In den nächsten Wochen entscheidet sich, ob sich die Führung von Syriza unter Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis weiterhin dem Diktat der Troika beugen wird oder ob es doch noch möglich sein wird, mit der EU, dem IWF und der EZB zu brechen und die grausame Sparpolitik zu beenden. (Red.)
von Antonis Ntavanellos*; aus: À l’encontre
Wir waren viele, die sich die „angesagte Leichtigkeit“ in der Redeweise der Führung von SYRIZA vor der Wahl nicht zu eigen gemacht haben; diese Redeweise hat den Andrang bei den Urnen erleichtert, sie hat uns allerdings gleich im Anschluss vor eine Frage gestellt: Besteht die Möglichkeit, ein radikales Anti-Austeritäts-Programm zu entwickeln, ohne die Grenzen des Tolerierten in der Eurozone zu übertreten und indem man die Methoden bei den Verhandlungen der „Institutionen“ [dieser Ausdruck ist ja an die Stelle von „Troika“ getreten] akzeptiert?
Wir kennen jetzt die Antwort. Sie lautet: Nein. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds versuchen SYRIZA platt zu machen, indem sie uns vor das folgende Dilemma stellen: vollständiges Einfügen in das System oder sofortiges Abtreten dieser Regierung. Sie machen das aus wirtschaftlichen Gründen, denn eine Anti-Austeritäts-Politik ist mit der gegenwärtigen Politik der Herrschenden nicht vereinbar. Sie machen das auch aus politischen Gründen, weil Europa sich vor der Gefahr der „Übertragung“ der Mikroben SYRIZA und Podemos schützen muss.
Die Vereinbarung vom 20. Februar 2015 [welche die Regierung von Alexis Tsipras unterschrieben hat] ist ein großer Fehler gewesen und war eine Folge der Falle, die die Redeweise vor der Wahl [„das lässt sich ohne große Schwierigkeiten machen“] bedeuten konnte. Die Vereinbarung enthält die „vollständige und fristgerechte“ Rückzahlung der Schulden. Wir haben damit auf „einseitiges Handeln“ auf der Grundlage unseres Programms verzichtet; dies hätte es ermöglicht, ein solides Bündnis des Volks, einen gesellschaftlichen Block um die Linksregierung herum aufzubauen. Die „kreative Zweideutigkeit“ [eine Formulierung von Yanis Varoufakis] hat den Mächtigen in die Hände gespielt und tut das auch weiter.
Nach dem 20. Februar haben wir die „roten Linien“ [die wir nicht überschreiten durften] zu verteidigen gesucht. Sie waren weniger ausgeprägt und enger gezogen als die Verpflichtungen, die [im September 2014] auf der internationalen Messe in Thessaloniki eingegangen und vorgestellt wurden. Und diese waren ihrerseits bereits weniger weit gegangen als das Programm, das auf der Konferenz von SYRIZA [im Juli 2013] angenommen worden war.
Heute schwinden die „roten Linien“ dahin. Im Zusammenhang mit den Privatisierungen (die so symbolträchtig für den Neoliberalismus sind) diskutieren wir darüber, welche Beträge verlangt werden sollen, über die Art und Weise des Verkaufs der öffentlichen Betriebe, über die Auswahl der Betriebe, die verkauft oder nicht verkauft werden. Und nicht über die Frage, ob sie überhaupt verkauft werden sollen. Zur Zeit sind wir bei dem Thema der Steuern der Auffassung, dass die ENFIA (Einheitliche Immobilienbesitzsteuer)[1] und die Anhebung der Mehrwertsteuer mögliche „Bereiche von Zugeständnissen“ an die Gläubiger darstellen, und nicht über Maßnahmen, die direkt mit der Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Klassen der Bevölkerung zu tun haben; dazu hatten wir uns ja vor der Wahl verpflichtet. Was die Sozialversicherungen und die Renten angeht, geben wir eine Garantie für die „derzeitigen RentnerInnen“, damit wird in beiden Bereichen die Möglichkeit einer Gegenreform für die künftigen Generationen der abhängig Beschäftigten offen gelassen. In Bezug auf den „Arbeitsmarkt“ gehen wir von der Verpflichtung, die Geltungskraft der Tarifverträge zu der nebulösen Formulierung von den „besten Praktiken in Europa“, wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) das versteht, über. Das führt zu dem Risiko, dass sich herausstellt, dass wir in der Praxis von der Übernahme eines neoliberalen Korporatismus sprechen, der finanzielle Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft usw. in den Tarifverträgen enthalten würde.
Es liegt für jede und jeden, die und der sich die tatsächliche Situation vor Augen führen möchte, auf der Hand, dass wir uns in einer nach unten gerichteten Spirale befinden: in Verhandlungen, bei denen wir in jeder Phase unsere Welt – also die der Bevölkerungsmehrheit – verteidigen müssen, wobei es jedes Mal eine Stufe weiter heruntergeht.
Es liegt ebenfalls auf der Hand, wohin der Weg, den wir eingeschlagen haben, uns führt: Wir werden dazu gezwungen werden, das dritte Memorandum zu unterschreiben, das die Gläubiger zusammen mit Antonis Samaras [Ministerpräsident vom 20. Juni 2012 bis 26. Januar 2015] und Evangelos Venizelos [von der PASOK] unterzeichnen wollten. Es ist im übrigen offensichtlich, zu welchem Moment der Gegenangriff der Gläubiger gestartet wird: wenn die Regierung gezwungen sein wird, um eine Anleihe anzusuchen, damit sie die Gehälter und die Renten zahlen kann (und nicht weitere Tranchen der Schulden), denn dann – so schätzen sie es ein – wird die Regierung nicht über die politische Kraft verfügen, um auch nur den mindesten Einwand zu erheben.
Die Entscheidung, die von den Gläubigern verlangten Summen bis heute regelmäßig zu zahlen [diese Entscheidung ist ein Resultat der Vereinbarung vom 20. Februar], obschon sie keinen Cent der mit den früheren Vereinbarungen versprochenen und damit fälligen Kredite auszahlen, hat die öffentliche Liquidität auf gefährliche Weise zur Neige gehen lassen, so dass der kritische Moment sehr, sehr nahe gerückt ist.
Die politischen Konsequenzen aus einem derartigen strategischen Rückzug (denn von einem „Kompromiss“ kann man nicht sprechen) werden unmittelbar folgen. SYRIZA kann nicht in eine Pro-Austeritäts-Partei umgewandelt werden. Die Gläubiger sind auf mittlere Sicht nicht einverstanden damit, Garantien für eine Vereinbarung mit der derzeitigen Regierung zu geben. Sie werden verlangen, dass ein politischer Preis für das „Abenteuer“ nach dem 25. Januar [dem Wahltermin] gezahlt wird. Es wird Erpressungen geben, damit erreicht wird, dass die Regierung Tsipras „erweitert“ und dass sie nach und nach in eine Regierung der nationalen Einheit umgewandelt wird oder dass sie sogar zu Fall gebracht wird. Die politische Umtriebigkeit von Giannis Stournaras [derzeit Präsident der griechischen Staatsbank, früher Finanzminister unter Samaras], der mit dem Traum einer „technischen“ Regierung nach Art der von Lukas Papademos [dem Ministerpräsidenten von November 2011 bis Mai 2012] liebäugelt, ist als Warnzeichen zu werten.
Es gibt einen Weg heraus aus diesem Teufelskreis, wenngleich das mit jeder Woche, die verstreicht und in der die Schuldenzahlung sich mit Untätigkeit paart, schwieriger wird: die Einstellung der Schuldenzahlung an die Wucherer (unsere „Freiheit verteidigen“ und sich dem Kapital entziehen); die Anwendung der Beschlüsse der Konferenz von SYRIZA in Bezug auf die Banken (Steuern auf das Kapital und die Reichen zur Finanzierung der Maßnahmen gegen die Austerität); solch eine Politik mit allen notwendigen Mitteln abstützen, einschließlich über einen Konflikt mit der EU und um den Euro.
Solch ein „Einschnitt“, der nach dem 25. Januar normal sein sollte, müsste jetzt die Möglichkeit eines verstärkten Mandats der Bevölkerung offen lassen. Also weitere Wahlen, unter der Bedingung, dass diese Optionen von der Regierung klar und eindeutig dargestellt werden und bei der Partei SYRIZA Rückhalt finden.
Auf alle Fälle können die ausgesprochen wichtigen Entscheidungen, die anstehen, nicht in einem geschlossenen Zirkel im Zentralgebäude der Partei getroffen werden, nicht einmal mit den besten Absichten. Die Partei müsste aufgefordert werden, ihre Meinung zu äußern, vom Zentralkomitee bis zu den Ortsverbänden. Die Partei muss sich auf den Gegenwind einstellen, der immer bedrohlicher wird.
[1] ENFIA oder EN.FI.A: von der Regierung Samaras mit Wirkung ab Anfang 2014 eingeführte Einheitliche Immobilienbesitzsteuer, trat an die Stelle der im September 2011 unter dem Druck der Troika auf unmittelbare volkswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen beschlossenen, auf die Jahre 2011 und 2012 befristeten Immobilien-Zwangsabgabe E.E.T.I.D.E. (Außerordentliche Sonderabgabe auf elektrifizierte bebaute Flächen), die über die Stromrechnungen eingezogen wurde.
*Antonis Ntavanellos gehört zu den Leitungen von SYRIZA und von DEA (Diethnistiki Ergatiki Aristera, Internationalistische Arbeiterlinke). Sein Artikel erschien in Ergatiki Aristera (Arbeiterlinke), der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitung der DEA, Ausgabe vom 13. Mai 2015. Eine Übersetzung aus dem Griechischen wurde von Antonis Martalis angefertigt und am 14. Mai 2015 redaktionell bearbeitet auf der französischsprachigen Webseite der BFS/MPS „À l’Encontre“ veröffentlicht. Die Zusätze der Redaktion von „À l’Encontre“ sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Dieser Text ist von Wilfried Dubois aus dem Französischen übersetzt worden und zuerst auf der Website der Internationalen Sozialistischen Linken (ISL) auf deutsch publiziert worden.