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Die Schweiz und ihre Werteneutralität 

Die Neutralität ist ein integraler Bestandteil des Schweizerischen Selbstbildes. Allerdings hält das Wort seiner Selbstaussage nicht Stand. Die Schweizerische Neutralität bedeutet allerhöchstens eine Wertneutralität, nach welcher mit allen Regimen Geschäfte gemacht werden können, ganz gleich wie despotisch sie sind. Die Schweizerische Neutralität ist vor allem ein Deckmantel, um die imperialistische Aussenpolitik und die Ausbeutungsverhältnisse der Schweizer Gesellschaft zu verhüllen. Es ist allerhöchste Zeit, mit diesem Mythos zu brechen. (Red.).

von José Sanchez (BFS Romandie)

Was bedeutet es, die Neutralität der Schweiz zu verteidigen?

Der Begriff ist in der Bundesverfassung enthalten. Wie er aber anzuwenden ist, war je nach historischer Situation Gegenstand zahlreicher Interpretationen gewesen. Der Mythos der Neutralität vermittelt eine Vorstellung der Welt und ihrer Funktionsweise. Doch es ist nötig, diese Denkweise umfassend und grundlegend zu hinterfragen. Kann ein imperialistisches Land, das an der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Plünderung der natürlichen Ressourcen anderer Länder beteiligt ist und seinen wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss auf den Grossteil der Welt ausdehnt, überhaupt als „neutral“ betrachtet werden? Denn tatsächlich beteiligt sich die Schweiz aktiv an der Organisation und Stabilität einer kapitalistischen Weltordnung, und zwar in erheblichem Umfang, indem sie die Märkte für ihre eigenen multinationalen Konzerne ausweitet und grosse globale Rohstoffhandelsunternehmen beherbergt. So verändern die Aktivitäten des Nestlé-Konzerns beispielsweise die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Politik der Länder, in denen sie sich entfalten. Die Intervention des SECO bei der WTO im vergangenen Jahr gegen ein Gesetz zur öffentlichen Gesundheit in Mexiko war eine Reaktion auf die Bedenken von Nestlé. Auch andere Grosskonzerne gehören zu den weltweiten Marktführern in Wirtschaftssektoren wie Zement, Chemie, Pharma und Finanzen. Die Gesamtheit ihrer Aktivitäten bestimmt die Lebensbedingungen vieler Menschen.

Auch wenn die Schweiz also nicht durch ihre direkte Präsenz an bewaffneten Konflikten beteiligt, fällt es also schwer, der Schweiz irgendeine Art von Neutralität zuzusprechen. 

Neutralität = Wohlstand?

Auf die „Neutralität“ zu verweisen, ermöglicht es, diese Rolle bei der Gestaltung der Weltordnung völlig auszublenden und Fragen nach den Konsequenzen dieser Aktivitäten zu vermeiden. Schliesslich ist Geschäfte zu machen eine friedliche Handlung, selbst in den schlimmsten Diktaturen! Geld aus dem Raubbau an der Natur, aus der Ausbeutung von Arbeitskräften im Ausland und aus grassierender Korruption willkommen zu heissen, ist ein Beispiel dafür, wie der Artikel 54 der Verfassung, der besagt, dass „die Wohlfahrt der Schweiz gewährleistet ist“, tatsächlich umgesetzt wird. Diese Definition verschleiert auch den Klassencharakter unserer Gesellschaft. Die Anhäufung von Reichtum wird von den Kapitalist:innen vereinnahmt, die die Hauptnutzniesser:innen dieser „Neutralität“ und dieses Wohlstands sind. Auch der Finanz- und Rohstoffhandelsplatz ist nicht neutral in Bezug auf die Umweltzerstörung und die zunehmende Nutzung fossiler Energieträger.

Im Gleichschritt mit der NATO

Auch auf militärischer Ebene ist diese Neutralität eigentümlich. Während des Kalten Krieges waren viele Standards der Armee mit denen der NATO kompatibel (Waffensysteme, Munition, Kommunikation). Nach dem Zerfall des Warschauer Pakts und der UdSSR setzte sich dies auf ebenso sichtbare Weise fort. 

Vor allem aber ist es umgeben von NATO-Mitgliedsländern schwer zu glauben, dass dieser neutrale Raum separat bedroht werden könnte, sei es auf dem Landweg oder aus der Luft. Die jüngste Erhöhung des Militärhaushalts um 2 Milliarden ist also völlig ideologisch motiviert.

Und der Krieg gegen die Ukraine wird zum idealen Vorwand, um den militärischen Nationalismus unter dem Deckmantel der Verteidigung der Neutralität wiederzubeleben.

Aus Sicht der Erhaltung des helvetischen Kapitalismus ist es übrigens bezeichnend, dass die Artikel 173 und 185 der Verfassung die Neutralität mit der inneren Sicherheit und der Verteidigung gegen „bestehende oder drohende Unruhen, die die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährden“, verbinden.

Neutralität = keine Sanktionen?

Der Druck, sich den westlichen Grossmächten (USA, EU) anzuschliessen, veranlasst einen Teil der Politiker:innen, neue Positionen zu übernehmen, wie z.B. die Präsenz der Schweiz im UN-Sicherheitsrat. Auch die Umsetzung der von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen führte zu unterschiedlichen Reaktionen – wenn auch in die andere Richtung. Und das, obwohl diese Massnahmen sehr zurückhaltend umgesetzt wurden: Verzögerung bei der Entscheidung über die Anwendung der Sanktionen, Einfrieren russischer Vermögenswerte in unbedeutenden Banken (6-7 Milliarden von 150-200 Milliarden, die insgesamt auf Schweizer Banken liegen), florierender Handel mit russischem Gas, Öl und Stahl, Rekordhandel mit russischem Gold im August 2022, Rekordhandel mit Kohle im Jahr 2022 (Russland gehört zu den weltweit führenden Bergbaubetreibern: 441 Millionen Tonnen im Jahr 2019). „Neutral“ zu bleiben und die Augen vor den kriegerischen, wirtschaftlichen und ökologischen Übergriffen und Zerstörungen zu verschliessen, bedeutet letztlich, zum Komplizen einer zutiefst ungerechten Weltordnung zu werden. Lasst uns also aus der Neutralität ausbrechen, indem wir uns aktiv für eine Zukunft ohne Unterdrückung und Ausbeutung einsetzen.


Übersetzung aus dem Französischen durch die Redaktion.

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