Die Gruppe Feminist Anti-War Resistance (FAR) wurde im Februar 2022 als Vereinigung russischer Feministinnen gegründet, um die Proteste gegen die russische Invasion der Ukraine zu koordinieren. Breite Beachtung fand die FAR, als sie ein Manifest publizierte, in dem sie weltweit zur Solidarität gegen den russischen Angriffskrieg aufrief, und als die Aktivistinnen am 8. März 2022 bei Denkmälern für den Grossen Vaterländischen Krieg (Zweiter Weltkrieg) in 94 russischen und ausländischen Städten Chrysanthemen und Tulpen mit blau-gelben Bändern niederlegten. Am 23. Dezember 2022 setzte das russische Justizministerium die Organisation auf seine Liste «ausländischer Agenten». Roksana Kiseleva ist Mitglied der FAR und lebt zurzeit im georgischen Exil. Die Bewegung für den Sozialismus hat ein schriftliches Interview mit ihr geführt.
Interview mit Roksana Kiseleva von João Woyzeck (BFS Zürich); aus Antikap
João Woyzeck (BFS Zürich): Du bist Mitglied der Redaktion der Zhenskaya Pravda, der Zeitung der FAR. Kannst du uns etwas über die Zeitschrift erzählen?
Roksana: Unser Ziel ist es, ein Publikum in Russland zu erreichen, das von den meisten Antikriegsmedien nicht angesprochen wird: Frauen ab 50 Jahren, die nicht unbedingt für die Opposition, aber auch nicht für den Krieg sind – unsere Mütter, Grossmütter und Tanten. Sie verstehen, dass überall um sie herum schlimme Dinge passieren, aber sie wollen nicht darüber lesen und sprechen, weil sie emotional ausgelaugt sind – durch ihre Arbeit, durch ihre Verantwortung, durch das Leben an sich. Anhand von Untersuchungen, die Soziolog:innen für uns durchgeführt haben, können wir erkennen, dass unser Zielpublikum kriegsmüde ist. Deshalb konzentrieren wir uns auf die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Invasion der Ukraine in Russland: Die Stromrechnungen steigen, Kinderarbeit wird für die Versorgung der Truppen mit Kleidung und anderen Dingen eingesetzt und die Regierung hat vollständig die Kontrolle über die sozialen Medien übernommen.
Zur Kinderarbeit in Russland
Im März hat der Duma-Ausschuss für Arbeit, Sozialpolitik und Veteranenangelegenheiten den Gesetzentwurf zur Jugendarbeitslosigkeit verabschiedet und zur Annahme in erster Lesung empfohlen. Die Duma wird den Gesetzentwurf also voraussichtlich verabschieden, womit die Beschäftigung von Jugendlichen ab 14 Jahren vereinfacht würde: Sie bräuchten nur noch die Zustimmung eines Elternteils und nicht mehr die der Vormundschafts- und Pflegschaftsbehörden.[1]
Mitverfasser des Gesetzentwurfs ist auch Andrej Isajew, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion von «Einiges Russland» in der Duma. Isajew verwies darauf, dass die von der westlichen Staatengemeinschaft verhängten «antirussischen» Wirtschaftssanktionen, eine Vereinfachung der Kinderarbeit erfordern würden, um das Einkommen bestimmter Haushalte zu unterstützen.[2] Nikolai Arefiev, der die KPRF in der Duma vertritt, bezweifelt dies hingegen. Schliesslich gebe es genügend erwachsene Erwerbslose.[3]
Derzeit lebst du in Georgien. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Geht deine aktivistische Tätigkeit weiter?
Ich musste Russland im letzten Herbst verlassen, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Jetzt habe ich mehr Ressourcen für meine aktivistische Arbeit, weil ich mich nicht mehr verstecken und in ständiger Angst vor der Polizei leben muss. Ich arbeite an unserer Zeitung und anderen Projekten für die FAR. Ich habe viele wunderbare, kluge und freundliche Menschen aus anderen Anti-Kriegs-Organisationen und -Bewegungen kennengelernt. Das macht mich auch für die Zukunft zuversichtlicher.
Welche Bedeutung hat der Feminismus in der russischen Zivilgesellschaft? Welche Themen oder politischen Ziele sind für den Feminismus in Russland besonders zentral?
Die zwei zentralen Themen sind häusliche Gewalt und Abtreibung. Häusliche Gewalt wurde vor ein paar Jahren faktisch entkriminalisiert und jetzt hat der Krieg die Situation für Frauen weiter verschlimmert.
Abtreibungen selbst sind zwar weiterhin nicht verboten, aber es gibt immer wieder Berichte, dass Ärzt:innen in öffentlichen Krankenhäusern unter Druck gesetzt werden, keine Abtreibungen durchzuführen. So schicken sie die Frauen zum Beispiel zu Priestern oder verlangen vorher die Zustimmung des Vaters. Die Regierung gibt zudem Milliarden an Rubel für abtreibungskritische Informationskampagnen aus. Die Regierung will die Geburtenraten steigern, obwohl jetzt wahrscheinlich der denkbar schlechteste Zeitpunkt ist, um ein Kind zu bekommen.
Abtreibungen unter Putin
Der russische Staat verfolgt gemeinsam mit der orthodoxen Kirche eine Kampagne, die sich gegen Selbstbestimmung bei reproduktiven Rechten richtet. Seit 2011 haben russische Krankenhäuser beispielsweise sogenannte «Schweigewochen» eingeführt, womit Termine um eine Woche oder mehr verschoben werden, wenn eine Frau einen Antrag auf einen Schwangerschaftsabbruch stellt. Durch die Verzögerung schreitet aber der Schwangerschaftsverlauf voran und es müssen andere Abtreibungsarten (bis hin zur Operation) angewendet werden, was die Gesundheit betroffener Frauen ernsthaft gefährden kann. 2013 hat Putin zudem Werbung für Abtreibungen verboten. Und seit 2016 müssen Frauen, die eine Abtreibung wünschen, ein Bild des Embryos und seines Herzschlags bei einer Ultraschalluntersuchung ansehen. Zudem fördert der russische Staat die Initiative von Krankenhäusern, Frauen vor einer Abtreibung zu Psycholog:innen zu schicken oder spezielle Fragebögen an die Frauen auszuhändigen, in denen den Frauen anklagende und beleidigende Fragen gestellt werden. Viele Krankenhäuser verteilen sogar bewusst unleserliche und manipulative Broschüren mit irreführenden Informationen über den Schwangerschaftsabbruch und seine Folgen. In einigen Regionen Russlands wird das Gesundheitspersonal darin geschult, in der Beratung vor der Abtreibung «traditionelle Werte» zu berücksichtigen. Frauen werden in den Beratungsgesprächen aufgefordert, Fragebögen mit Fragen auszufüllen wie: «Sind Sie bereit für eine posthume Begegnung mit der Seele Ihres Kindes?».
Die orthodoxe Kirche arbeitet in diesem Zusammenhang eng mit dem reaktionären russischen Staat zusammen. Patriarch Kirill I. schlug derweil in einer Rede vor dem Föderationsrat ein Verbot von Abtreibungen in privaten Kliniken vor. Und die russisch-orthodoxe Kirche schlug vor, verheiratete Frauen zu verpflichten, die Zustimmung ihres Mannes zu Abtreibungen einzuholen.
Die Duma, das russische Parlament, hat im August 2022 ein Verbot des Online-Verkaufs von medizinischen Abtreibungsmitteln vorgeschlagen. Krankenhäuser und Apotheken haben seit März 2023 auch Probleme mit der Verfügbarkeit der Pille. Im Sommer 2022 kündigte die Duma zudem einen besonders verheerenden Gesetzentwurf an, der Abtreibungen im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung verbietet. Und Tatjana Golikova, die Vize-Ministerpräsidentin für Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik, schlug ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen ohne elterliche Einwilligung vor Vollendung des 18. Lebensjahres vor.
Unterdessen wurde in der Duma erneut ein Gesetzesentwurf eingebracht, der die Verbreitung von Informationen über den «freiwilligen Verzicht auf die Geburt eines Kindes» unter Minderjährigen verbietet. Im September 2022 war er aufgrund formaler Schwächen zur Revision zurückgewiesen worden.[4]
Seit dem Beginn des Angriffskrieges des Kreml-Regimes gegen die Ukraine haben sich die repressiven Gesetze drastisch verschärft. Wie hat sich der Aktivismus seit dem Sommer 2022 verändert?
Seit Beginn des Krieges hat die russische Regierung eine Reihe von repressiven Gesetzen erlassen und es kommen immer weitere noch dazu. Gewisse Spielräume, die es früher gab, haben sich jetzt geschlossen. Obwohl sich die politische Lage schon früher verschlechterte, hatten wir immer noch eine Art von Freiheit. Zum Beispiel habe ich im Jahr 2020 mit meinen Freund:innen eine Fem-Datscha gegründet, eine Art feministischer Rückzugsort vor dem Druck durch das Putin-Regime. Wir wollten Aktivist:innen in Russland unterstützen, indem wir ihnen kostenlosen, umfassenden Service und psychologische Hilfe anboten. So etwas ist jetzt unmöglich geworden.
Die Menschen haben Angst, ins Gefängnis zu kommen, und sind deshalb weniger dazu bereit, sich an direkten Aktionen zu beteiligen. Das ist verständlich. Aber Strassenproteste sind nicht die einzige Form des Widerstands. Die Menschen passen sich an. Sie protestieren im Verborgenen. Sie können kleine Dinge tun, wie Blumen zu ukrainischen Denkmälern in Russland bringen. Unsere Bewegung steht allen offen, die sich ihr anschliessen wollen – Menschen können uns Bilder ihrer kleinen Proteste schicken und wir posten sie auf unseren Social Media Accounts. Unser Hauptziel ist es, sich zu vereinen und gemeinsam gegen den Kreml zu kämpfen.
Ziviler Ungehorsam ist auch eine Form des Widerstands. Das kann beispielsweise so aussehen, dass du der Regierung nicht erlaubst, deine Angestellten zu mobilisieren oder dass du deine Schüler:innen nicht in staatlicher Propaganda unterrichtest, wenn dir das als Lehrkraft aufgetragen wird.
Sicherheit ist für uns jetzt das grösste Thema, wir sind sehr vorsichtig. Wir lassen niemanden, den wir nicht überprüfen können, in unsere Chatgruppen und an sensible Informationen heran. Wir verwenden verschlüsselte Nachrichten, um mit Leuten zu kommunizieren, die sich noch in Russland aufhalten. Ausserdem veröffentlichen wir Sicherheitsleitfäden in unseren sozialen Medien.
Einige linke, aber auch liberale Beobachter:innen bezeichnen das Kreml-Regime als faschistisch oder postfaschistisch. Das ist umstritten und wird nicht ausnahmslos geteilt. Wie siehst du das?
Kennst du Godwins Gesetz? Es besagt, dass man ein Streitgespräch verliert, sobald man jemanden mit Hitler vergleicht. Der Erfinder dieses Gesetzes hat es schlussendlich selber gebrochen – in Bezug auf Putin.[5] Die russischen Behörden erkennen die Existenz der Ukraine als unabhängigen Staat nicht an. Zu Propagandazwecken verwenden sie die nationalistische Idee des Panslawismus und der russischen Vorherrschaft. Das erscheint mir persönlich schon faschistisch.
Der innenpolitische Backlash ist mehr als ein konservatives Revival. Es geht nicht nur um den Versuch, die Menschen mit traditionellen Werten zu locken. Der Kreml bedroht die Menschen mit der Idee eines «kollektiven Westens, der Russland bisher noch nicht zerstören konnte», aber weiterhin bedroht. Die LGBTQ-Gemeinschaft, kinderlose Menschen und Feminist:innen werden zu Feindbildern gemacht. Die Regierung will, dass die Bevölkerung Angst vor der Demokratie hat und glaubt, dass die totale Zensur ihre Rettung ist.
Was die Vernetzung betrifft, so nehmen unsere Mitglieder an Antikriegsveranstaltungen teil, um Wissen und Erfahrungen mit anderen Aktivist:innen auszutauschen. Wir haben viele von ihnen kennengelernt, es sind auch persönliche Bindungen entstanden.
Welche Rolle könnte eine feministische Perspektive bei der Überwindung von Putins Angriffskrieg spielen? Und welche Rolle spielt die FAR innerhalb der verschiedenen Oppositionsgruppen in Russland?
Zunächst einmal sind wir immer noch eine Graswurzelinitiative. Wir kommen aus dem zivilen Widerstand, nicht aus der grossen Politik. Grosse Gruppen müssen den kleinen zuhören und ihre einzigartigen Erfahrungen, die nützlich und notwendig sind, wertschätzen.
Mittlerweile spielen wir auch eine Rolle in der Opposition. Aber vor nicht allzu langer Zeit war die Situation noch anders. Grosse oppositionelle Gruppen wie Navalnys Team, hatten eine sehr männlich geprägte Sichtweise und männliche Anführer. Das ändert sich jetzt, denn die einzige Möglichkeit zu gewinnen ist, sich zu vereinen.
Als feministische Bewegung arbeiten wir für Mütter, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiterklasse, queere Frauen und Frauen aus ethnischen Minderheiten. Wir konzentrieren uns auf ihre Bedürfnisse und Anliegen. Wir wollen, dass ihre Stimmen jetzt gehört werden, und wir wollen nicht, dass Frauenfragen aufgegeben werden, sobald Putins Regime verschwunden ist.
Am 3. April erklärte Oleg Matwejew, ein Staatsduma-Abgeordneter von Putins De-facto-Partei „Einiges Russland“, im staatlichen Fernsehen, er habe einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, um den Feminismus zum „Extremismus“ zu erklären. Matwejew begründete dies damit, dass feministische Aktivistinnen für ihn ausländische Agenten seien, die die russischen Interessen untergraben.
Wie hat sich die Situation seither entwickelt, insbesondere für den Feminismus?
Der Feminismus wird nicht als Ideologie verboten werden. Die staatliche Handlung tendiert vielmehr in eine andere Richtung. Im Dezember 2022 hat unser Ministerpräsident Michail Mischustin eine andere nationale Strategie angekündigt, die nach Eigenaussage die Rechte der Frauen am Arbeitsplatz, auf der Strasse und zu Hause schützen soll. Sie soll noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden. Demnach hätte das Regime also nichts dagegen, dass (so eine Art von) Feminismus existiert. Vielmehr möchte das Regime ihn unter Kontrolle bringen. Das Regime möchte nämlich regierungsfreundliche, gehorsame Feminist:innen, welche die von der Regierung gebilligten Aussagen verbreiten. Dies würde aber bedeuten, vor politischen Repressionen zu kapitulieren und zuzulassen, dass ihre Männer in den Krieg geschickt werden.
Du hast die Idee der russischen Vorherrschaft angesprochen. Die FAR hat das «Manifest der ethnischen Minderheiten» unterstützt und geteilt. Worum geht es dabei?
Bei unserem Projekt geht es um die Unterstützung regionaler Initiativen von ethnischen Minderheiten innerhalb des russischen Staates – FreeBuryatia Foundation, FreeKalmykia, Novaya Tuva und andere. Jede Erfahrung ist einzigartig. Frauen aus ethnischen Minderheiten müssen gehört werden!
Seit dem Einmarsch in die Ukraine wird verstärkt von einem russischen Imperialismus gesprochen. Wenig bis gar keine Beachtung finden hingegen die kolonialen Verhältnisse innerhalb des russländischen Vielvölkerstaates [russländische Staatsbürgerschaft im Unterschied zur russischen Ethnie; Anm. d. Red.]. Es ist aber nötig, auch über unseren inneren Imperialismus nachzudenken, den wir durch unser Leben in Russland als Teil der so genannten ethnischen Mehrheit erlernt haben. Wir haben keine Ahnung, wie privilegiert wir eigentlich sind. Zudem führen dieselben imperialistischen Ansichten auch dazu, dass die Menschen den Krieg gegen die Ukraine unterstützen.
Wie klappt die weltweite Vernetzung von feministischen Kräften, um gemeinsam gegen den Angriffskrieg des Kreml-Regimes anzutreten?
FAR-Sektionen gibt es auf der ganzen Welt, von Korea bis Brasilien. Jeder kann sich uns anschliessen. Unsere internationalen Gruppen nehmen an lokalen Aktionen und Demonstrationen in ihren jeweiligen Ländern teil, kommunizieren mit der Presse in ihren Ländern und organisieren Spendenveranstaltungen zur Unterstützung ukrainischer Geflüchteter.
[1] ГОСУДАРСТВЕННАЯ ДУМА (2023): Комитет по труду, социальной политике и делам ветеранов поддержал законопроект об упрощении трудоустройства подростков, abrufbar auf: http://duma.gov.ru/news/56689/ (04.04.2023).
[2] LƐNTA·RU (2023): В России упростят трудоустройство четырнадцатилетних, abrufbar auf: https://iz.ru/1453655/natalia-bashlykova/iunost-ne-porok-v-rossii-uprostiat-trudoustroistvo-s-14-let (04.04.2023).
[3] Известия (2023): Юность — не порок: в России упростят трудоустройство с 14 лет, abrufbar auf: https://lenta.ru/news/2023/01/13/prosto/ (04.04.2023).
[4] FAR (2023): ПЕТИЦИЯ ЗА ПРАВО НА АБОРТ, abrufbar unter: https://www.change.org/p/петиция-за-право-на-аборт?utm_source=share_petition&utm_medium=custom_url&recruited_by_id=32b33370-6db0-11ed-901b-138fd7dfefd7 (03.04.2023); Zur Auffassung von der Darstellung freiwilliger Kinderlosigkeit in kreml-nahen Medien als kindsfeindlicher Propaganda vgl. auch риа новости (2023): В Госдуму внесли проект о запрете пропаганды чайлдфри среди детей, abrufbar unter: https://ria.ru/20230227/chayldfri-1854649228.html (03.04.2023).
[5] Godwin merkte ironisch-zynisch an, dass Putin im Rahmen der russischen Invasion der Ukraine durchaus gewisse Analogien zu Hitler aufweise. In: Godwin, M. [@sfmnemonic], abrufbar auf: https://twitter.com/sfmnemonic/status/1504244193660571651?lang=de (03.04.2023).