Seit Wochen gehen in Peru tausende Menschen, in grosser Mehrzahl Indigene, auf die Strassen. Im Dezember 2022 hatte der damalige Präsident Pedro Castillo versucht, den Kongress aufzulösen. Er wurde stattdessen abgesetzt und verhaftet. Castillo war ein Hoffnungsträger für arme Menschen aus Perus Süden gewesen: Er sollte der Korruption in Peru endlich ein Ende setzen. Seine Vizepräsidentin Dina Boluarte, die nun an seine Stelle gerückt ist, wird stattdessen als Vertreterin des politischen Establishments gesehen. Sie begegnet den Protesten gegen sich und gegen die Verhaftung Castillos mit brutaler Polizeigewalt. Pablo Stefanoni erklärt in diesem Artikel die Hintergründe, die zu diesem Konflikt geführt haben. (Red.)
von Pablo Stefanoni; aus alencontre.org
Am Mittag des 7. Dezember 2022 trat der noch amtierende Präsident Pedro Castillo im Fernsehen auf und kündigte in einer alarmierenden Rede die vorübergehende Auflösung des Kongresses, die Neuorganisation der Justiz und eine Notstandsregierung an, die mithilfe von Gesetzesdekreten agieren sollte. Ebenso kündigte er die baldige Durchführung von Wahlen zur Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung an. Schliesslich verhängte er eine landesweite Ausgangssperre. Diese zehn Minuten beendeten eine 18-monatige Regierungszeit, in der Pedro Castillo nicht in der Lage gewesen war, den Staatsapparat zu lenken, und erratisch gehandelt hatte. Er hatte sich vor allem darum bemüht, nicht von einem Kongress abgesetzt zu werden, der sich vom ersten Tag seiner Regierungszeit an gegen ihn verschworen hatte.
Zunächst repräsentierte die Regierung die verschiedenen linken Strömungen – einschliesslich der städtischen Linken aus Lima, welche Persönlichkeiten wie den Ökonomen Pedro Francke fördert (Francke war Ökonom bei der Zentralbank von Peru und der Weltbank). Doch die Schwierigkeiten der Kabinettsmitglieder, sich mit dem Präsidenten abzustimmen, und das Abdriften der Regierung entfremdeten Castillo allmählich von vielen seiner Mitstreiter :innen. In eineinhalb Jahren wechselte Pedro Castillo mehr als 70 Minister aus und hatte fünf Ministerratsvorsitzende. Manchmal kam es zu abrupten ideologischen Wechseln wie die Entlassung von Ministerpräsidentin Mirtha Vásquez, eine Anwältin für Menschenrechte und Umwelt, durch den rechtsextremen Héctor Valer von der Partei Renovación Nacional.
Während dieser ganzen Zeit versuchte die zersplitterte Opposition im Kongress immer wieder erfolglos, den Sturz des Präsidenten zu erwirken. Ihr Vorwand war die sogenannte „permanente moralische Unfähigkeit“ des Präsidenten. Schliesslich umgab sich Castillo mit sogenannten Vertrauten, die immer geschlossener und undurchsichtiger wurden, darunter auch Führungspersönlichkeiten aus seiner Heimatregion [Provinz Chota]. Die Korruption in der öffentlichen Verwaltung löste verschiedene Steueruntersuchungen aus, die immer näher an Pedro Castillo heranrückten.
Castillos Entscheidung, den Kongress aufzulösen, war ein Sprung ins Leere. Ohne politische oder militärische Unterstützung und ohne die Kraft des Volkes auf den Strassen ging sein selbst gestecktes Ziel letztlich nach hinten los. Der Kongress holte – diesmal extrem schnell – die notwendigen Stimmen ein, um ihn vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden Krise seines Amtes zu entheben. Nur wenige Abgeordnete wagten es, das Misstrauensvotum abzulehnen.
Castillo wurde innerhalb von zwei Stunden nach der Auflösung des Kongresses von seinen eigenen Leibwächtern verhaftet, als er versuchte, zur mexikanischen Botschaft zu gelangen, um Asyl zu beantragen. Die rasche Verhaftung offenbarte auch die politisch-bürokratische Koordination zwischen dem Militär, den Kongressabgeordneten und der Justiz, die einen Gegenangriff auf den Präsidenten starten, der bis an die Grenzen der Legalität ging. In den Mainstream-Medien machten Analyst:innen und Journalist:innen keinen Hehl aus ihrer Begeisterung über den Umschwung. Regierungskritiker:innen kombinierten die Argumente der institutionellen Verschlechterung und Castillos Unfähigkeit, das Amt des Präsidenten zu führen, mit dem überheblichen Gefühl, einen Eindringling vertrieben zu haben, der aufgrund der Repräsentationskrise der peruanischen Politik und der Implosion des Parteiensystems in den Präsidentenpalast gelangt war. Diese Klassenarroganz erklärt zum Teil die Protestwelle, die auf die verfassungsrechtlich vorgesehene Einsetzung der Vizepräsidentin Dina Boluarte erfolgte.
Vom Land in die Stadt, vom „rondero“ zur Präsidentschaft
Der aus der Provinz Chota in der Region Cajamarca stammende Pedro Castillo erlangte 2017 landesweite Berühmtheit, als er einen von der Basis angeführten Lehrer:innenstreik anführte. Da ein Teil dieser Bewegung durch Gruppen unterstützt wurden, die mit den Überresten der Guerilla des Leuchtenden Pfades in Verbindung stehen, wurden die Lehrer:innen und Castillo selbst damals „terruqueados“ genannt. Das ist in Peru eine rhetorische Waffe, um seine Gegner als Terroristen zu diskreditieren.
Doch bei der Wahl von Castillo im Jahr 2021 war dieser Streik schon lange her und nur wenige erinnerten sich an den Lehrer aus Chota. Pedro Castillo – der der zentristischen Partei Peru Posible des ehemaligen Präsidenten Alejandro Toledo [Juli 2001-Juli 2006] angehört hatte – hatte sich an den Versuchen beteiligt, eine Lehrerpartei zu gründen, doch die Pandemie und der Mangel an Ressourcen untergruben diese Pläne. Schliesslich kandidierte er für die Partei Peru Libre.
Tatsächlich war Pedro Castillo in der ersten Phase der Wahlkampagne ausserhalb des Radars der grossen Medien und der Analyst:innen. Wieder einmal stellten sich viele die Frage: Wer ist Pedro Castillo? Ausserdem erinnerten viele an den Streik von 2017, seine „populistische“ und „radikale“ Rhetorik und warfen ihm erneut Verbindungen zum Leuchtenden Pfad vor.
Peru Libre, die Partei, die ihn aufstellte, definiert sich selbst als „marxistisch-leninistisch-mariateguitisch“ [José Carlos Mariategui, 1894-1930, peruanischer Marxist mit einem spezifischen Ansatz zur indigenen Frage und zu kulturellen Fragen, Anm. d. Red.]. Gleichzeitig präsentiert sich diese Partei aber auch als „Provinzlinke“, was in einem Land wie Peru, das zwischen dem tiefen Land und den Eliten in Lima gespalten ist, eine besondere Bedeutung hat. Castillo, der einen Chotano-Hut trug, den er nie ablegte, sprach zu einem Peru, das sich historisch ausgegrenzt fühlt. Er stellte sich nicht als Indigener vor, sondern als Bauer und „Rondero“, in Anspielung auf die Bauernpatrouillen, die in seiner Heimatregion Cajamarca in den 1970er Jahren zur Bekämpfung von Viehdiebstahl gegründet wurden. Diese wurden in den 1980er Jahren im ganzen Land eingeführt, um die Guerilla des Leuchtenden Pfades zu bekämpfen. Sie fungierten oft als Autorität auf dem Land (Starn, 1991).
Die Kampagnenstrategie von Pedro Castillo bestand zunächst darin, sich in den Kleinstädten zu stärken und von diesen Gebieten aus, in denen er eine lokale Rolle spielen konnte, in die Grossstädte vorzudringen und schliesslich zu versuchen, Lima zu erobern. „Vom Land in die Stadt“, wie es sich die alten peruanischen Maoisten erträumten, aber diesmal sollte die Macht von den Wählern ausgehen und nicht aus dem „Rachen des Gewehrs“.
Am Ende besiegte Pedro Castillo Keiko Fujimori [Tocher des zwischen 1900 und 2000 diktatorisch regierenden Präsidenten Alberto Fujimori, Anm. d. Red.] mit 50,13% zu 49,87%. Beide schafften es mit weniger als 20 Prozent der Stimmen in die zweite Runde. Bei dem Versuch, die Hälfte plus eins zu erreichen, stützten sie sich auf sich gegenseitig überkreuzende Ängste. Die eine Hälfte des Landes stimmte gegen den „Kommunismus“ – wie es der Schriftsteller Mario Vargas Llosa proklamierte – und die andere gegen die Rückkehr eines Fujimori an die Macht. […]
Die Veränderung, die nicht stattgefunden hat
Im Gegensatz zu Evo Morales, der, bevor er 2005 Präsident wurde, die Parlamentsfraktion der Bewegung zum Sozialismus (MAS) angeführt hatte, als Führer der Kokabauern mit verschiedenen Regierungen verhandelt hatte und regelmässig ins Ausland eingeladen worden war, machte Pedro Castillo einen direkten Sprung aus der Region Cajamarca nach Lima und brachte als einziges Kapital seine Erfahrungen als Gewerkschafter in der Provinz mit. Anders als in Bolivien, wo der Regierungssitz La Paz eine plebejische und traditionell kämpferische Stadt ist – was die Macht von Evo Morales schützte -, war Lima von Anfang an feindliches Territorium für den neuen Präsidenten.
Während der Triumph der MAS das Ergebnis eines langen Niedergangs der oberen Eliten in den westlichen Anden war, die von neuen Wirtschaftseliten indigener Herkunft herausgefordert wurden, kam Pedro Castillo fast zufällig an die Macht, da er in der letzten Woche vor den Wahlen gute Umfragewerte erzielte. Während Morales schliesslich auf die enorme Stärke der MAS zählen konnte, eine auf Gewerkschaftsstrukturen gestützte Partei mit einer sehr starken territorialen Verankerung, trat Castillo als Gast einer Partei an, deren Stärke sehr begrenzt war.
Während die Rechte ihn weiterhin als eine Art überfallsbereiten Kommunisten sah, war die Linke von seinem Mangel an transformativer Politik enttäuscht. „Die Erbsünde von Pedro Castillo ist nicht nur die Art und Weise, wie er seine Ministerkabinette zusammengestellt hat, sondern auch die Art und Weise, wie er ein undurchsichtiges System ins Leben gerufen hat“, fasste die ehemalige linke Abgeordnete Marisa Glave (Stefanoni, 2022) zusammen. In der Presse wurden sie aufgrund ihrer Herkunftsregionen nicht ohne Verachtung „los chotanos“ [aus Chota] oder „los chiclayanos“ [aus Chiclayo im Norden Perus, enger Kreis um Castillo] genannt. In einigen Fällen handelte es sich um Personen, die Castillos Wahlkampf finanziert hatten und die schliesslich die Regionen des Staates wahltaktisch neu aufteilten. So rückten die Korruptionsvorwürfe immer näher an den Präsidenten heran, und gegen die First Lady Lilia Paredes ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft.
Castillo distanzierte sich nicht nur von der „Kaviar“-Linken, sondern auch von Perú Libre. Infolgedessen schrumpfte seine Basis und er konnte der Opposition im Kongress nie einen Waffenstillstand abringen. Der Kongress war bereits von Anfang an zersplittert und zerfiel weiter, z. B. durch mehrere Abspaltungen innerhalb der Parlamentsfraktion von Perú Libre. Im Rahmen dieser Schikanen hinderte der Kongress den Präsidenten an mehreren Auslandsreisen. Vergeblich legte Castillo im Februar dieses Jahres seinen Chotano-Sombrero ab und trug einen Anzug, um seine Figur weniger auffällig erscheinen zu lassen.
Der Rassismus durchdringt den politischen Diskurs in Peru. Bereits während des Wahlkampfs warf der Journalist Beto Ortiz die Kongress-Kandidatin Zaira Arias aus seiner Fernsehsendung und zeigte damit, dass die „politische Korrektheit“ Teile der Elite in Lima nicht erreicht. Er beschimpfte sie als „Obst- und Gemüsehändlerin“ und verkleidete sich anschliessend – mit seiner üblichen Theatralik – als Indianer, um Pedro Castillos „neues Peru“ sarkastisch zu begrüssen. Bei den Protesten nach Castillos Entlassung fragte ein Fernsehmoderator einen Polizeichef: „Warum haben Sie ihnen nicht in den Kopf geschossen?“. Die Frage war nicht rhetorisch gemeint: Als dieser Beitrag verfasst wurde, gab es bereits 26 Tote (Turkewitz, 2022; Anmerkung der Redaktion: Stand Anfang Februar rund 50 Menschen).
Die Entscheidung des Präsidenten, den Kongress aufzulösen, kam für die meisten Minister überraschend und wurde von der demokratischen Linken abgelehnt. Letztere sah in der Entscheidung einen gescheiterten Staatsstreich, der an den Selbstputsch von Fujimori von 1992 erinnerte, auch wenn Castillos Initiative eher einem absurden Staatsstreich als einer diktatorischen Initiative entsprach. Aus einer eher pragmatischen Perspektive meinte der Führer von Peru Libre, Vladimir Cerrón, dass der Präsident zu eilig gewesen sei. Heute kann niemand erklären, was Castillo zu dieser Entscheidung veranlasst oder wer ihn davon überzeugt hat.
Damals war der Druck enorm, sich vom Stigma des „Staatsstreichs“ zu distanzieren, weshalb sich fast alle Mitarbeitenden des Präsidenten (einschliesslich seines Anwalts) zurückzogen. Doch im Laufe der Stunden begannen sich die Bilder zu verändern. Vor allem wuchs das Gefühl, dass der Kongress, der unpopulärer als Castillo war (fast 90% negative Umfragewerte), sich endlich durchgesetzt hatte. Und die Verhaftung des derzeitigen Ex-Präsidenten und die Lynchjustiz in den Medien haben ihn zunehmend zum Opfer gemacht. In diesem Zusammenhang brachen mehrere Mobilisierungen aus. Der mobilisierendste und einigendste Slogan ist die Forderung nach der Auflösung des Kongresses und nach Neuwahlen. Hinzu kommt in verschiedenen Bereichen die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung, die sich mit strukturellen Fragen befassen soll.
Die von der Regierung Castillo ernannten Präfekten, von denen viele der Nationalen Föderation der Beschäftigten im Bildungswesen Perus (Fenate) und Peru Libre angehören, beteiligen sich an den Mobilisierungen. Innerhalb weniger Stunden verwandelte sich das, was wie eine legitime Verfassungsnachfolge aussah, für viele in einen illegitimen Übergang, bei dem Dina Boluarte schliesslich die herrschenden Eliten agiert hätte. Die Vizepräsidentin – eine Beamtin mit wenig politischer Erfahrung – wurde zu einem Instrument des „korrupten Kongresses“. Laut einer Umfrage des Instituts für Peruanische Studien (IEP) waren 71% der Befragten nicht damit einverstanden, dass Dina Boluarte Präsidentin wurde. Und die Mobilisierungen haben sich auf verschiedene Regionen des Landes ausgeweitet, ebenso wie das harte Vorgehen der Polizei und die Razzien in den Zentralen verschiedener sozialer Organisationen.
Die Mobilisierungen wurden von einer Koalition aus Gewerkschaften, Akteuren der informellen Wirtschaft und bäuerlichen Sektoren angeführt, die in unterschiedlicher Form mit lokalen Strukturen verbunden sind.
In diesem Zusammenhang versucht Dina Boluarte, einen Ausgleich zu finden, um an der Macht zu bleiben. Bisher hat sie die „Bürde“, einen Termin für vorgezogene Wahlen zu finden, an den Kongress zurückgegeben. Sie versprach Prämien für Landwirte, die von einer historischen Dürre betroffen sind, und Erhöhungen für Staatsbedienstete. Obwohl sie bis 2026 vereidigt worden war, verkürzte sie ihre Amtszeit auf 2024, was jedoch die Diskussion über den Termin für Neuwahlen nicht beendete. Die neue Präsidentin entliess den Vorsitzenden des Ministerrats eine Woche nach seiner Ernennung, da sich die Vorwürfe über die gewaltsame Unterdrückung von Demonstrationen häufen. Daraufhin traten zwei Minister zurück. Obwohl sie gleich nach ihrem Amtsantritt einen „Waffenstillstand“ gefordert hatte, ist es unwahrscheinlich, dass sie diesen auch erreichen wird. Guillermo Bermejo, Abgeordneter von Perú Democrático – einer Splittergruppe von Perú Libre – drohte: „Wenn [Dina Boluarte] kein politisches Asyl erhält, wird sie im Gefängnis landen.“
Übersetzung der französischen Version durch die Redaktion.
Literatur
STEFANONI, P. (2022): “De Pedro Castillo a Dina Boluarte o la crisis interminable de Perú”, entrevista a Marisa Glave, Nueva Sociedad, ed. digital, diciembre.
STARN, O. (1991): Reflexiones sobre rondas campesinas, protesta rural y nuevos movimientos sociales, Lima, IEP.
TURKEWITZ, J. (2022): “Una pausa en las protestas de Perú para honrar a los muertos”, The New York Times, 19 de diciembre.
Die gesamte Siuation ist schwierig & traurig!
Wir sollten Weltweit Solidarität zeigen!!!