine Verärgerung konstruktiv nutzbar machen, indem ich Wagenknechts Positionen kritisiere. Nicht, weil ich in einem Anflug grössenwahnsinniger Geistlosigkeit glaube, jemals von ihr gelesen zu werden, sondern weil auch hierzulande einige Linke ihr nicht unähnlich denken. Und da Frau Wagenknecht gegenwärtig eine der berühmtesten westeuropäischen linken Persönlichkeiten ist, gehe ich wohl nicht unrecht in der Annahme, dass sie sich als Kristallisationspunkt für gewisse linke Anschauungen eignet, die sich z.T. mit dem kommenden Winter voraussichtlich verstärken und verbreiten werden.

Wird mit Frau Wagenknecht ein kultureller Backlash wieder en vogue?

Aus dem angelsächsischen Raum stammt der Begriff des Virtue-Signaling (Zurschaustellung von Tugendhaftigkeit). Die sinngemässe Übersetzung ist auch gleich der Titel von Sahra Wagenknechts aktuellem Buch (2021): «Die Selbstgerechten».

Grundsätzlich ist die marxistische Denkschule eine materialistische. Das heisst, man geht nicht davon aus, dass gewisse Dinge moralisch richtig sind, weil sie inhärenterweise, quasi von Natur aus oder von Ewigkeit her prinzipiell richtig sind. Diese Vorstellung wird als Gegenstück zum Materialismus aufgefasst und als idealistisch bezeichnet. In einem kausalen Dreierschritt lässt sich Marxens Vorstellung von der Bewusstseinsschöpfung (also auch von der Entstehung kultureller Normen) schildern: Am Anfang stehen die materiellen Bedingungen (welcher technologischer Entwicklungsstand, welche Ressourcen in welcher Knappheit etc. vorhanden sind). Ihnen entsprechend müssen sich die Menschen als Gesellschaft organisieren, um zu überleben. Kultur und Bewusstsein als Einzelperson und als Gemeinschaft ergibt sich spezifisch aus der jeweiligen Gesellschaftsform. Dieser Dreierschritt lässt sich anhand der Entstehung der modernen Gesellschaft verdeutlichen: Während der Industrialisierung ab dem 19. Jhdt. ermöglichte die Entwicklung von motorisierter Technologie und leistungsstarken Antrieben die Entstehung von Fabriken mit Massenanfertigungsanlagen. Die Gesellschaft gliederte sich basierend darauf in Besitzer(:innen) der Ressourcen und Mittel, um Gegenstände herzustellen, und in Besitzlose, denen nichts anderes übrig blieb, als für Lohn ihre Arbeitszeit zu verkaufen. Aus der gesellschaftlichen Gliederung in besitzende Ausbeuter:innen und besitzlose Ausgebeutete erwuchs eine eigene Kultur und ein spezifisches Bewusstsein: Die kapitalistisch gewirkte Denkweise reicht von der Bemessung des Wertes von Gegenständen nicht über ihren Gebrauchswert, sondern über den damit zu erwirtschaftenden Profit, über die Kodifizierung von privaten Eigentumsverhältnissen bis hin zur geschlechterspezifischen Rollenverteilung. Die Organisationsstruktur der Gesellschaft zieht eine Kultur nach sich, die zur Gesellschaftsorganisation passt und diese reproduziert.

Um die Gesellschaft angemessen und zielführend kritisieren zu können, muss man sie folglich von der Ursächlichkeit ihrer sozio-ökonomischen gesellschaftliche Tiefenstruktur her betrachten. Dazu gehört dann allerdings nicht nur, die Eigentumsfrage und Frage nach der gesellschaftlichen Organisation zu stellen, sondern auch, zu sehen, dass unsere Wertevorstellungen, mitsamt der Verurteilung mancher und Belobigung anderer, nicht einfach prinzipiell als moralisch richtig oder falsch gegeben sind. 

So ergibt sich eine ganze Verkettung von Prämissen, die einfach als Axiome (Satz, der keines Beweises bedarf) hingenommen werden. So lässt bspw. fragen: Warum gibt es eine genderspezifische Lohnlücke (knappere Rente durch Teilzeit aufgrund von Hauptlast bei der Kindeserziehung, schlechtere Bezahlung ‘typisch’ weiblicher Jobs, fehlende Entgelttransparenz sorgt für direkte Lohndisparität etc.)? à Warum trifft dies spezifisch Frauen? à Warum sind wir überhaupt (nur) Männer UND Frauen? Etc. 

Dabei handelt es sich weder um rein moralistische oder bloss finanzielle Fragen. Es geht letzten Endes auch darum, die Verfassung des eigenen Seins und der eigenen Rolle in der Gesellschaft als Resultat der sozio-ökonomischen Verhältnisse zu begreifen. Sprich, zu einem Bewusstsein als Klasse für sich zu gelangen: rassistische Ausgrenzung, sexistische Unterdrückung, seelische und körperliche Auslaugung durch Arbeit, Unterbezahlung, Atomisierung in der Gesellschaft etc.: Verschiedene Grunderfahrungen des Ausgenutzt- und/ oder Unterdrücktseins gründen in der kapitalistischen Ausbeutung. 

Nicht jeder:m gefällt indes diese Ausweitung des Fokus im Sinne einer Ausdifferenzierung der kapitalistischen Ausbeutung. Mitunter wird der Vorwurf ‘der selbstgerechten idealistischen Linken’ auch zum disqualifizierenden Rundumschlag:

Konservativ-Liberale bis hin zu Rechtsradikalen sehen solche vermeintliche ‘Wohlfühllinken’ auch nicht etwa als un-marxistisch an. Sie wittern dahinter eher eine sogenannte neomarxistische Agenda, wo nach dem humanitären Scheitern der Sowjetunion die Frage nach der ökonomischen Ausbeutung als Urgrund aller Unterdrückung in einer Art postmodernen Wende durch soziale Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten ersetzt worden sind, um sozusagen mehrheitsfähig zu bleiben. 

Rechts auf dem politischen Spektrum fürchtet man sich davor, dass der Neomarxismus alle Bildungsstätten erobert habe, um Egalität als Ergebnisgleichheit (im Gegensatz zu einer Chancengleichheit) zu re-defnieren, um dann weitere Grundpfeiler der Realität (bspw. die biologistische Definition einer Frau) umzustürzen und so die westliche Welt zu destabilisieren. Die Rechte wittert dahinter im Prinzip die alte sowjetische Zersetzungstaktik. 

Andere, darunter auch Linke wie Wagenknecht, sehen hier einfach nur das Bedürfnis der:des privilegierten Bildungsbürger:in, sich als moralisch gerecht (oder gar erhaben) empfinden zu können. Sie kontrastieren dieses Virtue Signaling mit echter linker Politik, die die materiellen Bedürfnisse der Menschen ins Auge fassen sollte.

Grundsätzlich ist Letzteres, also der Vorwurf einer nicht historisch-materialistisch ergründeten Weltanschauung oder sogar eines Virtue Signalings durchaus gerechtfertigt. Wer oder was aber unter diesen Vorwurf subsumiert wird, ist allerdings eine Diskussion für sich. Und während z.T. gewisse linke Politik, auch am äussersten ultralinksten Rand, tatsächlich selbstgerechter Idealismus von Wohlfühlmenschen ist, wird mit diesem Vorwurf z.T. auch der Fokus auf aus dem kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis gewachsene Unterdrückungsphänomene (systemischer Rassismus, postkolonialistische Abhängigkeitsverhältnisse, feminisierte Arbeit, Gender-Rollen und binäre Genderidentität etc.) grundsätzlich disqualifiziert. In letztere Rubrik ist denn auch Frau Wagenknecht zuzurechnen, die von der «Identitätspolitik» der «Woke-Bewegung» spricht. Konkret meint Frau Wagenknecht damit, dass Menschen primär von ihrer Zugehörigkeit zu marginalisierten sozialen Gruppen wie BIPoC, Frauen, nicht-binären Personen etc. her verstanden werden (ich nehme an anstatt in «Arbeiter und Mittelständler» oder vom Verhältnis zu den Produktionsmitteln her), und entsprechend in «Opfer- oder Tätergruppen» geteilt werden.

Das perfide ist, dass der Vorwurf je nach Zielgruppe durchaus zutreffen könnte: Hollywoodfilme werfen mit der weiblichen Besetzung ehemals männlicher Rollen wohl kaum die Frage auf, wie die Tiefenstruktur des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses aufzulösen sei, um Frauen ökonomisch unabhängig (Engels Definition von feministischer Freiheit liesse sich so zusammenfassen) zu machen.

Auf der anderen Seite wird Rassismus durchaus systeminhärent instrumentalisiert, um die privilegierte Ethnie als Arbeiteraristokratie (man kriegt die besseren Jobs) ans Ausbeutungssystem zu binden, die Einigung der lohnabhängigen Gesamtklasse zu vermeiden und ein Ressort für die normierte Überausbeutung zu schaffen. Auch die Aufteilung der Gesellschaft in zwei Geschlechter (trotz der wachsenden Akzeptanz gegenüber nicht-binären Personen gilt die Dichotomie Mann-Frau leider weiterhin als Norm; man akzeptiert andere Lebensentwürfe sozusagen als Abweichungen von der vermeintlichen Norm) steigert den Profit (weniger Gewinndeduktion für Lohn) der besitzenden Klasse, indem feminisierte Arbeit, die sozusagen die Träger:innen der Arbeitskraft selbst herstellt, in die Unbezahltheit des Eigenheims verdrängt wird. Auf kulturell-bewusstseinsmässiger Ebene äussert sich dies in der rechtfertigenden bzw. relativierenden Vorstellung, dass soziale Arbeit ohnehin dem fürsorglichen Wesen der Frau entspricht, oder dass diejenigen, die so aussehen oder neu zugezogen sind, unseren Wohlstand in wie auch immer gearteter Weise bedrohen.

Diese bewusstseinsmässig-kulturelle Dimension zu hinterfragen, d.h. auf ihre sozio-ökonomischen Ursachen und Funktionen zu prüfen, ist wichtig. Denn die Vorannahme, dass die unsere Wertevorstellungen schon richtig sind wie sind bzw. weil sie eben sind, verschleiert, wie genau der lohnabhängigen Klasse der von ihr geschaffene Wert abgeluchst wird, und wie die Kontrolle über das / die eigene Produkte / Dienstleistung entzogen wird.

Wie also über Frau Wagenknechts Standpunkt urteilen? Frau Wagenknecht stellt sich hin und findet Personen, die «solche Diskussionen [Debatte über die Entkoppelung von Gender und biologischer Veranlagung] führen», seien «irgendwie weit weg von dem Leben normaler Menschen», und hält solche Debatten für «Schwachsinn». Frau Wagenknecht übersieht so vollkommen die Auswirkungen des ökonomischen Unterbaus auf den kulturellen Überbau. Allerdings passt dies zu ihrer vulgären Auffassung von materiellen Umständen im Sinne blosser akuter Situation oder finanzieller Probleme (sie scheint immer nur von akuten Verarmungsphänomenen zu sprechen und sonst nur kurze phraseologische Wendungen wie «Kapitalismus überwinden» zu dreschen). Das Ausserachtlassen solcher Tiefenstruktur ist aber das eigentlich Un-marxistische. Es ist denn auch keine wirklich linke Politik. Denn oberflächliche Finanzprobleme können auch Nazis anpacken.

Vielleicht hängt die Kritik dieses vermeintlichen «Woke-Wahnsinns» auch damit zusammen, dass Frau Wagenknecht im rechten Becken fischen möchte, wo die Abhängigkeit des kulturellen Überbaus (was wir als falsch und verwerflich empfinden) und der sozialen Organisation (nicht nur als Gesamtgesellschaft, sondern auch als persönliche Liebesbeziehung) von der Art, wie wir wirtschaften, sprich der konkreten Form des Ausbeutung, keine Rolle spielt. Angestammte Tradition wie bspw. in tradierten Rollenbildern einen Rückzug zu suchen, bietet im rechten Becken vielmehr Anknüpfungspunkte. Wagenknecht selbst will natürlich weder irgendeine erdachte vergangene Glorie wiederherstellen, noch begreift sie die sozio-historische Entwicklung zyklisch. Etwas Derartiges hat sie nie auch nur angedeutet. Aber die Rede von «Wokeness-Wahnsinn» lässt sich zumindest als Versuch einer Konvergenz mit Meinungen lesen, die in den tradierten Bahnen der Sicherheit verkehren; vielleicht, weil sie sich durch kulturelle Modernisierung und wirtschaftliche Umstrukturierung abgehängt fühlen.

Bei aller Kritik will ich aber nicht unterschlagen und gutheissen, dass sich Frau Wagenknecht richtigerweise dagegen verwehrt hat, Rechtsaussenwähler:innen als grundsätzlich oder inhaltlich rechtsradikal motiviert abzustempeln und entsprechend einen Versuch befürwortet, diese Leute wieder abzuholen. Auch wenn man hierfür nicht über die Prinzipienfrage stolpern und sich inhaltlich anbiedern sollte.

«Wer von [den wirklichen Problemen] redet, darf von Kriegen, Drohnenterror und [Gas]geschäften nicht schweigen.»[1]

Frau Wagenknechts Ablehnung einer Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Folgen des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses öffnen reaktionären Kulturvorstellungen (wenn auch nicht zwingend so beabsichtigt) Tür und Tor. Sie begründet ihren Standpunkt indessen damit, dass die Menschen wichtigere oder dringendere Probleme, eben eigentlich ökonomische Probleme hätten. Ich möchte also auf Frau Wagenknechts Logik eingehen und wenigstens die Kohärenz ihrer Priorisierung der materiellen Situation prüfen.

Denkt man diese Logik der Priorisierung der akuten sozio-ökonomischen Not der in Deutschland lebenden Lohnabhängigen und klein-und mittelständischen Unternehmer:innen konsequent weiter, müsste doch die unterste Stufe der Maslowschen Bedürfnispyramide geradezu zentral sein: Das grundlegendste physiologische Bedürfnis ist natürlich das schiere Überleben selbst.

Solch eine Logik muss doch unausweichlich auch die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben der ukrainischen Bevölkerungen miteinschliessen… Wagenknecht fordert allerdings Verhandlungen mit dem Kriegsfürsten Wladimir Putin und nimmt[2] für die drohende Notlage in der Energieversorgung der Bundesrepublik eher die Ampelkoalition und deren «Wirtschaftskrieg gegen Russland» in der Verantwortung.

Ob sich Wirtschaftssanktionen aus dem einseitig «gestarteten verbrecherischen Angriffskrieg» «zwangsläufig» als die richtige Antwort ergeben – wie Frau Wagenknecht fragt –, ist durchaus eine legitime Frage. In diesem Sinne sind bspw. Sanktionen, die vor allem die russische Bevölkerung treffen, kritisch zu hinterfragen. Frau Wagenknecht fragt zudem, ob Sanktionen, die der Bevölkerung des eigenen Landes Entbehrung abverlangen, zu vertreten sind. Auch das ist eine legitime Frage. Im Falle der russischen Gaslieferungen entwischt Frau Wagenknechts scharfem Blick hier allerdings ein gewichtiger Aspekt, der fossile Energieträger, insbesondere in den Händen von despotischen Staaten, zu einem Sonderfall macht. Darauf kommen wir allerdings im nächsten Kapitel zurück.

Natürlich ist Frieden – wie Frau Wagenknecht durchschimmern lässt – erstrebenswerter, ohne jeden geringsten Zweifel. dabei ist es aber nicht unerheblich zu fragen, unter welchen Voraussetzungen Frieden eingegangen wird bzw. eingegangen werden muss. Denn Frieden ist eben nicht einfach gleich Frieden!  

Frau Wagenknecht fordert Frieden, ohne genauere Präzisierung der bei Friedensverhandlungen zu stellenden Bedingungen und was zu dessen Durchsetzung erforderlich wäre. Sie fordert den Frieden auch unverzüglich und ruft entsprechend zu Verhandlungen mit dem Kreml auf. 

Gleichzeitig reduziert sie das heikle Thema weiterer Waffenlieferungen (und Lieferungen weiterer Hilfsmittel logistischer Art) auf eine blosse Verlängerung des Krieges (im Gegensatz eines Ausbaus einer Machtposition gegenüber dem Aggressor). Tut also so, als würden durch mehr Kampfkraft auf ukrainischer Seite letztlich nur mehr Ukrainer:innen sterben, und impliziert im Umkehrschluss, dass sofortige Aufgabe der Kriegshandlungen schlicht weniger Tote zur Folge hätte. 

Man könnte dies auch so verstehen, als wolle Frau Wagenknecht den ukrainischen Widerstand bewusst einseitig als lebensverneinend framen. Und ich kann mir hier beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Person von Frau Wagenknechts Erfahrung und Intelligenz nicht die Konsequenzen dieses Narrativs absehen kann, dass sie produziert und reproduziert. Ihr Framing unterschlägt wohl gezielt, dass für die Ausgestaltung des Friedens entscheidend ist, wer am Verhandlungstisch um wie viel stärker ist. Stärke, die sich im Vorfeld leider nur durch militärische (oder wirtschaftliche) Überlegenheit erringen lässt. 

Warum aber sollte nicht jeder Frieden wünschenswert sein? Nun, wenn die Ukraine so geschwächt aus dem militärischen Konflikt hervorgehen würde, dass ihr nichts anderes übrigbliebe, als irgendeinen Diktatfrieden anzunehmen, anders gesagt, keine signifikanten Forderungen erheben könnte, könnte das Regime im Kreml ja tun und lassen, wie es ihm beliebt.

Dabei bescheinigen uns der umfassende Invasionskrieg seit dem Februar 2022 und die in diesem Rahmen systematisch verübten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ganz klar, wie vertrauenswürdig das gegenwärtige russische Regime ist. Angesichts des durch den Invasionskrieg verstärkten Unwillens der ukrainischen Bevölkerung(en), unter russischer Besatzung leben zu wollen, und des allseits bekannten Umgangs des russischen Regimes mit Dissident:innen und (auch zivilen) ‘Kriegs’gegner:innen kann von Wagenknechts Ernstnehmen der grundlegendsten physiologischen Bedürfnisse wie bspw. des (Über)lebens kaum mehr die Rede sein. Die massenhaften Verschleppungen und Tötungen ukrainischer Regierungsgegner:innen, die das bedeuten würde, spotten doch Wagenknechts Gegenüberstellung von vermeintlich wokem Virtue-Signaling und dem Anpacken akuter materieller Not. Es sei denn natürlich, sie folgte einer Germany first-Linie.

Nun unterstelle ich der werten Frau Wagenknecht – und womöglich ist dies in ihrer Vorstellung gar keine negativ aufzufassende Unterstellung –, dass sie die ‘Dimension der sozialen Frage’ nicht mit den beiden Dimensionen der ‘internationalen Solidarität‚ und der derjenigen der ‘geopolitischen Macht durch die Verfügungsgewalt über die jeweiligen fossilen Energieträger’ zusammendenkt. Dass sie die soziale Frage sowohl national als auch unabhängig von der künftigen Klimakatastrophe angeht und bewusst sagt, die:der deutsche Lohnabhängige und Mittelständler:in sollte für politische Repräsentant:innen in Deutschland an erster Stelle kommen. Doch selbst dann würde Wagenknecht ihre eigene Logik der Priorisierung materieller Notlagen nicht konsequent durchhalten: Zieht man die Historie von russischen Annexionen unter dem Putin-Regime – die mehr durch militärische Operationen und subversive Propaganda denn durch Eroberung lokaler Wirtschaftssysteme funktionierten – in Betracht, so dürften sich die Hoffnungen ziemlich zerstreuen, dass Putin an der ukrainischen Grenze Halt machen würde.

Sechs Jahre vor dem Abstreiten der Stationierung ungekennzeichneter russischer Truppen, dem fragwürdigen Referendum nach der Besetzung des Regionsparlaments der Krim und der schliesslich offenen Annexion der Krim versicherte Putin in einem ARD-Interview, dass die Krim kein umstrittenes Territorium sei, weil es dort zu keinen ethnischen Konflikten mit russischen Bürger:innen gekommen sei und die Verhandlungen mit der Ukraine um die Grenzziehung erfolgreich abgeschlossen seien. Putin anerkannte die teils gespannten multiethnischen Verhältnisse auf der Krim als innenpolitische Zuständigkeit der Ukraine an und fasste die Frage, ob durch Russland eine Einflussnahme auf die Krim geplant sei, sogar als persönliche Beleidigung auf.

Soll man sich wirklich wieder in die Abhängigkeit von einem Regime begeben, dem nicht zu vertrauen ist, dass es die Integrität der eigenen nationalstaatlichen Souveränität respektiert?

Man stelle sich das erfolgte Szenario nun ein erneutes Mal vor. Diesmal nicht ausgehend von 4% des ukrainischen Territoriums, um sich während der folgenden acht Jahre militärisch vorzubereiten, sondern mit dem Donbass und Teilen der Südukraine von rund 20%. Auch der Bau von Nordstream 2 fiel in diese Zeit zwischen dem Euromaidan 2013/2014 und der russischen Invasion 2022. Es ist nur äusserst schwer vorstellbar, dass die Abhängigmachung der stärksten Volkswirtschaft Westeuropas keine Rolle in der strategischen Politikgestaltung während dieser acht Jahre gespielt haben soll.

Sollte man sich nun also wieder in die angestammte Abhängigkeit zu den fossilen Energieträgern aus Russland begeben, wenn Russland womöglich gar nicht gedenkt, dauerhaft hinter den Toren der Ukraine Halt zu machen? Inwiefern denkt hier die werte Frau Dr. Wagenknecht noch sinnvoll an das Wohl der:des deutschen Ottonormalbürger:in?

Die Antwort auf die innen- und aussenpolitischen Krisen, denen die Bundesrepublik gegenübersteht, kann also nur lauten, dass man den ukrainischen Widerstand weiterhin materiell unterstützt.

Die ‘soziale Frage’ ist nur im Rahmen der ‘internationalen Solidarität’ und des ‘fossil-kapitalistischen Charakters von Geopolitik’ zu beantworten

Es würde Frau Wagenknecht gut zu Gesicht stehen, die Situation in drei miteinander verwobenen Dimensionen zu analysieren: ‘Die soziale Frage’, ‘die internationale Solidarität’ und die ‘geopolitische Macht durch die Verfügungsgewalt über die jeweiligen fossilen Energieträger’.

Die soziale Frage und die ökologische Frage

Zwar behält Frau Wagenknecht durchaus Recht damit, dass die Ampelkoalition an der:am bedürftigen Bürger:in vorbei regiert und dass die drohende Energieversorgungskrise den Lohnabhängigen und Kleinunternehmer:innen Deutschlands (bzw. Europas) zulasten kommen wird. Ich will das aber etwas präzisieren: Die Energieversorgungskrise und ihre Kosten werden auch auf die Gemeinbevölkerung ‘abgewälzt’ werden. Denn eine gewisse finanzielle Entlastung für die ökonomischen Schwächsten ist möglich, ungeachtet der Frage, ob das fehlende russische Gas rechtzeitig billig ersetzt werden kann oder nicht. Warum redet niemand darüber, (zumindest übergangsweise) eine stark progressiv ansteigende Steuer für natürliche und juristische Personen zu erlassen, um die Kosten zu quersubventionieren bzw. systematisch umzuverteilen. Energieknappheit wird auf jeden Fall teuer. Aber sie kann auch sinnvoller, d.h. solidarischer geschultert werden, indem bis zu einem gewissen Verdienstvolumen jeder zu bezahlende Energiepreis auf den Stand von vor dem Juli 2022 gedeckelt wird und den Grossverdiener:innen und Grossunternehmen überwälzt wird.[3]

Zudem muss man davon wegkommen, als für das Überleben der Menschheit, wie wir es kennen, gefährliche fossile Energieträger rehabilitieren zu wollen, bspw. die befristeten Endlaufzeiten von Kohle– oder Atomkraftwerken verlängern zu wollen. Im besten Fall wird damit die Zuspitzung der sozialen Frage nach vorne verschoben, d.h. die ohnehin notwendigen Umstrukturierungen von Energiegewinnung und Produktion in noch engere Zeiträume verschoben.

Die soziale Frage hing immer mit dem ausbeuterischen Charakter aller Gesellschaften und ihren jeweiligen ökonomischen Organisationsformen zusammen. In diesem Sinne waren bisher alle ausbeuterisch; die Sowjetunion eingeschlossen und zwar nicht erst nach 1924. 

Um die volle Komplexität des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses und der damit zusammenhängenden sozialen Frage zu begreifen, muss man sehen, dass die Triebfeder einer Marktwirtschaft der Drang nach der fortwährenden Akkumulation von Kapital ist. Eine durch Privatbesitz an den Produktionsmitteln konstituierte Wirtschaft wird immer durch die fortschreitende Vermehrung persönlichen Profits angetrieben. Profitsteigerung wird erreicht, indem Kosten gesenkt werden. Dies gilt nicht nur für die Ressource Mensch, indem Lohn bzw. auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Sozialstaat eingespart wird, sondern auch durch möglichst billige und dennoch effiziente Produktion. Die fossilen Energieträger bewirkten nicht ohne Grund ab dem 19. Jhdt. eine wahre Entwicklungsexplosion. Der Kapitalismus ist mit seinem Drang zu Marktwachstum und Maximierung der Profitrate unlöslich an die Verheizung billiger und energiereicher Energieträger gebunden.

Wer die soziale Frage beantworten will, muss an allen Ecken der kapitalistischen Tiefenstruktur anpacken. Eine integrale Ecke ist der Zusammenhang zwischen Wachstumslogik und fossilen Brennstoffen. Neben der Eigentumsfrage ist die Frage der Produktionsnachhaltigkeit und damit zusammenhängend jene der Energiegewinnung essentiell, um die soziale Frage erfolgreich anzugehen.

Deswegen ist es weder als Meinungsschaffung noch als tatsächliche politische Strategie sinnvoll, den sogenannten ‘Wahn der erneuerbaren Energien’ gegen die akute Energienot auszuspielen. Solche Losungen funktionieren lediglich, weil Frau Wagenknechts Schilderungen weder die kapitalistische Tiefenstruktur (Kapitalismus ist immer ein fossiler Kapitalismus) noch die Notwendigkeit zu mittelfristigen Änderungen (kapitalistischer Akkumulationsdrang erzeugt Ressourcenverknappung durch Raubbau und Klimakatastrophen durch fossile Brennstoffe) berücksichtigen.  

Man hört in solchen Zusammenhängen auch oft Losungen à la ‘lieber Russisches Gas als Deutschland an Energiepreisen bankrott gehen zu lassen[4], was uns zur nächsten Dimension der sozialen Frage überleitet.

Die soziale Frage und geopolitische Macht im fossilen Kapitalismus

Zu guter Letzt darf die Suche nach Alternativen zu russischem Gas und zu alten deutschen Kraftwerken nicht zur OPEC führen. Neben der Missachtung und Vernichtung von menschlichem Leben, das man so finanzieren würde, macht man sich auch anfällig für die Erpressungstaktik in geopolitischen Machtspielchen. Bspw. sollen mit der angestrebten Drosselung der Ölfördermengen (Kürzung der Produktion um 318 Millionen Liter Öl am Tag bis zu einem bestimmten Zielwert) Marktpreise künstlich und bewusst hochgetrieben werden.

Mit einer Intensivierung unserer Abhängigkeit von der OPEC und anderen Lieferanten fossiler Rohstoffe manövrieren uns also nur erneut in dieselbe Bredouille, in der wir schon mit dem russischen Regime steckten: Wegschauen bei menschenrechtswidrigen Gräueln im Tausch gegen die Aufrechterhaltung der eigenen Energieversorgung. Schurkenregime der Welt nutzen die politische Macht, die sie durch unsere Abhängigkeit vom Hahn, den sie nach Belieben auf- und zudrehen können, um in ihrem Land und mit ihren Nachbarn zu machen, was sie wollen. Die «billigen Rohstoffe», wie sie Wagenknecht nennt, haben eben doch ihren Preis.

Wenn man die ‘soziale Frage’ von der ‘internationalen Solidarität’ und der ‘geopolitischen Machtpolitik vermittels billiger Rohstoffe’ jeweils isoliert begreift, fällt einem dieser Preis eben nicht auf. Aber auf der Quittung wird ganz deutlich stehen, dass unser Einknicken in der internationalen Solidarität für all jene despotischen Potentat:innen, die uns über unsere Abhängigkeit von ihnen gefügig machen, nichts weiter ist als ordinäre geopolitische Machtpolitik.

Von der Putinversteherin zur Putindulderin: Frau Dr. Wagenknecht behält absolut Recht darin, dass die Ampelkoalition bei anderen Potentat:innen kuscht, um an billige fossile Rohstoffe zu gelangen. Und sie behält auch darin Recht, dass man der USA in ihrem Imperialismus Einhalt gebieten müsste. Es ist nur seltsam, dass sie umgekehrt zwar durchaus die Aggression des russischen Regimes anerkennt, diese aber gleichzeitig nicht ausreichend schlimm zu finden scheint, um ihr Einhalt zu gebieten.

An dieser Stelle lässt sich nun Frau Wagenknechts berechtigte Frage nach Sanktionen, die das russische Gas betreffen, wiederaufnehmen und beantworten: Die Vorstellung, unser lieber Wowotschka sässe ganz verdutzt da, weil wir plötzlich nicht mehr wohlwollend mit ihm handeln wollten, ihm und uns praktisch aus dem Blauen heraus die Win-Win-Situation aufkündigen würden, ist unsinnig. Rein propagandistisch spielt der Kreml unsere Abhängigkeit vom russischen Gas ja bereits jetzt schamlos aus. Das Diskurselement der Energieknappheit und der armen zivilen Bürger:innen in Deutschland, die der herrschenden Elite in ihrem Sanktionswahn egal seien, wird ja bereits zielgerichtet eingesetzt, um über russische Kreml-nahe Sender die Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand in der Bevölkerung zu manipulieren.

Wem Wagenknecht damit letztlich in die Hände spielt

Frau Dr. Wagenknecht relativiert nolens volens Putins ungerechtfertigten Angriff gegen die Ukraine und den Kriegsannektionismus des Kremls, indem sie andere Personen, Institutionen und Staaten als Urheber negativer Handlungen, bspw. die Bundesrepublik als Urheber eines „Wirtschaftskrieges“ beschreibt oder indem sie die soziale Frage in Deutschland und den Angriffskrieg gegen die Ukraine als gegensätzliche Interessen inszeniert. So unterstützen die Aussagen der werten Frau Doktor unfreiwillig auch die Helfershelfer:innen der russischen Propaganda im Westen.

Damit schlägt unsere werte Frau Doktor unfreiwillig in dieselbe Kerbe wie etwa Alina Lipp, die auf ihrer Website Neues aus Russland den russischen Kriegsannektionismus seit dem 24. Februar 2022 als defensive Reaktion eines besorgten Kremls auf den innerukrainischen Krieg seit 2014 – der überhaupt erst durch die aktive sezessionistische Intervention Russlands zu einem grossflächigen gewalttätigen Konflikt ausgeweitet worden war – behauptet.

Damit stösst unsere werte Frau Doktor ungewollt ins selbe Horn wie der kremlfreundliche Propagandist Thomas Röper, der auf seiner Website mit dem pseudo-originellen Namen Anti-Spiegel Deutschland als Land darstellt, das sukzessive seine Pressefreiheit einschränkt, während Russland als Hafen der Freiheit gelobt wird. Ein gewisses analoges Momentum zur werten Frau Doktor ist schon auszumachen, die auch lieber von Deutschland als Urheber eines Wirtschaftskrieges spricht.

Damit geht unsere Frau Doktor in dieselbe Richtung wie Sergej Filbert, der auf seinem Sender Druschba FM (Freundschaft FM) eine Talkshow mit dem fast noch originelleren Namen NATO-Untersuchungsausschuss unterhält oder den YouTubekanal Golos Germanij betreibt, wo er Auszüge aus deutschen Nachrichtenformaten mit einem russischen Kommentar dubbed, um Entwicklungen in Deutschland einem russophonen Publikum zugänglich zu machen. Aber tatsächlich reisst Filbert Ereignisse aus ihrem Zusammenhang und verzerrt die Sachlage, um das Narrativ zu kreieren, dass der Westen den russischen Angriffskrieg als defensive Reaktion provoziert habe. Der Westen wird so zum Verursacher, während der (arme) Kreml zuschauen müsse, wie in der Ukraine zwei Brüdervölker entzweit werden.
Hinter dem Con Act der Völkerfreundschaft, die uns Druschba FM vorgeblich für Deutschland und Russland erhalten will, versteckt sich letztlich nur der schnöde Versuch, den Narrativen aus dem Kreml Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Solche Sender wollen demoralisieren und die prinzipielle Treue gewisser Bürger:innen zu den Regierungen ihrer Heimaten angreifen. Dafür greifen sie sowohl durch personelle Kontakte wie auch vermittels konkreter Ideologeme rechtsgerichtete Narrative auf. Im Prinzip wendet der Kreml über selbstständige Sender als Surrogates eine Form der Zersetzungsstrategie zur gesellschaftlichen Destabilisierung an. An der Stelle unserer werten Frau Doktor würde ich mich daher selbst hinterfragen, wie’s kommt, dass ich so viele inhaltliche Konvergenzen und Sympathien gegenüber denselben Personen zeige wie die einschlägigen kremlfreundlichen Propagandist:innen…

Aber nicht nur unsere werte Frau Dr. Wagenknecht – auch andere vermeintliche Linke, vor allem aus dem poststalinistischen Lager, allerdings ebenso die ach so selbstbestimmungsfreundliche SGP, stimmen mitunter auf solche Diskurspositionen ein. Dabei muss durchaus zugestanden werden, dass eine regierungskritische, ja regierungsfeindliche Linie gegen bürgerlich dominierte Gesellschaften – insbesondere aus einem Rätegedanken heraus – zwar grundsätzlich durchaus wünschenswert und notwendig ist. Aber dass so eine Haltung nicht gleichzeitig die geopolitische und geheimdienstliche Macht von ebenso bürgerlich beherrschten Gesellschaften stützen darf, die zudem so autoritär sind, dass sie die dortige freie Äusserung, Meinungsbildung, Bewegung und Organisation der Lohnabhängigenklasse ersticken.

Dass die austreibenden Ränke des Kremls bereits Früchte tragen, zeigen unterdessen Videos von YouTube-Content-Produzent:innen wie Salim Samatou, die zwar nicht mit dem Kreml in Verbindung stehen, aber solche Narrative versatzstückartig übernehmen und weiter tradieren. Kurzsequenzen solcher Clips werden dann – mit Songs wie Ka$tro’s in Essence oder Jean Trash’s Akunin unterlegt, um dem Ganzen eine konspirative Aura von aufgedecktem Elitengeheimnis zu verleihen – massenhaft über TikTok-, YouTube- oder Snap-Reels verbreitet.

In diesen wahrheitsfeindlichen Chor stimmt schlussendlich eben auch Frau Wagenknecht unfreiwillig ein.

Falschdarstellung der Situation

Und auch wenn die nicht beabsichtigte «Preisexplosion» aufgrund er Sanktionen verhindert, dass die russische Regierung an den Gassanktionen rasch verarmt, wie Wagenknecht richtig herausstellt, kann deswegen noch lange nicht einfach zum früheren Gashandel zurückgekehrt werden. Nicht nur, dass Russland dadurch ebenso profitieren und letztlich mit noch mehr Mitteln und moralisch bestärkt, seinen Invasionskrieg finanzieren würde, sondern dass dann der Ball beim Kreml läge und Putin den Gashahn jederzeit eigens zudrehen könnte. Anders gesagt, will man Herrn Wladimir Wladimirowitsch KGB-Oberstleutnant Putin den Wind denn etwa wieder in die Segel legen? Und will man signalisieren, dass wir – abgesehen von offiziellen Verurteilungen – alles tolerieren, solange wir konsumieren? 

Wagenknechts Framing der Reaktion der Ampelregierung auf den russischen Angriffskrieg ‘als Wirtschaftskrieg, der erstinstanzlich von der Bundesrepublik ausging’, passt also nicht mit der Bedrohung für Europa zusammen, zu welcher der Kreml durch hybride Kriegsführung in Westeuropa und eigentlichem Krieg in der Ukraine beiträgt. Richtiger wäre, dass die Autokratie im Kreml die soziale Frage in Deutschland ausspielt, um ihren Gegner geopolitisch zum Einlenken zu bringen, indem sie die Abhängigkeit von ihrem Gas ausnutzt.

Für eine holistische linke Betrachtungsweise

Abschliessend muss noch die Invasion Armeniens durch das praktisch dynastisch-autokratische Aserbaidschan (die Aliyew-Familie ist seit beinahe drei Jahrzehnten Alleinherrscherin) angesprochen werden, die Wagenknecht leider in whataboutistischer Weise gegen diejenigen ausspielt, die sich (nur) mit der nationalstaatlichen Integrität der Ukraine solidarisch zeigen. Unsere Solidarität muss natürlich auch Armenien gelten! Natürlich sind die Vertreter:innen der Ampelkoalition verlogen. Wagenknecht behält nicht Unrecht in ihrem Vorwurf der Doppelmoral. Allerdings ist ihre opportunistisch abgeklärte Position, einem despotischen und kriegstreiberischen Wladimir Putin das billige Gas praktisch als Sachzwang abkaufen zu müssen, nicht wirklich besser. Denn die Solidarität mit den Unterdrückten des einen Konflikts gegen die Solidarität mit anderen einzutauschen, macht die Sache ja nicht besser! Die andere Seite der Medaille, sowohl für den Standpunkt Wagenknechts wie auch denjenigen der Ampelkoalition, liest sich wie folgt: «Von welcher imperialistischen Schurkenregierung lassen wir uns denn nun erpressen?»

Stattdessen sollte sich die Frage aufzwingen, wie denn sonst sinnvolle linke Solidarität möglich ist. Eine ernstzunehmende Linke muss nämlich solche geopolitischen Machtausdehnungen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen, in einem Gesamtzusammenhang sehen: Die sozialen Fragen in der Schweiz, Deutschland, OPEC-Staaten wie Qatar oder der Ukraine sind miteinander vernetzt, weil die imperialistischen Potentat:innen, die die Welt unter sich aufteilen wollen, die fossilen Ressourcen, auf denen sie sitzen, bewusst einsetzen, um andere Staaten gefügig zu machen, d.h. ungestört ihrer Unterdrückung und Annexion walten zu dürfen. Dagegen kann nur helfen, dass man einerseits erkennt, dass ‘die soziale Frage’ (in jedem Land) nur im Rahmen ‘internationalistischer Solidarität’ in seiner vollen Komplexität begriffen und gelöst werden kann. Und dass man andererseits ebenso erkennt, wie der Akkumulationsdrang einer Marktwirtschaft nicht nur die Energiereichhaltigkeit und Billigkeit fossiler Brennstoffe bedingt(e), sondern mit der Standardmässigkeit fossiler Energiegewinnung auch ein System geschaffen hat, wo die ‘Verfügungsgewalt über besagte fossile Brennstoffe heute eines der effizientesten geopolitischen Druckmittel’ geworden ist.

von João Woyzeck (BFS Zürich)


[1] Im Original sagt Frau Wagenknecht anlässlich der Bundestagsdebatte vom 24.09.2015 bzgl. Regierungserklärung zum EU-Sondertreffen zu Flüchtlingen und zum UN-Nachhaltigkeitsgipfel: «Wer von Flüchtlingen redet, darf von Kriegen, Drohnenterror und Waffengeschäften nicht schweigen. Und deshalb lösen wir das Flüchtlingsproblem nicht durch weitere Asylrechtseinschränkungen, auch nicht durch Gefeilsche um europäische Quoten, und schon gar nicht durch neue Mauern, sondern nur, wenn Europa endlich aufhört, die USA dabei zu unterstützen, immer größere Teile des Nahen und mittleren Ostens und Nordafrikas in einen Brandherd zu verwandeln.» Abrufbar hier (24.09.2015).

Diese Aussage ist an sich Blick unterstützenswert – wobei Frau Wagenknecht durchaus schon eine zahlenmässige Überforderung Deutschlands mit Geflüchteten gegen Änderungen der Intervention in den Herkunftsländern ausgespielt hat. Allerdings werfe ich ihr vor, sich nicht gegenwärtig nicht ihrer Rede nach zu verhalten. Die Gazprom ist ein Staatsunternehmen und 2020 stammten 20% des russischen BIP aus dem Handel mit Öl und Erdgas. Es bedürfte nicht vieler Umwege innerhalb der russischen Institutionen, um mit einem fortgesetzten Gaskauf durch (West- und) Mitteleuropa genau in den Krieg zu investieren, dessen Bekämpfung Westeuropa und Nordamerika gerade teuer unterstützen. Wichtiger ist mir aber der humanitäre Aspekt. Dass ihr konsequentes Feindbild – bei Russland verurteilt sie lediglich, fordert aber keine Folgen – nur auf der einen Seite des Pazifiks zu finden ist, lässt vermuten, dass ihre Putinfreundlichkeit trotz der Maske, die Putin fallen lassen hatte, nicht ganz gebrochen wurde. 

Es bleibt abzuwarten, welche Parolen Frau Wagenknecht ergreifen wird, falls die Stimmung kippt und in West- und Mitteleuropa um Quoten für ukrainische Geflüchtete gefeilscht werden wird. Einer Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine steht sie schon einmal nicht wirklich im Wege… 

[2] Das Wort «nehmen» statt etwa «sehen» ist bewusst gewählt: Frau Wagenknecht behauptet nicht, der Westen habe den russischen Angriffskrieg provoziert. Hier hat sie durchaus, bedingt durch den besagten Angriffskrieg selbst, eine inhaltliche Kehrtwende vollzogen.

[3] Frau Wagenknecht wirft dem Bundesminister für Wirtschaft und «Klima»schutz Habeck zurecht vor, rückgratlos zu sein, indem sie einen Vergleich zur französischen Regierung zieht, die den Preisanstieg des Stroms für 2022 (bei ausbleibender Preisanpassung fürs Folgejahr) grundsätzlich auf 4% begrenzen will. Aber auch das reicht nicht. Umstrukturierungen in der Stromzulieferung sind kostspielig und werden es auch bleiben. Aber eine längerfristige Umverteilung nach Vermögensstärke und Verantwortung (z.T. Verschulden) gestaltet das Durchstehen der harten Zeit fairer.  

Zu den gestiegenen Heizöl- und Treibstoffpreisen siehe: https://www.energie-und-management.de/nachrichten/wirtschaft/beratung-studien/detail/heizoel-ist-2022-so-teuer-wie-noch-nie-159584 und https://de.statista.com/statistik/daten/studie/776/umfrage/durchschnittspreis-fuer-superbenzin-seit-dem-jahr-1972/

[4] Tatsächlich sagte Frau Wagenknecht: «Das größte Problem ist Ihre grandiose Idee, einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen […] Die Vorstellung, dass wir Putin dadurch bestrafen, dass wir Millionen Familien in Deutschland in die Armut stürzen und dass wir unsere Industrie zerstören, während Gazprom Rekordgewinne macht. […] Und wo haben Sie denn Ersatz aufgetan, Herr Habeck? Bei amerikanischen Fracking-Das-Anbietern, die aktuell 200 Mio. € Gewinn Mit jedem einzelnen Tanker machen: Klar, so kann man Gasspeicher auffüllen. Aber den Ruin von Familien und Mittelständlern, die diese Mondpreise am Ende bezahlen müssen, den werden Sie damit nicht aufhalten […]  Verhandeln wir in Russland mit Russland über eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen!»

Bilderverzeichnis:

Schwarzes, T. [@TSchwarwel]. (10.09.2022). „Sahra Wagenknecht mit Wirtschaftskrieg-Vorwurf im Bundestag: Linken-Bundestagsabgeordnete fordert Verhandlungen mit Russland über Gaslieferungen, ‚egal über welche Pipeline’“ [Tweet]. Twitter.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert