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Schweizer Stahlindustrie: «Es ist immer sehr bewegend, wenn die Arbeiter:innen die Mobilisierung selbst in die Hand nehmen.»

Nach einer starken Mobilisierung der Stahlarbeiter:innen hat das Schweizer Parlament im Dezember 2024 ein provisorisches Gesetz verabschiedet, um die Schweizer Stahlwerke zu unterstützen, die von einer Schliessung bedroht sind. Im Interview führt Matteo Pronzini, bei der Unia zuständig für die MEM-Industrie und gewählter Tessiner Kantonsrat der Bewegung für den Sozialismus (BFS), aus, was es damit auf sich hat.

Interview mit Matteo Pronzini (BFS Tessin); aus solidaritéS

Nils Wehrspann (solidaritéS): Wie sieht die konkrete Situation der Stahlwerke von Stahl Gerlafingen und Swiss Steel in Emmenbrücke aus?

Matteo Pronzini: Zuallererst einmal die Zahlen: Stahl Gerlafingen im Kanton Solothurn beschäftigt 505 Arbeiter:innen, Swiss Steel in Emmenbrücke im Kanton Luzern hat 700 Beschäftigte. Stahl Gerlafingen hatte im Frühjahr 2024 eine erste Umstrukturierung angekündigt. Das Unternehmen hatte erklärt, eine Produktionslinie schliessen zu wollen. Wir haben mit allen Gewerkschaften an einem Strang gezogen und zunächst gemeinsam mit der Personalkommission versucht, die allgemeine Situation in der Stahlbranche zu verstehen, um alternative Lösungen vorzuschlagen.

Matteo Pronzini, UNIA-Gewerkschafter und Tessiner Kantonsrat der Bewegung für den Sozialismus

Das Besondere an diesen beiden Unternehmen liegt darin, dass sie den Grossteil des Stahls in der Schweiz aus Schrott recyceln. Der Stahl, der dabei herauskommt, ist also – in Anführungszeichen – sauber. Im europäischen Vergleich stösst ihre Produktion weniger CO₂ aus, weil der Strom aus Wasserkraft stammt und das Rohmaterial über die Eisenbahn ankommt. Ausgehend von dieser Erkenntnis wurde beschlossen, dass die Verteidigung von Arbeitsplätzen mit der Verteidigung des Klimas verbunden werden muss. Auch um mit den letzten Klimaabstimmungen in der Schweiz, bei denen die Bevölkerung eine Reduzierung der Emissionen unterstützte, übereinzustimmen.

Die Schweizer Stahlproduktion zu verteidigen ist somit die Verteidigung einer Produktion, die für die Gesellschaft nützlich und umweltfreundlicher ist. Auf diese Weise wird vermieden, eine nationalistische Position einzunehmen, die den Schweizer Stahl retten will, nur weil er schweizerisch ist. Die beiden Unternehmen produzieren jedoch nicht für dieselben Sektoren. Stahl Gerlafingen produziert vor allem Stahl für das Baugewerbe. Hier ist es einfacher, sich einzumischen, weil es einen Binnenmarkt gibt und dahinter die gesamte Baubranche. Bei Swiss Steel ist das ein bisschen anders. Das Unternehmen produziert Stahl für den Maschinenbau, insbesondere für die Automobilindustrie. Der Grossteil davon wird exportiert. Es besteht also die Herausforderung, diese Produktion von „kohlenstoffarmem“ Stahl auf den heimischen Markt umzustellen. Zum Beispiel für Züge, Aufzüge, Krankenhausausrüstung…

Dank der Mobilisierung der Arbeiter:innen in diesem Sektor haben der Nationalrat und anschliessend auch der Ständerat eine „vorübergehende Erleichterung der Gebühren für die Nutzung des Stromnetzes“ verabschiedet. Was bedeutet das konkret?

Es muss unterstrichen werden, wie selten Mobilisierungen im Industriesektor in der Deutschschweiz sind! Nach unserer ersten Intervention bei Stahl Gerlafingen im Frühling stellten wir fest, dass die Situation schwierig ist und über die Frage der Schliessung einer Produktionslinie hinausgeht. Im Sommer wurde der Bundesrat unter anderem auf die Möglichkeit angesprochen, die Verwendung von Schweizer Stahl bei der öffentlichen Beschaffung vorzuschreiben.

Als das Unternehmen im Herbst ankündigte, weitere 120 Arbeiter:innen entlassen zu wollen, begannen wir mit einer permanenten Mobilisierungsarbeit im Betrieb, mit Versammlungen und Diskussionen mit den Arbeiter:innen. Am Montag, dem 21. Oktober 2024, organisierten wir dann eine Demo auf dem Bundesplatz: Die Arbeiter:innen blieben der Arbeit fern und gingen nach Bern, mit klaren Forderungen nach politischer Unterstützung für eine lokale Produktion und gegen die Entlassungen.

Protest der Arbeiter:innen von Stahl Gerlafingen auf dem Bundesplatz, 21. Oktober 2024

Ich möchte an dieser Stelle noch betonen, dass die Unterstützung des Klimastreiks, der sich dem Kampf von Anfang an angeschlossen hatte, sehr gross war. Die Tatsache, dass eine solche Bewegung einen Arbeitskampf unterstützt, war ein starkes Symbol. Ob bei den Demonstrationen oder beim Sammeln von Unterschriften, sie standen an unserer Seite.

Wir haben auch eine Petition lanciert, die über 15’000 Unterschriften zusammenbrachte, und sind sofort mit National- und Ständeräten in Kontakt getreten. Es hatte in den letzten Jahren bereits parlamentarische Vorstösse von Parlamentarier:innen aus Luzern und Solothurn gegeben, insbesondere eine Motion des Solothurner Ständerats Roberto Zanetti (SP), die Massnahmen zum Schutz der Schweizer Stahl- und Aluminiumindustrie verlangte und 2023 von National- und Ständerat gegen den Willen des Bundesrates angenommen wurde.

Während dieser Mobilisierung arbeiteten wir mit Roger Nordmann, Nationalrat (SP/VD), zusammen. Er war es, der den Vorschlag machte, die Kosten für elektrische Energie für die nächsten vier Jahre zu senken, mit einer regressiven Skala – 50% Senkung im ersten Jahr, dann 37,5%, 25% und schliesslich 12,5%. Diese Lösung wurde von beiden Kammern angenommen, trotz des starken Widerstands des bürgerlichen Sektors und der Unternehmen – der Dachverband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie Swissmem sprach von einem Tabubruch.

Ein weiterer Aspekt dieses Gesetzes war, dass die Unternehmen, die diese Hilfe erhalten, keine Dividenden oder Boni an die Manager:innen auszahlen dürfen. Es ging hierbei um 25 Millionen Franken für Swiss Steel und 20 Millionen Franken für Stahl Gerlafingen. In Gerlafingen wird es also zu keinen Entlassungen kommen. Das Unternehmen hat aber einen Teil der Belegschaft in Kurzarbeit geschickt. Das entspricht bereits 120 geretteten Arbeitsplätze! Wir verhandeln immer noch mit Swiss Steel, die trotz staatlicher Unterstützung und gegen den mit den Arbeiter:innen ausgearbeiteten Sozialplan am Stellenabbau festhalten und 50 Entlassungen aussprechen will.

Alles in allem ist das ein grosser Sieg, die Mobilisierung hat sich gelohnt. Die Presse in der Deutschschweiz hat gut über unseren Kampf berichtet, vielleicht auch wegen der Verbindung zwischen der Klimafrage und dem Erhalt von Arbeitsplätzen. Dieser Kampf ist ein schönes, sehr konkretes Beispiel dafür, was die Linke heute tun muss. Angesichts der Prekarität und der Angst um Arbeitsplätze, die von nationalistischen Kräften instrumentalisiert wird, ist die Selbstorganisation der Arbeiter:innen entscheidend. Die Arbeiter:innen verbrachten zum Beispiel einen Tag damit, in Arbeitskleidung mit den Kommissionen des Nationalrats zu diskutieren. Symbolisch war das stark.

Im Fall von Vetropack [Schweizer Glasverpackungshersteller: Anm. d. Red.] konnte trotz einer gewerkschaftlichen und später parteiübergreifenden Mobilisierung nichts erreicht werden, um die Glasrecyclingabteilung zu retten. Ist diese Entscheidung im Fall der Stahlwerke ein erster Einschnitt in die Position der Unternehmen, die bislang jede „Industriepolitik“ abgelehnt haben?

Der Kampf der Arbeiter:innen von Vetropack war mutig. Leider konnte die Gewerkschaftsbewegung diesen Kampf nicht gewinnen, aber der Kampf hat eine Perspektive eröffnet. Er hat ein neues Nachdenken über die Frage der Industriepolitik in Gang gesetzt.

Wirtschaftsnahe, bürgerliche Kreise – ich denke da zum Beispiel an den FDP-Präsidenten der Thierry Burkart – waren strikt gegen jede politische Intervention in die Wirtschaft und behaupteten, dass dies in der Schweiz ein Dogma sei, das man nicht in Frage stellen dürfe. Das ist natürlich unehrlich, denn wenn es notwendig ist, z.B. um Banken zu retten, fliessen die Gelder sehr schnell…

Was jedoch klar ist: die Entscheidung des Parlaments, dieses vierjährige Übergangsgesetz, gibt uns für die Zukunft ein Beispiel. Es ist möglich, Unternehmen zu retten, die für die Gesellschaft nützlich sind – nicht für die „Wirtschaft“, sondern für die Bevölkerung. Um diese Branchen zu unterstützen, ist es möglich, zumindest in Ansätzen in die Unternehmenspolitik einzugreifen. Beispielsweise fordern die anderen Elemente der Gesetzesvorlage, dass die unterstützten Unternehmen neben dem Verbot von Dividenden- und Bonuszahlungen auch den Produktionsstandort erhalten und einen Businessplan für die nächsten sieben Jahre – mitsamt einer konkreten Strategie in einer Null-Emissions-Perspektive – vorlegen müssen.

Es ist wichtig, diese Kampferfahrung, diese Intervention auf bürgerlichem Territorium, wie Genosse Trotzki sagte, aufzuwerten.

Der Unterstützungsplan ist zeitlich begrenzt. Was bräuchte es an längerfristigen Massnahmen, insbesondere in den Sektoren, die viel CO₂ ausstossen?

Das ist eine gute Frage. In einem Sektor, der viel Energie verbraucht und eindeutig viel CO₂ produziert, muss man in erster Linie schauen, ob es sich um eine gesellschaftlich nützliche Produktion handelt oder nicht, und allenfalls die Produktion herunterfahren (was z.B. in der Rüstungsindustrie der Fall wäre). Gleichzeitig müssen wir dafür einstehen, dass nicht die Arbeiter:innen die Kosten für den industriellen Umbau zahlen.

Im Metallsektor scheint es ziemlich offensichtlich, dass man die Produktion aufrechterhalten muss, weil man ja Tunnel, Brücken etc. mit Stahl herstellen muss. Aber diese Aufrechterhaltung schliesst nicht aus, dass die Branche auch die CO₂-Emissionen reduzieren muss. Das ist ein Bestandteil des vorläufigen Gesetzes.

Entscheidend ist, wie es auch bei den Kämpfen in den Stahlwerken der Fall war, dass es eine starke gewerkschaftliche Präsenz gibt. In der Vergangenheit war von Arbeiter:innenkontrolle die Rede. Die Möglichkeit, dass die Unternehmen allein entscheiden können, muss unbedingt in Frage gestellt werden. Wir dürfen das nicht mehr akzeptieren und vor allem nie vergessen (oder uns daran erinnern…), dass es die Arbeiter:innen und sind, die mit ihrer Arbeit allen gesellschaftlichen Reichtum produzieren, und zwar ganz konkret, sei die Arbeit körperlich oder geistig.

Was wir in dieser Mobilisierung gesehen haben, und das ist sehr interessant, war eine Dynamik der Selbstorganisation der Arbeiter:innen. Die Selbstermächtigung war nicht mehr nur eine abstrakte Idee, sondern wurde zur Realität. Es ist immer sehr bewegend zu sehen, wie die Arbeiter:innen die Mobilisierung selbst in die Hand nehmen. Es waren die Arbeiter:innen, die sehr spontan und von Anfang an versucht haben, eine Solidarität zwischen den Arbeiter:innen von Stahl Gerlafingen und Swiss Steel zu schmieden. Es waren auch die Arbeiter:innen, die versucht haben, an die internationale Solidarität zu appellieren und Unterstützung erhalten haben. Es gibt andere Erfahrungen in Europa und anderswo, wo Arbeiter:innenkollektive und Unternehmen versuchen, die Frage der Verteidigung von Arbeitsplätzen mit der Frage zu verbinden, wie sie zur Lösung der Klimakrise beitragen können. Diese Aufgabe müssen wir fortsetzen und ausweiten.


Das Interview wurde am 17. Januar 2025 auf Französisch veröffentlicht und durch die Redaktion übersetzt. Das Titelbild zeigt die Demo der Stahlarbeiter:innen vor dem Werk in Gerlafingen am 9. November 2024.

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