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Die Entwicklung der Schweizer Sozialdemokratie von einer Arbeiter:innenpartei zum linken Flügel des Neoliberalismus

Rosa Luxemburg nannte die Sozialdemokrat:innen Halunken. Jean Ziegler bezeichnet die SP als Rotes Kreuz des helvetischen Kapitalismus. Bis heute ist die Sozialdemokratie trotzdem eine Hoffnungsträgerin für viele Linke geblieben. Welche politische Rolle spielt die SP in der bürgerlichen Gesellschaft und warum ist ihre die Bezeichnung als “reformistische” Organisation irreführend? (Red.)

von BFS/MPS

Die SP Schweiz gehört zu einer internationalen Strömung, die traditionell als “reformistisch” bezeichnet wurde und die aus der 1889 gegründeten Sozialistischen Internationale (II. Internationale) hervorgegangen ist. Rosa Luxemburg meinte schon vor 100 Jahren: “Die Sozialdemokratie ist nur noch ein stinkender Leichnam”, sowie: “Die deutschen Sozialdemokraten sind die infamsten und größten Halunken, die in der Welt gelebt haben.”[1]

In diesen über 100 Jahren hat sich viel geändert und es wäre angesichts der zahlreichen “Verdienste der Reformisten” – von der Unterstützung der Kolonialkriege bis zur Umsetzung der neoliberalen Gegenreformen – zu kurz gegriffen, bei diesen Zitaten zu verharren. Bei der Einschätzung und Charakterisierung der Sozialdemokratie scheint uns deshalb wichtig, einen historisch-evolutionären Ansatz zu verfolgen, indem die SP zusammen mit den Gewerkschaften als Teil eines Ganzen, der Arbeiter:innenbewegung, betrachtet wird. Zudem müssen die nationalen Besonderheiten der Schweiz berücksichtigt werden.

Helvetische Besonderheiten

Eine der wichtigsten Besonderheiten der Schweiz ist die jahrzehntelange Beständigkeit einer Regierung der nationalen Einheit, die die Vertreter:innen der Sozialdemokratie in die Definierung und Umsetzung der Politik des bürgerlichen Staates von der lokalen bis zur Bundesebene einbindet. Dies wird allgemein als Konkordanzsystem bezeichnet. Auf Bundesebene existiert diese Regierung der nationalen Einheit mit “linken” Minister:innen im Bundesrat seit 1943 (mit einer kurzen Pause zwischen 1953 und 1959).

Von der Klassen- zur Volkspartei
Die Aufnahme der SP in die Bundesexekutive kam nicht aus dem Nichts. Sie folgte auf die Veränderungen in den Orientierungen und Praktiken der Arbeiter:innenbewegung. Zwei Beispiele sind hier besonders wichtig: 1. die Unterzeichnung der ersten “Arbeitsfriedens”-Abkommen zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmen in der Maschinen- und Metallindustrie 1937. Dieses Abkommen beinhaltete ein Streikverbot, ohne dass normative Regelungen bzgl. Löhne und Arbeitsbedingungen vorgenommen wurden; 2. die Aufgabe des Ziels der Diktatur des Proletariats auf dem SP-Kongress im Januar 1935 in Luzern und die Anerkennung der “Notwendigkeit der Landesverteidigung” auf demselben Kongress. Die Tageszeitung in der Bahnhofstraße (NZZ) fasste dies wie folgt zusammen: “Die Genossen demonstrierten immer stärker ihre Zugehörigkeit zur Nation, beteiligten sich mit Verve an der geistigen Landesverteidigung und wurden dafür 1943 mit einem ersten Sitz im Bundesrat belohnt. Das Parteiprogramm von Luzern, das Historiker heute einen ‘Kompromiss nach rechts’ nennen, ist ein zentraler Markstein auf dem Weg von der Klassen- zur Volkspartei und zur Konkordanzdemokratie.” (NZZ, 5. Januar 2015)

Was die Bedeutung dieser Regierungsbeteiligung betrifft, lohnt es sich, noch einmal Rosa Luxemburg zu zitieren: “Das Wesen einer bürgerlichen Regierung wird nicht vom persönlichen Charakter ihrer Mitglieder bestimmt, sondern von ihrer grundsätzlichen Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Regierung des modernen Staates ist ihrem Wesen nach ein Instrument der Klassenherrschaft, deren planmäßiges Funktionieren eine der Existenzbedingungen des Klassenstaates darstellt. Mit dem Eintritt eines Sozialisten in die Regierung besteht die Klassenherrschaft weiter, die bürgerliche Regierung wird nicht zu einer sozialistischen, jedoch ein Sozialist verwandelt sich in einen bürgerlichen Minister. Die Sozialreformen, die ein Minister als Freund der Arbeiter verwirklichen kann, haben nichts Sozialistisches an sich, sie sind nur insoweit sozialistisch, als sie durch den Klassenkampf erzielt worden sind. Die Sozialreformen, die von einem Minister kommen, können keinen proletarischen, sondern nur bürgerlichen Klassencharakter haben, denn der Minister verbindet sie durch den Posten, den er einnimmt, mit seiner Verantwortung für all die anderen Funktionen der bürgerlichen Regierung wie Militarismus usw. […] Der Eintritt von Sozialisten in eine bürgerliche Regierung bedeutet daher nicht, wie man glaubt, eine teilweise Eroberung des bürgerlichen Staates durch die Sozialisten, sondern eine teilweise Eroberung der sozialistischen Partei durch den bürgerlichen Staat.”[2]

Diese Analyse ist keinen Tag gealtert, außer in einem Punkt. Die Minister, die heute als “Freunde der Arbeiter:innen” gelten, sind kaum mehr Träger:innen von sozialen Reformen. Sie sind eher treue Verteidiger der bürgerlichen Interessen, wie SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, die die Kämpfe des Bundesrates gegen jede Sozialreform (13. AHV-Rente, Deckelung der Krankenkassenprämien auf 10% des Einkommens usw.) verkörpert und dabei wortwörtlich die Argumentation der Unternehmen wiedergibt.

In der Schweiz dient die Einbindung der SP in die Regierung – im Rahmen einer ständigen Koalition mit den Bürgerlichen, einschließlich der extremen Rechten (SVP) – einem doppelten bürgerlichen Ziel: einerseits gewährleistet sie eine große politische Stabilität und Kontinuität, andererseits dient sie der Umsetzung von Reformen, die bei linksorientierten Bürger:innen auf Widerstand stoßen, indem die betreffenden Projekte von sozialdemokratischen Minister:innnen getragen werden.

Partei und Gewerkschaften

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung bestand seit Ende des 19. Jahrhundert aus zwei Komponenten, die sich die Arbeit teilten: der Partei und den Gewerkschaften. Die Partei übernahm die institutionelle Arbeit, die Wahlen und die parlamentarische Arbeit, die Gewerkschaften waren für die Organisation der Klasse – des Proletariats – in den Betrieben zuständig. All dies sollte mit einem sozialistischen Horizont und dem Ziel des Bruchs mit dem Kapitalismus geschehen. Davon ist aber nicht nur die Partei vor mehr als 100 Jahren abgekommen, sondern auch die Gewerkschaften.

Das politische Gegenstück zur Regierungsintegration ist die institutionalisierte Klassenzusammenarbeit auf Gewerkschaftsebene, deren wichtigster Ausdruck die Unterzeichnung von “Arbeitsfriedens”-Abkommen in Form von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) ist. Diese beinhalten jeweils ein Streikverbot. Diese Praxis, die Mitte der 1930er Jahre aufkam und sich nach dem Zweiten Weltkrieg definitiv durchsetzte, wird bis heute nicht in Frage gestellt, wie die kürzlich erfolgte Verlängerung des GAV für die Uhrenindustrie zeigt. Dessen erste Fassung stammt aus dem Jahr 1937 und er legalisiert bis heute die Tieflöhne in der Uhrenbranche.

Der Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen ist für die Gewerkschaften ein entscheidendes Finanzierungsmittel. Aus jedem GAV erhalten sie sogenannte “Berufsbeiträge” (oder “Solidaritätsbeiträge”), die die Unternehmen und die Arbeitenden zur Durchführung des GAV paritätisch einzahlen. Diese Gelder sind eine wichtige Quelle zur Finanzierung der Gewerkschaftsapparate. Grundsätzlich ist es solchen sozialpartnerschaftlichen Vereinbarungen zu verdanken, dass die Unia im Laufe der Zeit ein Vermögen (Immobilien, Wertpapiere usw.) von über 800 Millionen Franken aufbauen konnte.

Die Klassenzusammenarbeit ist das Evangelium der großen Mehrheit der Gewerkschafter:innen. Die Anführer:innen der Sozialdemokratie sind voll und ganz Teil der kollegialen Verwaltung der Interessen des Kapitals, Hand in Hand mit den Bürgerlichen und den Unternehmen. Die Einschätzung von Jean Ziegler kann daher nur geteilt werden: Es handelt sich um eine “Ramsch-Sozialdemokratie: […] eine Linke der Komplizenschaft, des Konsenses [und] der Koalitionsregierung, die nichts anderes ist als das Rote Kreuz des helvetischen Kapitalismus.” (Le Temps, 11. September 2023).

Das Ergebnis dieser kollegialen Arbeit der Gewerkschaften mit den Unternehmen ist, dass es seit den 1950er Jahren nur sehr wenige Kämpfe und Streiks der Lohnabhängigen an ihren Arbeitsplätzen gegeben hat. Es gab auch (fast) keine landesweiten Mobilisierungen, die sich gegen die umfassenden neoliberalen Angriffe der Unternehmen seit den 1980er Jahren richteten. Schliesslich gibt es kaum noch eine Kontinuität der Arbeiter:innenkämpfe, die zu gemeinsamen Referenzen für die Lohnabhängigen und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz

Beschleunigung der Krise der Arbeiter:innnenbewegung

Zwar müssen die jahrzehntealte Kontinuität der Klassenkollaboration der SP mit den Bürgerlichen und der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen der Gewerkschaften mit den Unternehmen hervorgehoben werden. Es ist aber ebenso notwendig, die Veränderungen innerhalb der organisierten Arbeiter:innenbewegung zu berücksichtigen. Denn die Arbeiter:innenbewegung in der Schweiz war nicht immer das, was sie heute ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine lebendige, dynamische und aktive Bewegung. Das wichtigste Beispiel ihrer Geschichte ist der Generalstreik 1918, an dem sich gut ein Viertel der aktiven lohnabhängigen Bevölkerung in der Schweiz beteiligte (die Schätzungen gehen von 250‘000 bis 400‘000 Streikenden aus) und den der bürgerliche Staat mit massiver Repression niederschlug.

Die heutige Krise der Arbeiter:innenbewegung ist nicht neu. Ihre Apathie, das Fehlen eines Klassenbewusstseins und die mangelnde Organisierung sind Phänomene, die sich seit Jahrzehnten verfestigt haben. Aber es ist unbestreitbar, dass sich diese Krise seit den 1990er Jahren beschleunigt hat, und sei es nur in Bezug auf die Repräsentativität. Denn der Organisationsgrad, also der relative Anteil an gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen, ist in den letzten dreißig Jahren um fast die Hälfte gesunken. Auch die SP hat massiv an Mitgliedern eingebüsst.

Was die Gewerkschaften betrifft, so betrug die Zahl der “Gewerkschaftsmitglieder” am 31. Dezember 2022 661’492 Personen, wenn man alle vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) erfassten Arbeiter:innenorganisationen berücksichtigt, einschließlich der Berufsverbände, die eigentlich nichts mit Gewerkschaften zu tun haben. In den Statistiken des SGB wird zudem nirgends der Prozentsatz der Rentner:innen, also nicht mehr in den Betrieben aktiven Lohnabhängigen, erwähnt. Dieser Anteil wird mindestens 20% betragen.[3] Diese Schätzung ist vielleicht sogar noch zu niedrig, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel in der Eisenbahner:innengewerkschaft (SEV) fast die Hälfte der Mitglieder Rentner:innen sind. Kurzum, wenn man von dieser Schätzung ausgeht, umfassen alle diese Organisationen, von denen einige nichts mit Gewerkschaften zu tun haben, kaum mehr als 500‘000 Lohnabhängige. Da es im Jahr 2022 in der Schweiz 4,778 Millionen Lohnabhängige gab, bedeutet dies, dass fast 90% von ihnen nicht Mitglied einer gewerkschaftlichen Organisation sind.

Der Dachverband SGB (Unia, VPOD, SEV usw.), der mit Abstand grösste Gewerkschaftsbund, hatte Ende 2022 315‘190 Mitglieder. Bei einem Rentner:innenanteil von 20% ergibt dies rund 250‘000 organisierte Lohnabhängige, was einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von knapp über 5% entspricht. Der Rückgang der Mitgliederzahl des SGB ist sehr stark. Im Jahr 1992 zählte der SGB noch 436‘548 Mitglieder, was einem Rückgang von 121‘358 Mitgliedern (-27,8%) in 30 Jahren entspricht. In diesem Zeitraum ist die Zahl der Beschäftigten zudem um 1,261 Millionen gestiegen (1992 gab es noch 3,517 Millionen Lohnabhängige in der Schweiz). Der gewerkschaftliche Organisationsgrad im SGB ist also insgesamt um fast die Hälfte gesunken – er ist im freien Fall.

Was die SP betrifft, so hatte sie Ende November 2022 33‘407 Mitglieder. 1920 hatte sie 53’910 Mitglieder (bei einer Erwerbsbevölkerung von 1’871’725 Personen). Seit ihrem Höhepunkt (absolut) in den 1960er Jahren hat sich die Mitgliederzahl beinahe halbiert. Ein beträchtlicher Teil von ihnen sind zudem keine Arbeiter:innen, sondern Angestellte und Beamte. Wenn man grosszügig zählt, kann man davon ausgehen, dass 20’000 Lohnabhängige (etwa 0,4 Prozent der Gesamtheit in der Schweiz) Mitglieder der SP sind.

Noch gravierender als die zahlenmässige Repräsentativität ist, dass die Netzwerke von Aktivist:innen, die Aktionen an den Arbeitsplätzen anregen können, heute äusserst begrenzt sind. Es fehlt eine klassenkämpferische Kultur, die in Teilen des Proletariats, und seien sie auch noch so minoritär, ein Vorbildcharakter und Bezugspunkt sein kann. Kurzum, die sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftspolitik und ihr Pendant auf politischer Ebene, die permanente Klassenzusammenarbeit der SP-Führung mit den bürgerlichen Parteien, hinterlassen in der Schweiz ein desorganisiertes, kampfunerfahrenes und ideologisch unbewaffnetes Proletariat.

Abkehr vom Reformismus

Allgemeiner gesagt, und das ist natürlich nicht nur ein helvetisches Phänomen, gibt es die “reformistische Linke” im traditionellen Sinne des Wortes nicht mehr. Es hat ein doppelter Bruch mit dem stattgefunden, was die Sozialdemokratie einmal war: sozialistisch.

Erstens drückt sich dieser Bruch vor allem dadurch aus, dass man sich von einer Politik abgewendet hat, in der ein “Jenseits des Kapitalismus” vorbereitet werden soll. Noch 1981 verwendete der französische Präsident François Mitterand immerhin die Formel vom “Bruch mit dem Kapitalismus”.[4] Daher die rhetorische Frage des französischen Revolutionärs Daniel Bensaïd: “Sobald sie [die sozialdemokratische Partei] die Unantastbarkeit des Privateigentums an den Produktions- und Kommunikationsmitteln nicht mehr in Frage stellt, und sei es auch nur durch Reformvorhaben, kann sie zwar noch demokratisch, gemässigt liberal oder aufgeklärt republikanisch genannt werden… aber sozialistisch?”[5] Tatsächlich wurde, wie Ugo Palheta vor einigen Jahren schrieb, “‘Reformismus’ seit den 1980er Jahren zum Decknamen für den Verzicht auf jegliche Reform, zumindest so, wie man dieses Wort bis dahin in der Linken verstehen konnte, d.h. als Maßnahme, die das Leben der Arbeiter:innenklasse schrittweise verbessert und die Interessen der Unternehmen zumindest teilweise in Frage stellt”.

Zweitens drückt sich dieser Bruch in der Veränderung der sozialen Basis der SP aus. So gab es nicht nur eine starke Lockerung der Verbindungen der sozialdemokratischen Führungen zu den Arbeiter:innen, sondern auch eine zunehmende Integration dieser Führungen in Segmente des Staatsapparats, in unternehmerische (öffentliche oder halböffentliche) Kader und in geringerem Maße in das Privatkapital.

Durch ihre Beteiligung an den Exekutiven (lokale und nationale Regierungen) verfügt die SP heute über Stellen in leitenden Funktionen in städtischen, kantonalen und eidgenössischen Ämtern, in öffentlichen oder gemischten Unternehmen (Verkehr, Energie, Post usw.), in Krankenhäusern oder Schulen usw. Hinzu kommt eine beträchtliche Anzahl von Posten für Berufspolitiker:innen: Stadträt:innen in mittleren und großen Städten, Kantonsrät:innen, Bundesparlamentarier:innen, Parteifunktionäre:innen (auf lokaler und nationaler Ebene) etc. Diese soziale Schicht (hohe Beamte, Verwaltungsangestellte, Politiker:innen usw.) ist heute ein zentraler Bestandteil der SP-Basis. Dies sind die materiellen und sozialen Wurzeln der Abkehr von jeglicher reformistischen Logik.

Der marxistische Ökonom Ernest Mandel erklärte diese Veränderung wie folgt: “Die eigentliche Entwicklung von Arbeitermassenorganisationen und die Eroberung wichtiger Positionen innerhalb der Institutionen des demokratischen bürgerlichen Staates (Parlament, Stadt- und Regionalverwaltungen, Unternehmen des öffentlichen Sektors usw.) wirken als mächtiger Hebel, um sie durch individuellen sozialen Aufstieg in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Es sind nicht die Institutionen des bürgerlichen Staates, die durch dieses Eindringen von Arbeitervertretern in seine obersten Organe ‘umgestaltet’ werden. Es sind vielmehr diese Arbeitervertreter, die in ihren Überzeugungen, ihrer Mentalität, ihrer Motivation und ihren materiellen Interessen umgewandelt werden. [Der russische Revolutionär] Trotzki schloss daraus, dass die Führung dazu tendiert, sich von der Arbeiterklasse zu lösen und von der herrschenden Klasse ‘eingesaugt’ wird.” [6] Oder um es mit Daniel Bensaïd zu sagen: diese Abkehr von der Arbeiter:innenklasse ist Ausdruck “sozialer und materieller Kristallisationen”.[7]

Hinwendung zum Neoliberalismus

So hat die SP, genau wie ihre europäischen Schwesterparteien, nicht mehr die Merkmale einer sozialdemokratischen Kraft. Sie hat keinen sozialistischen Horizont mehr, nicht mal mehr verbal; sie ist kein Projekt sozialer Reformen mehr, das diesen Namen verdient; sie vertritt nicht die Logik der kollektiven Organisation und Mobilisierung bedeutender Teile des Proletariats, um dieses Projekt zu verwirklichen. “Es ist nicht mehr die ‘gleiche’ Sozialdemokratie, es ist nicht mehr die Sozialdemokratie”, meint der französische Revolutionär François Sabado.[8]

Das macht die SP zwar nicht zu einer bürgerlichen Partei: Sie hat eine besondere Geschichte, gefestigte Verbindungen zur Gewerkschaftsbewegung – die immer noch Teile der Lohnabhängigen organisiert –, und besitzt eine spezifische Positionierung im politischen Spektrum (dem “sozialen Neoliberalismus”). Das kann die SP immer wieder dazu veranlassen, institutionelle Kämpfe gegen die “Exzesse” der Rechten oder für soziale Fortschritte zu führen. Entscheidend ist aber etwas anderes.

Die SP ist keineswegs nur Juniorpartnerin der Bürgerlichen, sondern eine zentrale Säule bei der Umsetzung einer Reihe von neoliberalen Projekten: die Zerschlagung der ehemaligen Bundesbahnen (PTT, SBB); die Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 62 auf 65 Jahre (10. AHV-Revision 1997, dann AV2020, AHV21); die unsoziale Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) 2019; die drastischen Unternehmenssteuersenkungen auf kantonaler Ebene (Neuenburg, Waadt usw.) usw. Die SP ist mitverantwortlich für die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft seit den 1980er Jahren und den darauf aufbauenden Aufstieg der Rechten.

Die Sozialdemokratie hat sich in den letzten 100 Jahren nicht nur verändert, sondern einen tiefgreifenden Wesenswandel durchlaufen. François Sabado fasst den Wandel von einer Arbeiter:innenpartei zum linken Flügel des Neoliberalismus wie folgt zusammen: “Von einer Sozialdemokratie, die angesichts des Klassenkampfes ihre Unterstützung für die kapitalistische Ordnung gegen soziale Verbesserungen eintauschte, ging man zu sozialdemokratischen Parteien über, die zu ‘reformistischen Parteien ohne Reformen’ und schließlich zu ‘Parteien der liberalen Gegenreformen’ wurden.”[9]


[1] „Rede zum Programm, gehalten von Rosa Luxemburg auf dem Gründungskongress der KPD 1918/19, in Œuvres II, écrits politiques 1917-1918, Editions Maspero, S. 101.

[2] Aus einer Antwort Luxemburgs auf eine internationale Umfrage des Chefredakteurs von La Petite République bei bekannten Vertretern der europäischen sozialistischen Parteien (1899); Gesammelte Briefe, Band 1, Berlin 1982, S. 359 und 380.

[3] Es gibt für die Schweizer Gewerkschaften keine vorhanden Zahlen. Ein europäischer Vergleich lässt aber die begründete Vermutung zu, dass es mindestens 20% sind. In den drei grössten Gewerkschaften Italiens CGIL, CISL und UIL sind fast die Hälfte der Mitglieder Rentner:innen. In Deutschland hat die Dienstleistungsgewerkschaften Verdi 25%, die IG Metall 30% und die IG Bergbau, Chemie, Energie 40% Rentner:innen.

[4] Ganz zu schweigen von den Orientierungen, die die Sozialistische Partei – Französische Sektion der Arbeiter-Internationale (SFIO) zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat, in deren “Grundsatzerklärung” von 1905 es hiess: “Die Sozialistische Partei ist eine Klassenpartei, deren Ziel die Vergesellschaftung der Produktions- und Tauschmittel ist, d.h. die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine kollektivistische oder kommunistische Gesellschaft, und deren Mittel die wirtschaftliche und politische Organisation des Proletariats sind. Nach ihrem Ziel, ihrem Ideal und den Mitteln, die sie anwendet, ist die sozialistische Partei, während sie die Verwirklichung der von der Arbeiterklasse geforderten unmittelbaren Reformen verfolgt, keine Reformpartei, sondern eine Partei des Klassenkampfes und der Revolution.”

[5] Daniel Bensaïd, Penser, agir, Edition Lignes, 2008, S. 55.

[6]Ernest Mandel, La pensée politique de Léon Trotsky, La Découverte, 2003, S. 58.

[7] Daniel Bensaïd, Stratégie et parti (Strategie und Partei), La Brèche, 1987, S. 58.

[8] François Sabado, Zeitschrift L’Anticapitaliste, Nr. 66, Juni 2015.

[9] François Sabado, Inprecor, 534-535, Januar-Februar 2008.

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