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Die NZZ und die Deutsche Mauer

Die NZZ inszeniert sich als Hüterin individueller Freiheit und offener Gesellschaften – doch ihre Berichterstattung erzählt eine andere Geschichte. Seit Jahren gibt sie rechten Positionen eine Plattform und treibt alarmistische Narrative über Migration voran. Nun geht sie noch weiter: Ein Gastkommentator fordert eine militarisierte Mauer um Deutschland und verweist dabei auf Grenzregime mit dokumentierten Menschenrechtsverletzungen als Vorbilder. Dass solche Forderungen inzwischen in großen Medienhäusern Raum bekommen, zeigt, wie sehr extrem rechte Ideen im öffentlichen Diskurs angekommen sind – und welche politischen Verschiebungen dies ankündigt.

von Michael Tulpe (BFS Zürich)

Das Selbstverständnis der NZZ als eine Publikation, die der “individuellen Freiheit” und einer “offenen demokratischen Gesellschaft” verpflichtet sei, liest sich schon seit längerem als ein schlechter Scherz. Und spätestens seit Eric Gujer 2015 die Chefredaktion übernahm und den braunen Sumpf, der sich in Deutschland um die AfD zu formieren begann, als lukrativen Expansionsmarkt identifizierte, mutet es nur noch zynisch an. Seither ist gefühlt kein Tag vergangen, am welchem die NZZ nicht in irgendeiner Form hysterisch die “Linke Meinungsdiktatur” heraufbeschwört und rechten Hetzer:innen das Wort redet. Gerade im Rahmen der neuen “Deutschlandstrategie” hat sich die Publikation auf die Migrationsthematik eingeschossen und malt auch mal völkische Untergangszenarien an die Wand, gemäss denen “Bio-Deutsche“ – das heisst Deutsche ohne Migrationshintergrund – bald in der Minderheit seien. In den letzten Wochen hat sich das Blatt unter anderem dadurch hervorgetan, den rechtsradikalen Präsidenten Argentiniens, Javier Milei, als “libertären Weltstar” zu loben. Dies für seine Wirtschaftspolitik, deren Resultat eine Armutsquote von über 50% der argentinischen Bevölkerung ist. Oder dadurch, lauthals Überlegungen anzustellen, dass der “Brandmauer Fimmel” vielleicht doch der falsche Weg sei, die AfD zu bekämpfen. Die CDU/CSU solle nach den Wahlen besser mit der AfD Koalitionsgespräche aufnehmen. Man könne die Rechtsradikalen schliesslich besser kontrollieren, wenn man mit ihnen zusammenarbeite, als wenn man sie ausgrenze.

Diese Beispiele rechter Meinungsmache zeugen von einem bemerkenswerten Ausmass an Geschichtsvergessenheit. Es wäre besser, sich daran zu erinnern, wie gut bzw. schlecht die “Einrahmungsstrategie” in Deutschland 1933 funktioniert hat.

Die neuen „Eisernen Vorhänge“

Nicht geschichtsvergessen gibt sich hingegen der NZZ-Gastkommentator Martin Wagener in der Ausgabe vom 28. Januar 2025. Unter dem Titel “Wer Sicherheit will, muss über Grenzanlagen reden” fordert er eine Mauer um Deutschland. Dabei beschreibt er mit befremdlicher Genüsslichkeit, wie er sich eine militärisch befestigte Deutsche Grenze vorstellt:

“Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass eine solche Vorrichtung nur dann hinreichend Wirkung entfaltet, wenn sie auf den angestrebten Zweck ausgerichtet wird. […] Ziel wäre, Personen zurückzuweisen beziehungsweise zu ergreifen, die illegal oder als Kriminelle einreisen wollen. Im Idealfall wird dazu ein gestaffeltes Sperrsystem geschaffen, das aus mehreren Annäherungshindernissen besteht. Dazu gehören Mauern und Zäune von mindestens vier Metern Höhe, bewehrt mit Nato-Stacheldraht. Auch der Einsatz von Stolperdrähten und Gräben kann Sinn haben. Die Anlage müsste von Grenztruppen mittels Überwachungstechnologie, Flutlichtmasten, Wachtürmen und Patrouillen gesichert werden. Der benötigte Umfang der Grenzschützer hängt von der Staffelung der Sicherheitsvorrichtungen ab.”

Da fehlt eigentlich nur noch die Selbstschussanlage. Als Leser:in mag man sich wundern, wohin genau der deutsche Politikwissenschaftler Martin Wagener seinen Blick in die Geschichte richtet. Angesichts dieser Beschreibung könnte man den Eindruck bekommen, die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang seien inzwischen das Vorbild für die Grenz- und “Sicherheits”politik der “freien Welt”. Tatsächlich muss man aber nicht bis in den Kalten Krieg zurückschauen, um Wageners Vorbilder zu finden. Im Gegenteil, das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat ein neues Zeitalter der “Eisernen Vorhänge” eingeläutet: Noch nie wurden auch nur annähernd so viele “Grenzschutzanlagen” gebaut, wie in den letzten 20 Jahren (siehe Grafik).

Israels Mauer als Vorbild

Als Vorbilder nennt der Autor denn auch die militarisierten Grenzanlagen von Polen und Ungarn. An diesen Grenzen finden routinemässig brutale Menschenrechtsverletzungen und illegale Pushbacks statt. Zehntausende von Menschen sind in den letzten Jahrzehnten an den europäischen Aussengrenzen durch solche Praktiken ums Leben gekommen. Für Martin Wagener keine Erwähnung wert. Ein weiteres vielsagendes Vorbild, auf das Wagener verweist, sind die vom internationalen Gerichtshof in Den Haag als völkerrechtswidrig erachteten israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Westjordanland. Genau die rassistische Apartheidideologie, welche die israelische Besatzungspolitik in Palästina bestimmt, motiviert auch Wagener:

“Eine postmoderne Grenzanlage würde dagegen wie ein Filter wirken: Auf der einen Seite könnten sich Grenzpendler, Studenten, Touristen sowie Unternehmer wie bisher frei bewegen, müssten aber ausnahmslos Kontrollen hinnehmen. Auf der anderen Seite wäre das Ende der irregulären Migration absehbar. Organisierte Kriminelle, Schlepperbanden, Terroristen, Drogen- und Waffenschmuggler könnten eingedämmt werden. Ausgeschafften Migranten und Kriminellen würde die Wiedereinreise nicht gelingen.”

Genauso, wie Israel die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung mit dem Pauschalvorwurf des Terrorismus legitimiert, wird hier die strukturelle Entrechtung von aussereuropäischen Migrant:innen gerechtfertigt, in dem sie allesamt als «Terroristen, Drogenhändler und Kriminelle» dargestellt werden. Die überwältigende Mehrheit der Migrant:innen flüchten vor Kriegen, die unter anderem von europäischen Waffenexporten befeuert werden, vor der ökologischen Krise und dem Klimawandel, für welche europäische Industrieländer einen grossen Teil der Verantwortung tragen, oder vor wirtschaftlicher Not und Perspektivlosigkeit, welche ein Resultat der imperialistischen Ausbeutung des globalen Südens durch die kapitalistischen Zentren sind. Sie haben ein Recht auf Schutz und auf gleichwertigen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen. Stattdessen werden die militarisierten Grenzen zu brutalen “Sortiermaschinen”, welche auch jene, die es über diese Grenzen schaffen als entrechtete und Menschen zweiter Klasse der Marginalisierung und Ausbeutung ausliefern. Jene, die es nicht schaffen, sterben an den Aussengrenzen Europas. Das hat System, und ist abseits der Blicke des grössten Teils der EU-Öffentlichkeit in den letzten Jahren nichts Neues. Dass man inzwischen aber im bürgerlichen Diskurs eine Deutsche Mauer fordert, ohne auch nur ein Lippenbekenntnis an die Menschenrechte zu machen, zeigt, wie weit die Radikalisierung des Bürgertums inzwischen fortgeschritten ist.

Die Brandmauer ist gefallen

Martin Wagener rechnet vor, dass die Mauer, die er sich wünscht, 19 Milliarden Euro kosten würde. Darauf kommen jährlich 9,3 Milliarden Euro für den “Unterhalt inklusive Materialkosten”. Zum Vergleich: die Sozialtransferleistungen im Asylbereich in Deutschland kosteten im Durchschnitt der letzten 9 Jahre 5,9 Milliarden – immerhin 3 Milliarden weniger als die Mauer jährlich kosten würde. Für die Sicherheits-, Überwachungs- und Rüstungsindustrie ist die Deutsche Mauer ein profitables Business. Die Abschottung aber würde das Leben von keinem:keiner einzigen Lohnabhängigen auf irgendeine Weise verbessern, sondern im Gegenteil massenhaftes Leid verursachen.

Das Leid von Migrant:innen interessiert Martin Wagener nicht: Er ist ein Rechtsradikaler. Seit 2012 war er Professor für Politikwissenschaft an einer Hochschule des Bundes, wo unter anderem Geheimdienstmitarbeiter:innen ausgebildet werden. Diese Tätigkeit musste er 2021 aufgeben, weil ihm die Sicherheitsfreigabe für das Betreten des Zentrums für Nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung vom Verfassungsschutz entzogen worden war. Dies nachdem er in seinem Buch “Kulturkampf um das Volk: Der Verfassungsschutz um die nationale Identität der Deutschen” mit rechtsextremen Konzepten wie “Ethnopluralismus” herumhantierte.

Dass die NZZ solchen Rechtsextremen eine Plattform bietet, ist an sich nichts Neues und auch nicht überraschend. Es ist aber symptomatisch dafür, wie die rassistischen Positionen der radikalen Rechten durch die bürgerlichen Diskurse gesellschaftsfähig gemacht wurden und werden. Die ehemals liberalen und “konservativen” Parteien – sei es die FDP (sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland) oder die CDU/CSU – sind inhaltlich, zumindest was die Migrationspolitik angeht, inzwischen von den rechtsradikalen der AfD oder der SVP kaum noch zu unterscheiden. Und auch die Sozialdemokratie übernimmt die rechten Diskurse und schreit danach, in grossem Stil abzuschieben. Tatsache ist, dass die “Brandmauer”, welche die bürgerliche von der rechtsradikalen Politik trennen sollte, inhaltlich schon lange gefallen ist. Die Positionen der radikalen Rechten sind inzwischen normalisiert, und zwar, weil sie durch die bürgerlichen Parteien und Medien bereitwillig übernommen wurden. Wenn jetzt auch noch die formelle Brandmauer fällt, ist das bloss die Konsequenz dieser Entwicklungen.

Die Interessen hinter dem Mauerbau

Dabei ist das Ziel nicht einmal, Migrationsbewegungen tatsächlich zu stoppen. Abgesehen davon, dass dies gar nicht möglich ist, wird die europäische Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten auf grosse Migrationsbewegungen von Arbeitskräften nach Europa angewiesen sein. Die repressive Migrationspolitik dient dazu, durch die systematische Entrechtung von Migrant:innen den Preis dieser Arbeitskräfte tief zu halten und sie gleichzeitig durch die massive Repression und rechtliche Unsicherheit des Aufenthaltsstatus zu disziplinieren und die Solidarität unter den Lohnabhängigen zu schwächen.

Darüber hinaus versuchen die Bürgerlichen, teilweise bis hin zur Sozialdemokratie, mit ihrer Fokussierung auf die Migrationspolitik die politische Legitimationskrise des neoliberalen Regimes zu überwinden. Dieses Regime ist unfähig, Antworten auf die sozialen und ökologischen Krisen unserer Zeit zu geben. In diesem Kontext legen die Bürgerlichen die alte Maske der “Menschenrechte” und der “demokratischen Werte”, mit denen sie ihre Herrschaft im letzten Jahrhundert rechtfertigten, ab und schliessen sich dem Angebot der radikalen Rechten an: Ein zunehmend autoritärer, offen rassistischer Kapitalismus, der verspricht, das “Volk” gegen die “Bedrohung” durch migrantische Menschen zu schützen.

Das Resultat wird die Verschlechterung der Lebensbedingungen von uns allen sein. Immerhin ist jetzt für alle ersichtlich, was die NZZ schon immer gemeint hat, wenn sie von der “individuellen Freiheit” und der “offenen demokratischen Gesellschaft” sprach: Die Freiheit der Unternehmer:innen und die gewaltvolle Verteidigung kapitalistischer Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse. Wenn die Brandmauer da im Weg steht, dann muss sie eben niedergebrannt werden. Und wenn sich der Kapitalismus sich nur noch unter den Bedingungen eines neuen Faschismus stabilisieren kann, werden die bürgerlichen “demokratischen” Parteien nicht zögern diesen mitzutragen. Es wird an uns liegen den Widerstand zu organisieren.

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