Die Gewerkschaften rufen für den 16. September zu einer nationalen Lohndemonstration in Bern auf. Ziel ist es, für alle eine Lohnerhöhung von 5%, eine Erhöhung der Renten sowie eine Erhöhung der Stipendien einzufordern. Dies ist ein entscheidender Stichtag für die Arbeiter:innen! Nachfolgend sind 10 gute Gründe genannt, weswegen die Lohnabhängigen es sich nicht länger gefallen lassen sollten, geschröpft zu werden, und den Unternehmen die Stirn bieten sollten (Red.).
von Guy Zurkinden; in SSP/VPOD
1. Da alles immer teurer wird.
Seit Ende 2020 sind die Lebenshaltungskosten in der Schweiz um 6,2% gestiegen. Und das ohne die Explosion der Krankenversicherungsprämien, die bis 2022 um durchschnittlich 6,6% gestiegen sind. Wie der Ökonom Sergio Rossi betont, „übersteigt die Teuerung bei Weitem das, was die Zahlen sagen“[1]. Diese Aufwärtsspirale ist noch lange nicht zu Ende: Die Krankenversicherungsprämien werden 2024 wahrscheinlich um 5% oder mehr steigen; die Strompreise werden nach einem Anstieg von 27% im letzten Jahr 2024 erneut in die Höhe schnellen – der Median wird auf 12% geschätzt; und die Mieten werden voraussichtlich noch stärker steigen, da der Referenzzinssatz [durchschnittlicher Zinssatz zur Verzinsung von Hypotheken; Anm. d. Red.] für Mietverträge erhöht wird; und zu allem Überfluss wird die Mehrwertsteuer am 1. Januar 2024 um 0,4 Prozentpunkte angehoben.
2. Weil die Löhne weiter sinken.
Während alles steigt, weigern sich die Unternehmer:innen, die Löhne zu indexieren [Lohnwert an Teuerung anpassen; nicht nur nummerisch anzuheben; Anm. d. Red.]. In der Folge gehen die Reallöhne nach unten. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) sind die Reallöhne 2021 um 0,8% und 2022 um 1,9% gesunken, und 2023 werden die Lohnerhöhungen erneut unter der Inflationsrate liegen. Das Ergebnis ist, dass die Reallöhne in drei aufeinanderfolgenden Jahren gesunken sind – das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Ein:e Arbeiter:in mit einem Medianlohn (79‘980 Franken pro Jahr) hatte in der Schweiz seit 2021 also einen Reallohnverlust von 3,6 Prozent zu verzeichnen. Die Kaufkraft des Jahreslohns ist heute um 2860 Franken geringer als im Jahr 2020[2]. Und das ohne Berücksichtigung der Entwicklung der Krankenversicherungsprämien!
3. Weil Arbeiter:innen den höchsten Preis bezahlen werden.
Die Inflation drückt besonders auf die niedrigen Einkommen. In der Schweiz sind Frauen in Niedriglohnbranchen in der Mehrheit: Mehr als jede zweite Arbeiterin verdient weniger als 4’200 Franken im Monat (inklusive 13. Monatslohn), jede vierte verdient 2’500 Franken im Monat oder weniger, und selbst nach einer Lehre verdienen vier von zehn Frauen weniger als 5’000 Franken pro Monat bei einer Vollzeitstelle. Diese niedrigen Löhne sind nicht nur ein Problem für das Monatsende, sondern auch für die Zukunft, insbesondere für das Rentenalter. Am 14. Juni mobilisierte der Feministische Streik Hunderttausende von Frauen, die unter anderem gleiche Löhne und höhere Renten forderten. Dennoch stiessen sie bei den Unternehmer:innen weiterhin auf taube Ohren.
4. Weil sich die Renten im freien Fall befinden.
Im Jahr 2021 bezogen 15,4% der Personen ab 65 Jahren (17,9% der Frauen, 12,5% der Männer) ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Dies hängt mit den oft zu niedrigen Renten zusammen, die vom Rentensystem (AHV und BVG) gezahlt werden. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) liegt die AHV-Rente für eine Frau im Durchschnitt bei 1’884 Franken, für einen Mann bei 1’862 Franken. Dennoch hat das Bundesparlament eine vollständige Indexierung der AHV-Renten abgelehnt, wodurch diese an Wert verlieren. Was die Renten aus den Pensionskassen (2. Säule) betrifft, so sind diese in den letzten 20 Jahren im Durchschnitt um mehr als 20% gesunken. Und leider ist dieser Rückgang noch lange nicht vorbei. Der SGB hat errechnet, dass die Rentner:innen bis Ende 2024 noch einmal das Äquivalent einer ganzen Monatsrente an Kaufkraft verlieren könnten.
5. Weil die Prekarität beständig zunimmt.
In der Schweiz sind 745‘000 Menschen von Armut betroffen. Laut dem Hilfswerk Caritas lebt jede siebte Person knapp über der Armutsgrenze. Besonders anfällig für prekäre Arbeitsverhältnisse sind Arbeiter:innen mit tiefen Löhnen. Im Jahr 2020 arbeiteten 10,5 Prozent der Beschäftigten (491‘000 Personen, davon 63,5 Prozent Frauen) in einem Niedriglohnjob (weniger als 4’382 Franken brutto für eine Vollzeitstelle). Damit sind 305‘000 Personen (einschliesslich der Kinder) von Armut trotz Erwerbstätigkeit betroffen. Laut einer aktuellen Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC führt diese Situation dazu, dass rund 23% der Arbeiter:innen mehrere Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen[3]. Die sinkenden Reallöhne könnten Zehntausende von Arbeiter:innen in die Armut stürzen.
Eckdaten zur Demo
Die Besamung zur Demonstration ist um 13:00 Uhr auf der Schützenmatte (Bern). Nach der Demo wird es noch bis ca. 16:00 Uhr Konzerte und Reden auf dem Bundesplatz geben.
6. Weil die Ungleichheiten geradezu explodieren.
Bei Weitem nicht alle Menschen sind gleichgestellt. Während Tausende von Arbeiter:innen kaum über die Runden kommen, verzeichnet nur eine privilegierte Minderheit einen starken Anstieg ihrer Einkommen. Von 1990 bis 2021 stieg das Einkommen der 0,1 Prozent der Topverdiener:innen (5165 Personen, die mehr als 900‘000 Franken pro Jahr verdienen) um 95,1 Prozent, während die 0,01 Prozent der Topverdiener:innen (516 Personen, die mehr als 3 Millionen Franken verdienen) einen Einkommenszuwachs von 160 Prozent verzeichneten[4]. Noch auffälliger ist der Anstieg der grossen Vermögen. Laut der Zeitschrift Bilan stieg das Vermögen der 300 Reichsten in der Schweiz bis 2021 um 16,3 % und erreichte mit 821,8 Milliarden Franken einen absoluten Rekord.
7. Weil sich Bosse und Aktionär:innen den Wanst vollschlagen.
Die Inflation bringt nicht nur Verlierer:innen hervor. Die OECD, die Organisation der reichsten Länder der Welt, stellt fest: „Die Unternehmensgewinne sind in vielen Ländern und Sektoren stärker gestiegen als die Arbeitskosten, was darauf hindeutet, dass die Krise bei den Lebenshaltungskosten nicht gleichmässig verteilt ist“.[5] Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, hat ausgerechnet, dass die steigenden Unternehmensgewinne zu zwei Dritteln der weltweiten Inflation im Jahr 2022 beigetragen haben[6]. In der Schweiz prangert der Preisüberwacher Stefan Meierhans eine „Inflation der Gier“ an[7]: Grosse Unternehmen wie ABB, Novartis, Nestlé oder Glencore haben ihre Preise stark erhöht und kündigen historische Gewinne an.
8. Weil die Staatskassen eigentlich voll sind.
Im Jahr 2021 erzielten die Kantone einen kumulierten Überschuss von 2,7 Milliarden Franken. Im Jahr 2022 erwirtschafteten sie Gewinne von über 3,5 Milliarden Franken (543 Millionen im Kanton Zürich, 727 Millionen in Genf usw.). Und dies ohne Berücksichtigung der buchhalterischen Tricks, mit denen das Ausmass der Überschüsse relativiert werden soll, wie beispielsweise die vom Kanton Freiburg vorgenommene Zuweisung von 192 Millionen an „Fonds und Rückstellungen“. Die Kassen der staatlichen Unternehmer:innen sind also ebenfalls voll. Vor diesem Hintergrund sind höhere Löhne im öffentlichen Sektor eine durchaus realisierbare Forderung! Und das Gleiche gilt für Stipendien, die wichtigste Einkommensquelle für die prekärsten Studierenden.
9. Weil die Unternehmer:innen mit Biegen und Brechen dagegenstemmen.
Laut einer Studie der Universität St. Gallen sind die an der Börse kotierten kotierten Schweizer Unternehmen (ohne Berücksichtigung des Finanzsektors) „deutlich profitabler als die Unternehmen in anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien“[8]. Und die Kurve zeigt nach oben: Die Summe ihrer Nettogewinne ist von 30 Milliarden Dollar im Jahr 2005 auf 92 Milliarden Dollar im Jahr 2022 gestiegen. Die Aussichten der Aktionär:innen der Schweizer Unternehmen sehen also rosig aus: Laut Schätzungen der Investmentgesellschaft Janus Henderson erhielten sie im letzten Jahr Dividenden in Höhe von 44,2 Milliarden US-Dollar. Trotz dieser aussergewöhnlichen Situation wollen die Unternehmer:innen nichts von einer Erhöhung der Reallöhne hören. Sie wischen die Forderungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes mit einem verächtlichen Tonfall beiseite. Pierre-Gabriel Bieri vom Centre patronal schreibt beispielsweise, dass sinkende Reallöhne „zu den Zufälligkeiten des Wirtschaftslebens gehören“ und dass „man von [den Unternehmen] keine übermässigen Anstrengungen verlangen kann, nur um die Kaufkraft der Bevölkerung zu erhalten“[9]. Auf Seiten der öffentlichen Hand klingt es ähnlich.
10. Weil die Angriffe auf die Arbeiter:innen keinen Abriss nehmen werden.
Die rechten Parteien und der Bundesrat verschärfen ihre Angriffe auf die Lebensumstände der Arbeiter:innen. Nachdem sie die Erhöhung des Rentenalters für Frauen durchgesetzt haben, haben sie die Indexierung der AHV-Renten abgelehnt und bereiten eine allgemeine Erhöhung des Rentenalters vor; im März haben sie das Projekt BVG 21 durchgesetzt, das eine Erhöhung der Beiträge und eine Senkung der BVG-Renten vorsieht; einige Monate zuvor hat die rechte Mehrheit des Bundesparlaments die Motion Ettlin angenommen, die die kantonalen Mindestlöhne abschaffen will. Das ist noch nicht alles. Der Bundesrat will auch den Bund zu drastischen Sparmassnahmen zwingen, indem er unter anderem die AHV-Renten für Witwen streicht, anstatt sie auch Witwern zu garantieren, während er an der geplanten „Tonnagesteuer“ [Transportunternehmen mit Sitz in der Schweiz werden nicht mehr nach ihrem Gewinn besteuert, sondern wahlweise nach ihren Transportkapazitäten; Anm. d. Red.] festhält, einem grosszügigen Steuergeschenk für grosse Schifffahrts- und Rohstoffunternehmen.
Fazit: Kommt alle am 16. September nach Bern und wehrt euch!
Um eine weitere Verarmung der Mehrheit der Arbeiter:innen zugunsten einer Minderheit von Superreichen zu verhindern, ist es unerlässlich, dass wir breit mobilisieren. Mit diesem Ziel vor Augen rufen der VPOD und alle Gewerkschaften des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, unterstützt vom Schweizerischen Mieter:innenverband (Asloca), zu einer grossen nationalen Demonstration am 16. September auf.
Wir werden uns für drei Hauptforderungen einsetzen: eine allgemeine Lohnerhöhung von 5% für alle per 1. Januar 2024, eine Erhöhung der AHV-Renten (13. Rente) und der BVG-Renten sowie eine Erhöhung der Stipendien. Kommt zahlreich und bietet den Unternehmer:innen die Stirn!
Praktische Informationen für die Teilnahme an der Demo (bspw. vergünstigte Hinfahrten)
Übersetzung durch Redaktion
Quellen
[1] 24 heures, 9. Mai 2023.
[2] NZZ, 25. Juli 2023.
[3] NZZ am Sonntag, 22. Juli 2023.
[4] NZZ, 3. Juni 2023.
[5] OECD: Employment Outlook 2023. Juli 2023.
[6] The Guardian, 27. Juni 2023.
[7] Blick, 30. Juli 2023.
[8] NZZ, 2. August 2023.
[9] Centre patronal, 26. Juli 2023.