Die Bewegung für den Sozialismus (BFS/ MPS) ging am Samstag, 24. Februar auf die Strasse, um ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung gegen den russischen Angriffskrieg zu zeigen. Nicht nur weil der Imperialismus ein Auswuchs des Kapitalismus ist und nachhaltiger antiimperialistischer Widerstand nur von Links funktioniert. Sondern auch, um ein Zeichen dagegen zu setzen, dass die Menschen, welche durch Imperialismus betroffen sind, vergessen werden. So schlossen sich über 500 Personen am Samstag, 24. Februar der der Demonstration an.
von João Woyzeck (BFS Zürich)
Zivilist:innen in der Ukraine werden täglich vom russischen Regime beschossen, in ihren Häusern, in Krankenhäusern, an Bushaltestellen, in Warteschlangen für Brot. Als Folge der russischen Besatzung leben Tausende von Menschen in der Ukraine ohne Zugang zu Wasser, Strom oder Heizung. Es sind die schwächsten Gruppen, die am meisten von der Zerstörung kritischer Infrastruktur betroffen sind.
In der Stadt Charkiw, die nur 30 km von der russischen Grenze liegt und wo die Sirenen aufgrund der Nähe oft erst heulen, nachdem eine russische Rakete eingeschlagen hat, zeigt sich sehr eindrücklich, wie sich das leben der Schwächsten verändert hat. So mussten beispielsweise Kinder von zuhause beschult werden. Mittlerweile gibt es fünf unterirdische Schulen, wo Kinder den für ihre persönliche Entwicklung so wichtigen zwischenmenschlichen Kontakt im Lernen pflegen können; eine davon in der Metro.
Die Zerstörung der kritischen und zivilen Infrastruktur wird die ukrainische Bevölkerung noch lange heimsuchen. Allein der direkte Schaden an der zivilen Infrastruktur der Ukraine beläuft sich gemäss aktuellen gemeinsamen Schätzungen der UN, der ukrainischen Regierung und der Weltbank nach zwei Jahren umfassender russischer Invasion auf mehr als 152 Milliarden US-Dollar. Ganze 37% dieses Schadens fallen in den Bereich des Wohnens. Allein bis Februar 2023 waren 130’000 Wohngebäude beschädigt oder zerstört worden. Damit wird klar, wie sehr Putin einen Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt.
Die gemeinsamen Berechnungen der UN, der Weltbank und der ukrainischen Regierung gehen von 499 Milliarden Dollar aus, die der Wiederaufbau nur schon während zehn Jahre nach dem Krieg kosten würde. Solche Zahlen sind immer Schätzungen und manche reichen bis zu 1’000 Milliarden US-Dollar. Und dennoch schwindet gegenwärtig die Unterstützung des Westens für die ukrainische Bevölkerung. Der Kriegsalltag der ukrainischen Bevölkerung fällt immer mehr aus dem Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Der Bewegung für den Sozialismus (BFS/ MPS) ging deswegen am Samstag, 24. Februar auf die Strasse. Unterstützt wurde die BFS/ MPS vom antiautoritären Kollektiv Organisiert Handeln, der SolidaritéS, dem Klimastreik Zürich, dem Comitato contro la guerra in Ucraina e contro il riarmo sowie Aktivistinnen der ukrainischen demokratischen sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung) und des anarchistischen Kollektivs Good Night Imperial Pride an, das ukrainische Sozialist:innen und Anarchist:innen an der Front mit praktischer Hilfe unterstützt.
Neben linken, sozial engagierten und friedensbewegten Organisationen und Personen aus Zürich, wie aus der ganzen Schweiz, schlossen sich auch Ukrainer:innen dem Demozug an.
Jo Lang, Mitglied der Alternative – die Grünen Zug (ALG) und der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSOA) hielt eine Rede darüber, welche Mitschuld die Schweiz als Ermöglicherin der russischen Kriegsmaschinerie trägt, und Organisiert Handeln las den Abschiedsbrief eines mit ihnen befreundeten ukrainischen anarchistischen Genossen vor, der an der Front gefallen war.
In bewegenden Reden boten Mitglieder des Sotsialnyj Rukh und von Good Night Imperial Pride einen Einblick in die Anliegen und das Erleben der Ukrainer:innen unter dem Krieg. Tasha Lomonosova vom Sotsialnyj Rukh teilte eine Erfahrungsdimension, die sie als Ukrainerin während der letzten zwei Jahre gemacht hatte. Sie erzählte davon, wie sie am 22. Februar 2022 morgens erwachte, um sich selbst bewusst zu machen: «Wach auf, der Krieg hat begonnen! Dieser Tag hat alles verändert. Seitdem schaut man sich in der Ukraine nicht mehr abends die Tagesnews an, sondern morgens. Nicht mehr das Tagesgeschehen des Alltags vor dem Zubettgehen, sondern der Ausnahmezustand, der nachts gewütet hat, treibt die Menschen um. Ein Ausnahmezustand aber, der mittlerweile schon zwei Jahre lang Normalität ist, wenn tagtäglich die Schlagzeilen titeln: ‘Zwei Menschen wurden in Odessa umgebracht, fünf in Charkiw, 10 wurden in Kyiv verletzt. ’ Dasselbe werden wir auch am nächsten Tag wieder lesen! Als Ukrainer:innen wurden wir uns vor zwei Jahren bewusst, dass wir nun auch zu jenen Menschen gehört, die sich an Krieg gewöhnen müssen. Doch Krieg ist etwas, an das sich niemand gewöhnen müssen sollte.»
Wenn die russische Besatzung heute nicht beseitigt wird, müssen dies einst die ukrainischen Kinder tun
Russische Besatzung, das haben nicht zuletzt die grausamen Entdeckungen 2022 in Butscha deutlich gemacht, bedeutet brutale Unterdrückung und Gewaltverbrechen. Und die teilweise besetzten Oblaste im Osten der Ukraine mahnen weiterhin, wie eine von Russland besetzte Ukraine aussehen könnte. Die düstere Aussicht auf ein Leben unter russischer Besatzung hat sich seit Butscha also nicht verändert: Luhansk, Donetsk, Saporischija und Cherson sind mittlerweile kremlhörige Diktaturen, in der die politische Opposition systematisch ausgeschlossen wird, Minderheitenrechte mit Füssen getreten werden, Dissident:innen verfolgt werden, Anwohner:innen unter Androhung von Renten- oder Jobverlust zwangseingebürgert werden (Passportization), 19’500 ukrainische Kinder für die Zwangsadoption nach Russland deportiert wurden, Medien wie zivilgesellschaftliche Organisationen vom Staat kooptiert werden, der Schulunterricht mit den offiziellen russischen Narrativen über den Krieg gleichgeschaltet wird und die ansässigen Männer unter Gewaltandrohung gezwungen werden, auf russischer Seite mitzukämpfen. Hierin zeigt sich die praktische Seite der Negation des Existenzrechts einer eigenständigen ukrainischen Bevölkerung durch Wladimir Putin!
Auch vor diesem Hintergrund haben Ukrainer:innen Angst, dass der Westen sie irgendwann im Stich lässt, dass die mögliche Wahl Trumps zum US-Präsidenten die USA in eine Art Splendid Isolation treiben könnte und die Ukrainer:innen ohne ausreichend Unterstützung zurückliesse, um sich gegen ein vorrückende russische Invasion zu verteidigen. Angst davor, dass die Ukraine in eine Situation der Niederlage geriete, die sie zu einem zweifelhaften Waffenstillstand zwingen würde, mit jemandem, dem man nicht trauen kann. Mit einem russischen Regime, das seit 2014 Waffenstillstandsabkommen und das Einfrieren des Konfliktes bzw. der von Russland forcierten Grenzverschiebungen im Osten der Ukraine ausgenutzt hat, um weitere Expansion vorzubereiten – zu guter Letzt die Ausweitung seiner imperialen Machenschaften hin zu einer umfassenden Invasion der gesamten Ukraine.
From Ukraine to Palestine – Occupation is a crime
Gegenwärtig leben wir in einer Welt, wo regionale und überregionale Mächte wieder mehr Mut gefasst zu haben scheinen, ihre Macht und Herrschaftsambitionen auf fremde Gebiete unverhohlen auszudehnen. Doch Besatzung ist und bleibt überall ein Verbrechen und so auch ethnische Vertreibung oder die Ermordung von Menschen anderer Bevölkerungen. Seien es die Angriffe auf die kurdische Bevölkerung durch die türkische Regierung in Rojava, die Vertreibung aller ethnischen Armenier:innen aus Bergkarabach oder die zionistisch-kolonialistische Expansionspolitik des Staates Israel gegen die palästinensische Bevölkerung und viele weitere menschenverachtende Verbrechen in der Welt.
Die Sprechchöre an der Demo skandierten neben klaren Absagen an das autoritäre System um Putin und der Forderung nach einem vollständigen Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine auch: «From Ukraine to Palestine – Occupation is a crime!»
Die ukrainische Bevölkerung wird von einem imperialistischen und nationalistischen Regime überfallen
Trotz der fehlenden grossen Gebietsgewinne auf beiden Seiten in 2023, ist Russland gegenwärtig in der Offensive. Der rücksichtslose Verschleiss der eigenen Soldat:innen, wie ihn nur eine autoritäre Diktatur vollbringen kann, und ein russischer Militärkomplex, der um 70% hochgefahren wurde, stehen einer ukrainischen Armee gegenüber, der die Munition ausgeht. Russland kann täglich etwa fünfmal soviel Artillerieschuss abgeben wie die Ukraine. Ukrainische Soldat:innen berichten davon, wie sie oft stundenlang ausharren müssen, während sich der Himmel über ihnen mit russischen Schüssen füllt, bis sie wieder einige Munition einsetzen können. Das Nachlassen der westlichen Hilfe und die mögliche Wahl eines US-amerikanischen Präsidenten, der im Wahlkampf verkündet, die Hilfe für die Ukraine einzustellen, lassen Schlimmes erahnen.
Die ukrainische Bevölkerung läuft gerade ernsthaft Gefahr, ihren Widerstandskampf zu verlieren, während Russland relativ erfolgreich erste Schritte einleitet, um folgend weitere Teile der Ukraine erfolgreich zu erobern und zu besetzen. Die Kleinstadt Awdijiwka, die von einigen als Bollwerk gegen den weiteren Vormarsch Russlands in den Westen der Ukraine gehandelt wurde, musste vor rund einer Woche geräumt werden. Dass sich die ukrainische Bevölkerung in einer hochgefährlichen Lage befindet, erkennt man beispielsweise daran, dass in Charkiw bereits höckerförmige Panzersperren, sogenannte Drachenzähne aufgestellt werden. Währenddessen baut Russland die Offensive auf den Oblast unnachgiebig aus.
Im Süden versucht Russland indessen nicht nur die geringen Gebiete zurückzugewinnen, welche die Ukraine unter gewaltigem Aderlass 2023 zurückzuerobern konnte. Russland bereitet sich bereits darauf vor, auch den Norden des Oblast Saporischschja zu besetzen. Raketenbeschüsse des Gebietes vertreiben die ansässige Bevölkerung und bereiten das Gebiet für ein russisches Vorrücken vor. Es ist richtig, dass auch Russlands Gebietsgewinne bisher sehr beschaulich waren. Wenn aber die Unterstützung des Westens weiter nachlässt, würde dem Kreml-Regime eine Vorlage geboten, um im Frühjahr endgültig in die Offensive zu gelangen.
Put your support where your mouth is!
Die Ursachen dafür, dass die Ukraine in die Defensive gedrängt wird, während die russische Armee an Momentum gewinnt, sind mannigfaltig. Nicht zu letzt liegt das an Russlands schierer militärischen Übermacht bzw. an der Realisierung dieses militärischen Potentials durch verstärkte Aufrüstung und der Kompensation der westlichen Sanktionen durch Ansätze einer Kriegswirtschaft, die die Nachfrage wirtschaftspolitisch steigert, und welche Russland deswegen aber auch abhängiger von der Fortführung des Krieges machen wird, um keinen Strukturschock zu erleiden.
Zu grossen Teilen liegt die düstere Situation der Ukraine aber auch daran, dass der Westen ihr nicht ausreichend oder nur verspätet durchschlagkräftige Waffensysteme geliefert hat. Die solidarische Zusage und die effektiv geleistete Unterstützung, d.h. gelieferte Menge und Art von Waffensystemen und Artillerie deckten und decken sich oft nicht. Der Ukraine reichte 2022 und 2023 ihre Durchschlagkraft nicht, um vollendete Tatsachen zu schaffen.
Dass die Ukraine Russland bis Ende 2022 von rund 18% des ukrainischen Territoriums nicht zurückdrängen konnte, gab Russland im Winter 2022/23, als grosse Offensiven in beide Richtungen unmöglich waren, die Chance, seine Besatzung auf den besetzten Gebieten zu konsolidieren, gegen kommende Befreiungsversuche zu wappnen. Das besetzte Territorium, auf dem Russland seine Besatzung verankern konnte, bot Russland auch einen strategischen Umschlagplatz, um sich zu remobilisieren und von wo aus künftige Eroberungszüge ausgeführt werden konnten und können. Hinzukam die sich seit 2022 zuspitzende Unteraustattung des ukrainischen Militärs. All diese Ursachen werden mit dazu beigetragen haben, dass dann auch die Grossoffensive der Ukraine 2023 unter enormen menschlichen Verlusten scheiterte.
Nicht unbegründet stellt sich in der Ukraine daher mittlerweile die Frage, wie weit der Westen überhaupt bereit ist (und war), den ukrainischen Widerstand gegen den russischen Imperialismus zu unterstützen.
Es stellt sich überhaupt die Frage, ob der Westen ein konkretes Ziel für die Unterstützung des ukrainischen Widerstandes hatte. Hätte der kollektive Westen allerdings schon vorher absehen können, dass er in seiner Solidarität nur bis zu einem gewissen Punkt gehen wollen würde, hätte er das der ukrainischen Führung auch klar so kommunizieren können und vor allem müssen. Denn die Ukraine war von Beginn ihres antiimperialistischen Widerstands und ihrer Ambitionen zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete an vollkommen von umfänglicher Unterstützung durch den Westen abhängig.
Ich möchte dem kollektiven Westen kein bösartig-opportunistisches kalkuliertes Handeln unterstellen, vor allem kein einseitiges Reduzieren von Bevölkerungen in schwächeren Volkswirtschaften zu reinen Proxys für die eigene Machtpolitik. In putinfreundlichen Kreisen wird praktisch seit März 2022 das Narrativ kolportiert, der Westen habe die Ukraine nur als Objekt ausgenutzt, um Russland für später und in Gegnerschaft zu sich selbst in einem langwierigen Krieg zu binden und auszubluten. Oder wie Putin selbst es ausgedrückt hat: «Der Westen will uns bis zum letzten Ukrainer bekämpfen.» Eine Behauptung, wie sie auch Querfröntler:innen wie Oskar Lafontaine in rechtsextremen Publikationen wie der Weltwoche oder in teilweise verschwörungstheoretischen Recherche- und Kommentar-Blogs wie den NachDenkSeiten durch Artikeltitel wie etwa «Kämpfen bis zum letzten Ukrainer?» evozieren.
Diese Behauptung halte ich hingegen für nicht haltbar. Vielmehr hat der Westen bzw. haben die westlichen Regierungen die Balance zwischen dem ungebrochenen Fluss russischer fossiler Energieträger, der Vermeidung einer Eskalation zu einem intereuropäischen Krieg (man vergesse nicht Russlands konstante Drohung mit Atomschlägen), dem Umgang mit der innenpolitischen Opposition, der schwierigen transeuropäischen Koordination, dem nationalen Egoismus bezüglich der Aufteilung der jeweiligen Staatshaushalte (wie viel wollen wir den Ukrainer:innen überhaupt geben?) und einem vermeintlichen Mindesmass an Unterstützung für die Ukraine versucht. Hinzukommen fehlendes Bewusstsein über die eigenen Ziele und die eigene Bereitschaft oder schlicht die Unfähigkeit, als kollektiver Westen gemeinschaftlich Ziele und Bereitschaft auszumachen, sowie die Unterschätzung Russlands nach dessen anfänglicher Niederlage und stümperhaften Strategie 2022.
Und die Alternative, schon 2022 gar nicht erst unterstützend einzusteigen, wäre allein schon deswegen unsinnig gewesen, weil die Option, die Ukraine sich selbst zu überlassen, zur Zerstörung der Ukraine als souveränem Staat, Zwangsassimilierung, Diktatur und brutalster Unterdrückung geführt hätte. Womöglich hätte das weite Teile Ost- und Ostmitteleuropas dauerhauft destabilisiert. Der Westen musste die Ukraine unterstützen, auch um der Ukrainer:innen willen. Und dennoch hat auch das zaudernde Verhalten des kollektiven Westens die Ukraine nun in eine Lage gebracht, wo die Ukrainer:innen mit dem Rücken zur Wand stehen.
Nun ist die Intentionalität eine Sache, aber die praktischen Folgen sind eine andere.
Wenn der Westen sich nicht auch praktisch zu seiner Solidarität mit der Ukraine bekennen sollte, wird dies üble Folgen für die Freiheit und physische, kulturelle und psychische Unversehrtheit der ukrainischen Bevölkerung haben. In diesem Frühjahr stellt sich dann vielleicht nicht mehr nur die Frage — wie sie sich der ukrainische Generalstab mittlerweile gesetzt hat —, ob man in einer neuen der gescheiterten Offensive 2023 angepassten Strategie der aktiven Defensive die Linie zu den seit 2023 unbesetzten Gebieten halten können wird, sondern ob Russland nicht sogar bis zum Dnipro durchmarschiert.
Die ukrainische Bevölkerung befindet sich in einer komplexen Gemengelage aus Ausbeutung, Besatzung und Unterdrückung
Die ukrainische Lohnabhängigenklasse aber kämpft in gewisser Weise an zwei Fronten. Die Bewegung für den Sozialismus zeigte sich an der Demo mit Ukrainer:innen solidarisch und verwies dabei insbesondere auf die Situation der ukrainischen Lohnabhängigen. Es scheint klar, dass kaum etwas die Freiheit von Lohnabhängigen, sich demokratisch zu organisieren, so sehr beschneiden würde, wie die Fremdherrschaft des russischen Besatzers, der schon die eigene Bevölkerung mit einer brutalen und mörderischen Autokratie unterdrückt. Die ukrainische Bevölkerung hat ein Recht auf ein Leben in Freiheit und Würde und gerade damit einhergehend ein auch ein Recht darauf, sich gegen eine Invasion wehren, die genau das bedroht.
An der Demonstration wurde weiter darauf hingewiesen, dass sich die ukrainische Lohnabhängigenklasse auch durch die Regierung Selenskyj angegriffen sieht. Diese nutzt den Krieg, um die Ausbeutung massiv zu verschärfen: In Klein- und mittelständischen Unternehmen dürfen tarifvertraglich geregelte Kollektivverträge durch persönliche Einzelverträge ersetzt werden, der Kündigungsschutz wurde gelockert, Löhne können bei Ausfall aufgrund von Wehrdienst drastisch gesenkt werden, das Arbeitspensum kann durch die:den Unternehmer:in massiv erhöht werden etc.
Der neoliberale Austeritätskurs Selenksyjs in Verbindung mit den strukturpolitischen Massnahmen, die der Ukraine von ihren internationalen Geldgebern für die Kreditvergabe auferlegt werden, führten dazu, dass der öffentliche Dienst und die öffentliche Infrastruktur abgebaut oder privatisiert werden. So führte bspw. die Einverleibung des Sozialversicherungsfonds – der tripartit durch Repräsentant:innen des Staates, der Gewerkschaften und der Lohnangestellten geleitet wurde und in etwa der selbstfinanzierten zweiten Säule BVG entsprach – in den staatlichen Rentenfonds im September 2022 zu einer Reduktion der Sozialleistungen.
Die Armut in der Ukraine hat sich durch den russischen Angriffskrieg massiv verschärft. Angesichts der Vielzahl verschieden betroffener Ukrainer:innen, kann an dieser Stelle nur ein knapper Einblick in einige wenige Eckdaten gegeben werden. 2022 war das durchschnittliche Einkommen um 26,7% zurückgegangen. Trotz der fehlenden staatlichen Angaben seitens der ukrainischen Regierung dürfte die Erwerbslosenquote gegenwärtig zwischen 15 und 25% liegen. Insbesondere Frauen und weiblich gelesene Personen müssen sich aufgrund der ökonomischen Not immer mehr im informellen Sektor verdingen, wo sie prekarisierter sind und massiv weniger verdienen. Gemäss Angaben der Weltbank, die sich der globalen Armutsgrenze von 6,85 US-Dollar bediente, einer viel zu niedrig angesetzten Grenze, hat sich die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Ukrainer:innen von 2021 auf 2022 von 5,5% auf 24,1% vervielfacht. Zwischen 7,6 und 13,1 Mio. aller Ukrainer:innen waren 2023 von Ernährungsunsicherheit betroffen. Und es trifft dabei eben die Schwächsten. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür sind die rund 3,7 Mio. Binnengeflüchteten, von denen nur rund 30% ihr Leben mit ihrem Gehalt bestreiten kann.
Es ist schwierig zu sagen, wie viel der Neoliberalisierung auf Selenskyjs Mist gewachsen ist und wieviel sich aus den Bedingungen der internationalen und westlichen Geldgeber oder Unterstützer ergibt. Feststeht jedoch, es gibt auch eine dritte Ursache für das Schrumpfen des ukrainischen Sozialstaates und der Arbeiter:innenrechte: Es ist nicht nur so, dass die russische Invasion die ukrainische Wirtschaft zerstört. Sondern die russischen Angriffe zwingen die Ukraine auch dazu, den eigenen Haushalt immer mehr in die Landesverteidigung zu investieren. Schon 2022 mussten 42% des ukrainischen Staatshaushaltes in die Verteidigung investiert werden, während die Sozialausgaben im Vergleich zum Vorjahr von 23 auf 16% sanken. Eine soziale Ukraine wird ohne ein Ende des russischen Angriffskrieges also letztlich nicht möglich sein.
Wir haben nichts zu verlieren als die Zwänge des fossilen Kapitalismus
Die imperialistische Invasion der Ukraine durch Russland steht in engem Zusammenhang mit der Abhängigkeit des Westens, allen voran Westeuropas von fossilen Energieträgern. Der Bedarf an russischem Erdgas und Rohöl war ein Grund dafür, weshalb Europa 2014 auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim mit Appeasement reagierte. Und Länder wie die sogenannt neutrale Schweiz und das sogenannt neutrale Österreich füttern Putins Kriegskasse nach wie vor:
Bis zum Inkrafttreten des Preisdeckels für den Handel mit russischem Öl und Raffinerieprodukten (2023) handelte die Schweiz bis zu 60% davon und ermöglichte damit die Finanzierung von ungefähr 20% des russischen Staatshaushalts. Trotz der nun auch für die Schweiz geltenden Sanktionen auf den Handel mit russischem Öl wurde darauf verzichtet, wirksame Kontrollmassnahmen einzuführen. Mitte Februar hat sich der Verdacht erhärtet, dass Schweizer Rohstoff-Handelsfirmen die Russland-Sanktionen umgangen haben sollen – via Tochterfirmen im Ausland. Wieder einmal zeigt sich: Neutralität bedeutet für die Schweiz nichts weiter als Werteneutralität. Dass der Rubel rollt hingegen ist die goldene Regel!
Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in massivem Ausmass von russischen Gaslieferungen abhängig gemacht. Der letzte grosse Schritt in diese Abhängigkeit war die Verlängerung der langfristigen Lieferverträge für russisches Erdgas im Jahr 2018. Diese Entscheidungen haben dazu geführt, dass Österreich zu Beginn des russischen Angriffskrieges bereits 80 Prozent seiner Gaslieferungen aus Russland bezog. Nach einem kurzen Rückgang ist der Anteil von aus Russland bezogenem Gas wieder angestiegen: Im Dezember 2023 lag er bei 98 Prozent. Das ist ein absoluter Höchststand seit Beginn des Angriffskriegs.
Es steht ausser Frage, dass uns die Diktatoren von Welt- und Regionalmächten, die auf ihren fossilen Energieträgern sitzen, erpressen, indem sie uns Billigöl und Billigas anbieten dafür, dass wir bei ihren Brüchen des Völkerrechts und ihrem Verletzen der Menschenrechte wegschauen. Das Problem sind also die Sachzwänge des fossilen Kapitalismus. Deswegen kann die Lösung nicht in den Forderungen von links-reaktionären Sozial-Chauvinist:innen wie Sahra Wagenknecht liegen, die die materiellen Interessen der Lohnabhängigen in den vom russischen Angriffskrieg nicht direkt betroffenen Staaten gegen die materiellen Interessen der ukrainischen Lohnabhängigen, die täglich von Russlands Krieg ermordet und unterdrückt werden, ausspielen, um eine Rückkehr zum offenen Handel und Import von billigen russischen fossilen Energieträgern zu propagieren. Der fossile Kapitalismus muss überwunden werden, um eine solidarische und umfassend demokratische Welt zu schaffen. Anna Jikareva, die für die WOZ schon viele Mal über die Ukraine und über Russland geschrieben hat, brachte die Komplizenschaft der Schweiz in ihrer Rede zum Auftakt der Demo auf den Punkt, als sie sagte: «Der Feind steht auch im eigenen Land!»
Vergesst uns nicht, denkt an uns und glaubt an uns!
Zum Schluss wollen wir nochmals auf die berührenden Worte von Tasha Lomonosva zurückkommen: Im Angesicht der gegenwärtig schwindenden Unterstützung und Bewusstseins für die Ukraine mahnte sie:
«Je weniger Hilfe geleistet werde, umso länger dauere der Krieg.
Und je länger der Krieg bleibt, desto mehr entfremden sich unsere beiden Realitäten – in der Ukraine und in Westeuropa – voneinander. Noch können wir auf beiden Seiten dieselbe Sprache sprechen. Das aber wird kaum mehr möglich sein, wenn ich nach fünf oder sechs Jahren weiteren Krieges wieder nach Zürich käme, aus einer Gesellschaft, die mittlerweile stark militarisiert worden ist, aus einer Gesellschaft, die ich selbst nicht mehr wiedererkennen würde. Denn die Besatzung eines Landes – militärisch durch Russland und seelisch durch den Krieg – erstickt dessen Freiheit und dessen Raum für progressive Ideen.
Deswegen appelliere ich an euch, die Ukrainer:innen nicht alleine zu lassen damit, was sie gegenwärtig erleben, damit, wie unser Leben Schritt für Schritt besetzt wird. Ihr müsst alles nutzen, was euch zur Verfügung steht, um die Kriegsmaschinerie Russlands stoppen. Es kann nicht sein, dass eure Solidarität weicht, während eure Profite aus dem Handel mit russischen fossilen Rohstoffen allweil weitergehen, nur eben versteckter.
Denn nur mit einer freien Ukraine können wir uns weiter verstehen, gemeinsam soviel schönes erreichen, für eine bessere Welt kämpfen. Deswegen vergesst uns nicht, denkt an uns und glaubt an uns!»
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