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Zur politischen Lage in Israel: Wie das jüdische Sicherheitsbedürfnis instrumentalisiert wird

In der zionistischen Utopie sollte Israel den jüdischen Menschen Freiheit und Sicherheit bringen. Inzwischen wirkt es für viele jüdische Israelis aber normal, das über Abschottung, Unterdrückung, Vertreibung und Entrechtung erreichen zu wollen. Rassismus und Angst sind allgegenwärtig. Das Militär ist die wohl stärkste politische Institution. Und linke Kritik wird kriminalisiert.

von Max Arendt (BFS Zürich); aus antikap

Die Geschichte vieler jüdischer Gemeinschaften ist geprägt von ethnischer Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung. Sehnsucht nach Freiheit und Hoffnung auf Sicherheit und Selbstbestimmung sind zentrale Elemente etlicher religiöser Schriften und Feste sowie gemeinschaftlicher Erzählungen und Traditionen. An Pessach wird der Ausbeutung der Israeliten durch das pharaonische Ägypten gedacht sowie die Freiheit gefeiert, die durch Gegenwehr und Flucht erlangt wurde. Aber es wird auch daran erinnert, dass Flucht allein – respektive der «Exodus» – noch keine Erlösung bringt, sondern erst die Rückkehr in die Heimat. So wird an Pessach ausserhalb Israels weiterhin Jahr für Jahr gesungen: «Im nächsten Jahr in Jerusalem». Die «Hatikva» (auf Deutsch «die Hoffnung»), seit Ende des 19. Jahrhunderts die Hymne der zionistischen Bewegung und heute auch die israelische Nationalhymne, besingt eine zweitausend Jahre währende jüdische Hoffnung auf ein freies Leben im eigenen Land, im «Land Zion».

Der Topos von Zion als sichere und friedliche Heimat für jüdische Menschen ist zu einem prägenden Element der jüdischen Sozialisierung geworden, zumindest in west- und osteuropäischen jüdischen Gemeinschaften. Dabei war die zionistische Prägung nicht immer gleich stark und ist sie auch heute nicht überall. Wo jüdisches Leben prosperierte, also jüdische Menschen ihre Religion frei ausleben und am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten, war Zion vor allem ein in Gebeten besungener Sehnsuchtsort. In Zeiten von starkem Rassismus gegen jüdische Menschen, von Ausgrenzung und Pogromen wurde Zion als realpolitisches Ziel relevanter.

Israel ist (auch) zionistische Utopie für jüdische Emanzipation

Der Zionismus als jüdisch-nationalistische Ideologie etablierte sich im 19. Jahrhundert. Also im Kontext von Kolonialismus und der europäischen (Selbst-)Verständlichkeit von Landraub durch Eroberung oder Kauf, vom allgemein aufkommenden Nationalismus und von Pogromen an jüdischen Menschen in arabischen Ländern, im Maghreb und in Osteuropa. Lange wurden Zionist:innen als Utopist:innen belächelt. Andere Bewegungen waren stärker, darunter Bewegungen zur Assimilierung, zur eigenen «Unsichtbarmachung» oder zum Erkämpfen von Freiheit und jüdischer Selbstbestimmung in der gegenwärtigen Heimat. Es gab stets explizit antizionistische jüdische Bewegungen, darunter bspw. den Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland (1897—1935). Bundist:innen erklärten «doykait» (yiddische Wortkreation, auf Deutsch ungefähr «Hierheit», auf Englisch «Hereness») zu ihrem politischen Ziel, also die Stärkung jüdischer Gemeinschaften da, wo sie (bereits) lebten: «Wo wir leben, ist unser Land!» Auch verschiedene ultra-orthodoxe jüdische Gemeinschaften waren stets antizionistisch, da sie die weltliche Gründung eines Staates Israels gewissermassen als anti-messianischen Akt sahen. Ihrer Auffassung nach kommt das «wahre» Israel erst, wenn der Messias kommt.

Wahlplakat des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds, Kiev, 1917. Auf Yiddish (in hebräischer Schrift) steht oben: «Wo wir leben, dort ist unser Land!» und unten: «Eine demokratische Republik! Volle politische und nationale Rechte für Juden».

Selbst unter Zuflucht suchenden jüdischen Menschen war Palästina nicht immer der ersehnte Zufluchtsort. Flucht- und anderweitige Migrationsbewegungen jüdischer Menschen führten im 19. Jahrhundert zumeist an dieselben Orte, wo auch andere Migrationsbewegungen hinführten, bspw. nach Nord- und Südamerika. So migrierten viele jüdische Menschen aus Syrien und Libanon nach Argentinien, wo es bereits eine grössere libanesische und syrische Diaspora gab. Zwar gab es immer wieder auch jüdische Migrationsbewegungen nach Palästina, doch waren sie zumeist eher klein. Darüber hinaus gab es seit 1840 verschiedene Initiativen jüdischer Zionist:innen für die Errichtung eines jüdischen Staats in Uganda, Upstate New York, in Teilen Argentiniens, in Ecuador oder Australien.

Christliche Zionist:innen riefen hingegen seit Mitte des 19. Jahrhunderts jüdische Menschen weltweit dazu auf, sich wieder in Palästina als Land der jüdischen Vorfahren zu vereinen. Denn nach Auffassung evangelikaler Christ:innen bedeutet der Aufbau einer jüdischen Nation in Palästina die Erfüllung einer biblischen Prophezeiung, die eine Voraussetzung für Jesus’ Wiederkunft ist. Auf jüdische Souveränität in Palästina soll nach ihrer Bibelauslegung das siebenjährige Armageddon folgen, währenddem zwei Drittel der jüdischen Menschen grauenvoll stirbt und sich ein Drittel Jesus’ Jünger anschliesst. Ein Aufruf evangelikaler Christ:innen zur jüdischen Besiedelung Palästinas war seit Mitte des 19. Jahrhunderts: «Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land». Jüdische Zionist:innen nahmen den Slogan, der jegliche Existenz eines palästinensischen Volks verneinte, Ende des Jahrhunderts breitflächig auf. Und Verbünde von jüdischen Palästinenser:innen und jüdischen Siedler:innen in Palästina versuchten ihn ab 1947 in Form der fortwährenden Nakba (arabisch für «Katastrophe», die gewaltsame Vertreibung von Palästinenser:innen seit 1947) in Wirklichkeit umzusetzen, indem sie arabische Palästinenser:innen enteigneten und vertrieben. Heute verübt Israel einen Genozid am palästinensischen Volk. Dass sich die Utopie vom autonomen jüdischen Staat schliesslich in Palästina als messianische Erfüllung verwirklichte, lag vor allem an der erstarkenden zionistisch-kolonialistischen Bewegung – und an den politischen Strategien des kolonialen Grossbritanniens im frühen 20. Jahrhundert sowie der europäischen und nordamerikanische Staatengemeinschaften nach dem Holocaust. Im November 1947 beschlossen die damaligen Weltmächte (viele Staaten waren nach dem Zweiten Weltkrieg finanziell von den USA oder der UdSSR abhängig) im Rahmen des UN-Teilungsplans für Palästina die Auflösung des bisherigen britischen Mandatsgebiets Palästina und dessen Aufteilung in einen palästinensischen und einen jüdischen Staat. Dass sich die Palästinenser:innen vehement gegen den Teilungsplan wehren (würden), ist logisch. Die UNO-Resolution verfügte aber nicht nur die Aufteilung von Land, sondern formalisierte auch auf höchster Stufe die mentale Teilung jüdischer und palästinensischer Menschen in ein «Wir» und ein «feindliches Sie».

Links: Der UN-Plan zur Aufteilung Palästinas in einen «arabischen» und einen «jüdischen» Staat – mit einer Wirtschaftsunion. Rechts: Eine aktuelle Karte des vom israelischen Staat weitgehend beherrschten Gebiets.

Seit seiner Gründung imaginierten jüdische Zionist:innen den Staat Israel als Verkörperung jüdischer Emanzipation, Sicherheit und Freiheit – und religiöse Zionist:innen sehen in Israel darüber hinaus eine messianische Erfüllung. Israel gilt als der sichere Hafen, wohin jüdische Menschen im Falle einer eskalierenden Bedrohung flüchten können, oder zumindest besteht diese Erwartung: Jüdische Menschen fühlen sich in ihrer aktuellen Heimat häufig mehr geduldet denn wirklich willkommen und sitzen deshalb (zumeist sprichwörtlich) auf gepackten Koffern; die Angst vor dem nächsten Pogrom ist vielerorts sehr präsent. Jüdischen Menschen einen sicheren Hafen zu bieten, ist deshalb israelische Staatsräson. So haben jüdische Menschen generell ein Anrecht darauf, sich in Israel niederzulassen und Staatsbürger:innen zu werden. Ganz anders als Palästinenser:innen, denen jegliches Rückkehrrecht verweigert wird. Vor zwei Jahren segnete das israelische Parlament ein neues Gesetz ab, dass selbst mit israelischen Staatsbürger:innen verheirateten Palästinenser:innen ein ständiges Niederlassungsrecht verwehrt.

Mit dieser Erwartung eines sicheren Hafens geht bei vielen die Erwartung (militärischer) Stärke einher. Israel müsse in der Lage sein, jüdische Selbstbestimmung resolut zu verteidigen und weltweit zu verhindern, dass es je wieder zu einem Holocaust gegen jüdische Menschen kommt. Während Israel also für viele Jüd:innen (vermeintlich) die Möglichkeit zur langfristig sicheren Teilhabe ohne Assimilierungszwang symbolisiert – in Israel wie global –, bedeutet Israel für Palästinenser:innen Unterdrückung und Entrechtung.

Linke Positionen haben keine politische Durchschlagskraft

Viele linke bis liberale Zionist:innen propagieren damals wie heute die Idee eines autonomen jüdischen Staats, in dem alle Menschen ungeachtet ihrer Religion und Herkunft gleichberechtigt und selbstbestimmt leben sollten. Viele von ihnen befürworten eine Zweistaatenlösung. Auch wenn nicht unbedingt zwei ethnisch vollständig segregierten Staate gefordert werden, behält die Forderung einen rassistischen Kern. Was für Konsequenzen eine Zweistaatenlösung bspw. für Palästinenser:innen mit israelischem Pass hätte, wird kaum angesprochen. Einen einzelnen gemeinsamen, säkularen und friedlichen Staat halten auch im linken Lager viele für utopisch. Segregation wird von vielen als notwendig betrachtet, ein friedliches Zusammenleben als kaum möglich. Dabei leben in Israel bereits heute jüdische und palästinensische Menschen unter einem einzelnen Staatsgebilde zusammen; inwiefern das eine Grundlage für einen gemeinsam Staat bilden könnte, wird nur von wenigen politischen Aussenseiter:innen diskutiert.

Dabei ist das demokratische Selbstverständnis der Bürger:innen in Israel eigentlich hoch. Nachdem Benjamin Netanyahu und seine rechtsextreme Regierung eine Justizreform beschlossen hatten, gab es denn auch eine beeindruckend starke Gegenbewegung. Über mehrere Monate gingen wöchentlich Zehn- bis Hunderttausende dagegen auf die Strasse. Mit dieser Reform hätte sich das israelische Parlament über Entscheidungen des Obersten Gerichts hinwegsetzen und Netanyahu vor einer Verurteilung wegen Korruption schützen können. Wichtige Teile der Reform wurden vom Obersten Gericht einstweilen für nichtig erklärt, aber seit dem Terrorangriff palästinensischer Widerstandsgruppen am 7. Oktober 2023 ist das Thema in der Öffentlichkeit beinahe in Vergessenheit geraten.

Bis zu mehrere hunderttausend Israelis gingen Woche für Woche gegen Netanyahus Justizreform auf die Strasse. Die israelische Nationalflagge war stets sehr präsent.

Ungeachtet des Selbstverständnisses vieler jüdischer Israelis steht Demokratie natürlich im Widerspruch zum Zionismus. Angenommen, die Mehrheit der israelischen Staatsbürger:innen würde keinen jüdischen Staat mehr wollen und für einen laizistischen Staat stimmen, würde sich der Zionismus dann selbst abschaffen? Um also den jüdischen Staatscharakter zu erhalten, muss die Mehrheit der Staatsbürger:innen zionistisch oder diesbezüglich indifferent sein. Viele jüdische Israelis glauben deshalb, nur sicher sein zu können, wenn eine Mehrheit jüdisch ist. Dieser Glaube ist teilweise historisch bedingt, aber viele haben auch einfach Angst vor palästinensischer Selbstbestimmung und dem Verlust der eigenen Hegemonie. Denn viele sind sich der eigenen Rolle bezüglich der Kolonisierung und Unterdrückung von Palästinenser:innen durchaus bewusst. Selbst vermeintlich linke Zionistist:innen diskutieren immer wieder über die Demografie in Israel – insbesondere über die Geburtenraten jüdisch-orthodoxer sowie palästinensischer Familien.

Als im israelischen Parlament im Juli 2024 über eine Resolution zur Ablehnung eines palästinensischen Staats abgestimmt wurde, verliessen Mitte-Links Politiker:innen den Saal. Sie waren gegen die Resolution, aber fürchteten die öffentliche Kritik, wenn sie dagegen gestimmt hätten. Dagegen gestimmt haben schliesslich nur die Vertreter:innen von Ra’am und Hadash-Ta’al. Die palästinensisch-israelische Partei Ra’am spricht sich für eine Zweistaatenlösung aus und Hadash-Ta’al ist die säkulare antizionistische Listenvereinigung der kommunistischen jüdisch-palästinensischen Koalition Hadash und der palästinensischen Partei Ta’al. Viele (selbstbezeichnete) linke bis liberale Zionist:innen unterstützen zudem auch Israels Vorgehen in Palästina und Libanon. Jair Lapid, Vorsitzender der derzeit stärksten Oppositionspartei «Jesh Atid» (Es gibt eine Zukunft), sagte zum Start der israelischen Angriffe im Libanon: «Die Zeit ist reif» (für den Krieg.) Aber weder antizionistische noch liberal zionistische Stimmen und Parteien haben im heutigen Israel viel politisches Gewicht.

Linke Bewegungen und Parteien, die die israelische Kriegspolitik ablehnen und sich öffentlich mit Palästina und Palästineneser:innen solidarisieren, haben politisch (noch) keine Durchschlagskraft. An den regelmässig starken Demonstrationen für die Freilassung der israelischen Geiseln gibt es zwar vereinzelte Palästinafahnen, jedoch gehen sie im Meer der Israelfahnen zumeist unter. Die jüdisch-palästinensischen Friedensbewegung Standing Together wächst und erreicht gewisse mediale Resonanz. Im Januar 2024 haben sich zudem verschiedene jüdisch-palästinensische Gruppen zu The Peace Partnership zusammengeschlossen. An ihren Demonstrationen gegen die israelische Kriegspolitik nehmen jeweils mehrere hundert Personen teil; für die Demonstration vom 2. November 2024 haben die Gruppen radical bloc, mesarvot und Free Jerusalem zum gemeinsamen Block «Resist the gaza genocide» aufgerufen.

Die Repression gegen Personen, die sich gegen die israelische Regierung auflehnen oder sich mit Palästinenser:innen solidarisieren, wird auch immer stärker. Mitte November 2024 wurde Ofer Cassif, dem Abgeordneten von der kommunistischen Hadash, für sechs Monate das Recht auf Wortmeldungen im Parlament entzogen, weil er den Genozid als solchen benannte und einen Aufruf zur Verurteilung Israels durch den internationalen Strafgerichtshof unterzeichnete. Am 27. Oktober 2024 wurde in Tel Aviv eine Demonstration mit einigen Dutzend Teilnehmer:innen mit Bannern und Plakaten gegen den Genozid gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Selbst das Tragen von T-Shirts kann schon zum Verhängnis werden: Bereits im April 2024 wurden Fans von Hapoel Tel Aviv in T-Shirts mit der Aufschrift «FCK BNGVR» (Itamar Ben-Gvir, rechtsextremer Minister für Nationale Sicherheit Israels) der Zugang zum Stadion verwehrt.

Die politischen Geschicke sind in den Händen des Militärs

Dominiert wird die israelische Politik zumeist von rechts- bis rechtsextremen und religiösen Zionist:innen. Ihre politischen Argumente fokussieren dabei zumeist auf das Thema «Sicherheit». Selbst der kolonialistische Landraub und illegale Siedlungsbau im Westjordanland sowie die grossflächige Militarisierung des Gebiets durch Israel wird teilweise mit Sicherheitsinteressen begründet. Netanjahu inszenierte sich in seiner politischen Karriere stets als «Mr. Security» – als einziger, der die Nation vor «barbarischen» Palästinenser:innen und Nachbarstaaten zu schützen vermag. Auch der Genozid am palästinensischen Volk wird schliesslich mit Sicherheitsinteressen begründet.

Netanyahu ist ein opportunistischer und von Machtinteressen durchtriebener Politiker, der vor Gewalt nicht zurückschreckt – nicht bei Gewalt gegen unliebsam kritische Staatsbürger:innen und schon gar nicht bei Gewalt gegen Palästinenser:innen. Dabei sind kriegerische Rhetorik und die Bespielung von Ängsten und Traumata für ihn auch Mittel, um von innerisraelischen Problemen abzulenken: Mehr als 300’000 Kinder in Israel leiden an Hunger und etwa ein Drittel der Bevölkerung an Armut, wobei die palästinensische Bevölkerung sowohl von Hunger als auch Armut vier- bis fünfmal heftiger betroffen ist.

Wie viele Premierminister vor ihm, war er einst Mitglied einer militärischen Spezialeinheit. Das Militär hat unter jüdischen Israelis einen sehr hohen Stellenwert, zum einen aufgrund von Traumata und teilweise begründeten Ängsten vor Auslöschung: In einer früheren Charta beschrieb die Hamas das Judentum als Herausforderung für den Islam und das Ziel, in Palästina einen Staat nach Sharia-Recht aufzubauen. Auch mehrere iranische Entscheidungsträger sprechen wiederholt von der Zerstörung Israels. Zum anderen, weil der obligatorische Militärdienst und damit zusammenhängend der aktive Beitrag zur Unterdrückung von Palästinenser:innen mit Waffengewalt ebenso wie Krieg zu einer gemeinsamen Erfahrung wurde und weiterhin wird.

Politiker:innen ohne militärische Karriere wird von vielen jüdischen Israelis kein Exekutivamt zugetraut. Im Wissen darum hat sich Netanyahu im Oktober 2023 zur Bildung einer Notstandregierung bereit erklärt – ohne seine Koalitionspartner Ben-Gvir und Bezalel Smotrich (rechtsextremer Finanzminister Israels), die keine militärische Erfahrungen gemacht haben, dafür mit den Oppositionspolitikern und ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz und Gadi Eizenkot.

Seit Netanyahu 1993 zum Parteichef des Likud gewählt wurde, bewegt er sich im Machtzentrum der israelischen Politik. Seit jeher wehrt er sich gegen einen unabhängigen palästinensischen Staat und befürwortet ein Konstrukt einer – seinem Verständnis nach – palästinensischen ‘Selbstverwaltung’ unter israelischer Kontrolle. Ab 1995 führte er die Opposition gegen den damaligen Premierminister der Arbeitspartei Yitzhak Rabin an. Rabin machte ebenfalls im Militär Karriere und hat gemeinsam mit seinem Aussenminister Schimon Peres und Jassir Arafat, damaliger Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, den Friedensnobelpreis erhalten für die Unterzeichnung der Oslo-Abkommen.

In den Oslo-Abkommen haben sich die israelische Regierung und die PLO als «offizielle» Vertreterin des palästinensischen Volks erstmals gegenseitig formal anerkannt. Aber vor allem wurde die Aufteilung des Westjordanlands in drei Zonen aufgeteilt: In Zone A, wo am meisten Personen leben, die aber nur 18 % des Gebiets ausmacht, hat die Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) die administrative und polizeiliche Kontrolle; in Zone B, ca. 22 % des Gebiets, teilen sich PA und Israel formal polizeiliche Aufgaben; in Zone C leben 300’000 Palästinenser:innen effektiv unter israelischem Militärrecht und 400’000 jüdische Siedler:innen unter israelischem Zivilrecht.

Übersicht über die Aufteilung von Gaza und des Westjordanlands in die Zonen A, B und C.

Rabin war es auch, der 1994 das Friedensabkommen mit Jordanien unterzeichnete – und 1992 den Bau der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland lancierte sowie 1994 mit dem Bau der Mauer gegenüber Gaza begann. Gemäss israelischem Diskurs verhindern die Grenzmauern (Terror-) Angriffe und bringen somit vermeintliche Sicherheit. Auf jeden Fall stellen die Mauern eine militärische und tödliche Materialisierung der Abgrenzung und Separierung in ein «Wir» und «Sie» dar. Es liegt auf der Hand, dass die ideologische, diskursive Separierung und die räumliche, materielle Separierung sich gegenseitig bestärken. Einige kritische jüdisch-israelische Aktivist:innen sagen, Israel habe sich mit den Mauern Ein Bild, das Himmel, draußen, Handschrift, Beton enthält.

Automatisch generierte Beschreibungselbst zu einem Ghetto umgebaut – und damit auch Traumata des Holocausts reaktiviert.

Die von Israel gebaute Mauer trennt vielerorts jüdisches und palästinensisches Leben. Links: Eine Mauer zum «Schutz» einer Strasse, die zu einer jüdischen Siedlung im Westjordanland führt, veranschaulicht die Apartheid in Palästina-Israel. Rechts: «Die Trennungsmauer wird fallen.»

Netanyahu schafft und steuert seine Hegemonie

Nachdem Rabin 1995 an einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem religiösen Fanatiker erschossen wurde, wurde Peres kurzzeitig Premierminister. Von 1996 bis 1999 war dann erstmals Netanyahu Ministerpräsident, von 2002 bis 2005 Aussen- und Finanzminister unter Ariel Scharon. Scharon war ebenfalls Vorsitzender des Likud und ebenfalls starker Förderer des Siedlungsbaus, auch wenn er 2005 die Auflösung aller jüdischen Siedlungen in Gaza beschloss. Seit 2009 ist Netanyahu fast durchgehend Ministerpräsident. Das heisst: Für 30-jährige Israelis ist israelische Politik ohne Netanyahu nur schwer vorstellbar, 15-jährige kennen eigentlich keine andere Politik als jene Netanyahus.

Dabei begünstigen das israelische Informationssystem und das politische System mit Koalitionsregierungen opportunistische und populistische Politiker:innen wie Netanyahu – und Instabilität. Und Netanyahu zeigte nie Skrupel, um die eigene Machtposition zu erhalten, insbesondere seitdem ihm eine Verurteilung wegen Korruption droht. Dabei wäre er nicht der erste ehemalige ranghohe Politiker, der ins Gefängnis kommt – in den letzten fünfzehn Jahren wurden der ehemalige Präsident Moshe Katsav wegen Vergewaltigung und der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert (Nachfolger von Ariel Scharon, ebenfalls vom Likud) wegen Bestechung zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Die Ermittlungen gegen Netanyahu laufen seit 2017, doch er hat sie stets behindert und alles darangesetzt, Ministerpräsident zu bleiben und so einer Gefängnisstrafe zu entkommen. So schuf er immer wieder völlig absurde Ministerien, um (potenzielle) Koalitionspartner:innen für seine Regierungen zu gewinnen. Sei aktuelles Kabinett besteht aus mehr als 30 Minister:innen – bei total 120 Parlamentsmitgliedern. Die dominanten Figuren der aktuellen Regierung neben Netanyahu sind selbstredend Smotrich und Ben Gvir. Smotrich ist religiöser Zionist, Vorsitzender der Partei «Nationalreligiöse Partei – Religiöser Zionismus» und überzeugter Siedler, der die Existenz eines palästinensischen Volks an sich verneint. Er bezeichnete sich selbst bereits einmal als «homophoben Faschisten». Ben-Gvir führt die Partei «Jüdische Stärke», die als Nachfolgepartei der Kach-Partei gilt, die in Israel wegen Terror verboten wurde.

Anhänger:innen des religiös-zionistischen Kahanismus – wie Ben-Gvir – stehen offen für die ethnische Säuberung Palästinas ein. Vor seiner Politkarriere vertrat Ben-Gvir als Anwalt mehrere Kahanisten, die wegen Terror verurteilt wurden. Er wurde wegen seiner extremistischen Position gar vom Militärdienst ausgeschlossen und 2007 wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Die Parteien von Smotrich und Ben-Gvir vereinigen nur wenige Wähler:innenstimmen auf sich – mit 5.8 % und respektive 5 % der Stimmen haben sie auch nur ganz knapp den Einzug ins Parlament geschafft (es besteht eine Hürde von 3.25 % für den Einzug ins israelische Parlament). Zum Vergleich: Ra’am hat 4.07 % der Stimmen erhalten und Hadash-Ta’al 3.75 %. Doch Netanyahu ist auf die Stimmen der Parteien von Smotrich und Ben Gvir angewiesen, um seine Regierungskoalition zu erhalten und Ministerpräsident zu bleiben. Und seinen Wähler:innen liegt offensichtlich mehr daran, den korrupten und selbernannten «Mr. Security» als Ministerpräsidenten zu haben, als rechtsextreme Positionen aus der Regierung auszuschliessen.

Überdies investieren Netanyahu und seine Unterstützer:innen viel, um Diskurshoheit zu haben. Wohl auch bedingt durch seine mit Sicherheitsinteressen begründete Abschottung gegenüber den Nachbarländern, ist die politische Lage in Israel weitgehend durch innerstaatliche Diskurse geprägt. Ein wichtiges Informationsorgan ist dabei die kostenlose Tageszeitung «Israel heute» nach dem Vorbild von «USA today». Die Zeitung erreicht nach Schätzungen mehr als einen Drittel der gesamten israelischen Bevölkerung, Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürger:innenschaft eingerechnet. Gegründet wurde «Israel heute» von dem US-Amerikaner Sheldon Adelson, einem überzeugten Zionisten und guten Freund Netanyahus, der auch Trump mit Millionenspenden unterstützt. Wie Smotrich bezeichnete er das palästinensische Volk als erfunden. Die Berichterstattungen seiner Zeitung sind wenig überraschend unverblümt einseitig, aber haben dennoch prägenden politischen Einfluss.

Auch haben Netanyahu und seine Regierungsleute seit dem 7. Oktober 2023 wiederholt die israelische und die internationale Öffentlichkeit perfide in die Irre geführt. So wurde kürzlich ein Sprecher von Netanyahu festgenommen, weil er Anfang September 2024 manipulierte Geheimdokumente an die deutsche «Bild»-Zeitung und an die englische Zeitung «The Jewish Chronicle» weiterleitete. Die geleakten Dokumente wurden als offizielle Direktiven des damaligen Hamas-Chefs Yahya Sinwar beschrieben. Ein Dokument hat vorgeblich dargelegt, wie Sinwar die israelischen Geiseln aus Gaza schmuggeln wollte; das Dokument war aber gefälscht. Das zweite Dokument wurde als offizielles Strategiepapier der Hamas präsentiert. Demnach instrumentalisiere die Hamas systematisch die Familien der israelischen Geiseln und die Proteste für deren Freilassung, um den öffentlichen Druck auf die Regierung zu erhöhen und Zeit für den Wiederaufbau ihrer militärischen Kräfte zu gewinnen. Tatsächlich handelte es sich dabei aber nicht um eine offizielle Strategie, sondern lediglich um einen Strategievorschlag eines Hamas-Kommandeurs ohne Entscheidungsbefugnis.

Kurz vor der Veröffentlichung der Falschmeldungen waren sechs israelische Geiseln in Hamas-Gefangenschaft hingerichtet worden. Hunderttausende gingen für einen sofortigen Geisel-Deal auf die Strasse, und Aufrufe zu einem Generalstreik wurden laut. Mit den Leaks der manipulierten Dokumente sollten die Protestierenden und die Angehörigen der Geiseln als Handlanger:innen der Hamas dargestellt und die wieder erstarkende Protestbewegung untergraben werden.

Israelis blockieren die Autobahn bei Tel Aviv, nachdem die Hinrichtung von sechs israelischen Geiseln in Gaza bekannt wurde.

Frei sind alle oder niemand

Die Kolonialisierung Palästinas und die Gründung Israels hat den jüdischen Menschen weltweit nicht die Sicherheit und Freiheit gebracht, die sich viele erträumt und erhofft haben. Abermilliarden wurden ins Militär und in meterhohe Betonmauern investiert und abertausende junge Erwachsene in monatelangem Militärdienst in besetzte Gebiete und in mehr als ein Dutzend Kriege geschickt. Politische Entscheidungsträger sind korrupt und Rassismus ist allgegenwärtig. Nach dem Gaza-Krieg 2014 machte sich in Israel zwar eine Art Sicherheitsgefühl breit. Aber das nur, weil Besatzung, Apartheid, Kriege und Terror – durch die israelische Armee, palästinensische Widerstandsgruppen, die Hisbollah oder jüdische Siedler:innen – zu einer israelischen Selbstverständlichkeit geworden sind. Erst der schreckliche Angriff am 7. Oktober 2023 vielen die prekäre Lage wieder ins Bewusstsein gerufen.

Israel hat jüdischen Menschen nicht die Freiheit gebracht, die sich viele erhofft haben. Verfolgung, Unterdrückung und Genozid prägen auch heute die Lebensrealitäten vieler jüdischer Menschen, jedoch nicht mehr nur in der Rolle als Verfolgte: In Israel sind jüdische Menschen zum Militärdienst verpflichtet und ausserhalb Israels dazu gezwungen, sich zu Israel und zum Zionismus zu positionieren. Einerseits, weil Israel vorgibt, im Namen einer jüdischen Gesamtheit zu agieren, andererseits, weil Rassist:innen jüdische Menschen nicht unabhängig von Israel zu denken vermögen.

So hat Israel für viele jüdische Menschen eher moralisch und politisch zerrüttend als befreiend gewirkt und neue Zwänge geschaffen. In zu vielen jüdischen Kreisen hat sich die Ansicht etabliert, dass jüdische Menschen nur frei und sicher leben könnten, wenn es Palästinenser:innen nicht sind. Dabei ist die Freiheit jüdischer Menschen wegen Israel heute unweigerlich mit der Freiheit von Palästinenser:innen verflochten. Deshalb müssen wir immer in Erinnerung rufen, dass wir jüdische Menschen erst frei sein werden, wenn es Palästinenser:innen auch sind.


Bildverzeichnis des Titelbildes, v. oben l. n. r. und von v. unten l. n. r.:

  1. Moses weist den Israelit:innen mit göttlicher Hilfe den Weg aus der ägyptischen Sklaverei zurück nach Hause – ins gelobte Land Israel.
  2. Das Massaker von Fastov war ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung der ukrainischen Stadt Fastov (heute Fastiv) im September 1919 durch Einheiten der Weissen Armee.
  3. Titelseite einer antisemitischen Zeitschrift in Frankreich, um 1900.
  4. Die „Exodus“ brachte 1947 5’000 geflüchtete Shoah-Überlende von Frankreich ins britische Mandatsgebiet Palästina.
  5. Geflüchtete jüdische Iraker erreichen per Boot das britihsce Mandatsgebiet Palästina nach dem anti-jüdischen Progrom „Farhud“ in Baghdad, Iraq, 1941.
  6. Jüdische Menschen beten an der „Westmauer“ in Jerusalem, Israel, 1922. Die Westmauer ist ein Relikt des zweiten jüdischen Tempels und ide wichtigste küdisch-religiöse Stätte.
  7. Traditionellerweise leisten mehrerer israelische Truppeneinheiten ihren Treueschwur gegenüber dem jüdischen Israel bei Masada, wo sich gemäss römischer Überlieferung israelitische Rebellen verschanzt hatten, um die römische Eroberer zu bekämpfen. Als der römische Sieg unausweichlich schien, sollen die Rebellen Massensuizid begangen haben, um nicht unter römischer Herrschaft zu leben.
  8. ebd.
  9. Der israelische Huwara-Checkpoint bei Nablus im Westjordanland.
  10. „Free Palestine“-Graffiti auf der israelischen Trennungsmauer.
  11. Palästinenser durchsuchen die Trümmer ihrer durch israelische Angriffe zerstörten Häuser im nördlichen Gazastreifen. UN-Foto: Shareef Sarhan 07-08-2014 (Anm. d. Red.: nach 2008/9 und 2012 und vor 2021 und 2023- 2025 der dritte israelische Angriff auf Zivilbevölkerng Gazas unter dem Namen Operation Protective Edge)

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