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Schweiz-EU: Gewerkschaftsrechte für ein Linsengericht hergeben?

Unter dem Vorwand der «Wettbewerbsfähigkeit» verstärkt die sogenannte Arbeitgeberschaft[1] ihre Offensiven bezüglich Arbeitszeit und -intensität, Dauer der Lebensarbeitszeit, Kürzung des Reallohns im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität, und vermehrten Stellenabbau. Diese gesellschaftliche und politische Lage erhält vor dem Hintergrund der Verhandlungen der Schweiz mit der Europäischen Union (Bilaterale III) ihre volle Bedeutung.

von Christian Dandrès, Nils de Dardel und Romolo

Ohne Gewerkschaftsrechte ist es jedoch unmöglich, gegen diese Offensiven anzukämpfen. So gehört zu den Massnahmen, welche die Delegierten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) zur Sicherung des Lohnschutzes und des Service Public gefordert haben, folgende Forderung: „Wenn Berufstätige, die sich für die Rechte der Arbeitnehmenden einsetzen, besser gegen Kündigungen geschützt sind, verbessert sich auch der Lohnschutz. Deshalb braucht es einen besseren Kündigungsschutz, der auch die völkerrechtlichen Mindestnormen der ILO-Konvention Nr. 87 erfüllt.“

Um dies in die richtige Perspektive zu rücken ist es notwendig, sich einen Überblick über die Hindernisse zu verschaffen, auf welche diese zentrale Forderung in der Vergangenheit und noch stärker in der Gegenwart gestossen ist.

Eine glänzende Gegenwart?

Zwischen 2000 und 2021 stieg in der Schweiz der Abdeckungsgrad der durch einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geschützten Lohnabhängigen von 40,9% auf 49,6%. Dies ist zweifellos positiv, obwohl sich einige GAVs auf eine Wiedergabe des die Lohnabhängigen (sehr) wenig schützenden Obligationenrechts beschränken, oder von ihrem Geltungsbereich befristet und temporär arbeitende Personen, deren Zahl seit Anfang der 1990er Jahre stetig wächst, ausschliessen.

Schwerer wiegt, dass dieser Anstieg mit einem Rückgang der aktiven gewerkschaftlichen Präsenz in den Betrieben einherging. Mitursächlich für diesen Rückgang sind die häufigen, vom fehlenden oder unzureichenden Schutz, den das schweizerische Arbeits(un)recht bietet, erleichterten Kündigungen von gewählten Arbeitnehmervertreter.innen. Die Drohung einer unabwendbaren Kündigung schreckt viele Aktivisten und solidarisch gesinnte Personen von einer Kandidatur für gewählte Personalvertretungen ab. Man stelle sich vor, ein Mieter, welcher eine Mietzinserhöhung anficht, sähe sich mit dem sofortigen Verlust seiner Wohnung bedroht! Solidarisch gesinnte und engagierte Personen, welche solche verantwortungsvolle Positionen übernehmen, müssen oft mit grösster Vorsicht vorgehen, auch wenn es bloss um die Ausübung gesetzmässiger Rechte geht.

Der Anstieg des GAV-Abdeckungsgrads geht somit mit einem Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads einher (Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Verhältnis zur Gesamtzahl der Lohnabhängigen). Der fehlende Schutz der Vertrauensleute der Lohnabhängigen ist zwar nicht die einzige, wohl aber eine der wichtigsten Ursachen für diesen Rückgang.

Hinzu kommt die zunehmende finanzielle Abhängigkeit der Schweizer Gewerkschaften von densogenannten Solidaritätsbeiträgen [Geldsumme, die in der Regel von den Arbeitgebenden vom Lohn gewerkschaftlich nicht organisierter Personen abgezogen und den Gewerkschaften überwiesen wird]. Diese Abhängigkeit führt dazu, dass die Kündigung eines GAV und ein darauffolgender langer vertragsloser Zustand – in Ermangelung einer angemessenen Kampfkraft – die Existenz einer oder mehrerer Gewerkschaften gefährden könnte. Diese Beiträge sind somit eine weiche Droge, welche für die Lohnabhängigen lebenswichtige Organisationen in ihrer Existenz bedroht.

Die Schweiz auf der schwarzen Liste der IAO

Im November 2006 lud der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit, im heute unersetzlichen Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), den Bundesrat ein, „Massnahmen mit dem Ziel zu ergreifen, Gewerkschaftsvertretern, welchen aus gewerkschaftsfeindlichen Gründen gekündigt wurde, einen gleichartigen Schutz zu gewähren wie den aus Gründen der Geschlechterdiskriminierung missbräuchlich entlassenen Personen, [Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes, GlG], einschliesslich der Möglichkeit der Wiedereinstellung, in Entsprechung der oben genannten Grundprinzipien und der von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen Nr. 87 und 98.“ Dieser schwerwiegende Mangel hat zur Folge, dass die Schweiz auf der schwarzen Liste der IAO steht.

Zwar gewährt das Schweizer Recht theoretisch einen (sehr dürftigen) Schutz, doch der SGB hielt 2012 fest: „Das Problem ist: Das Gericht akzeptiert heute wirtschaftliche Gründe als „begründeten Anlass“, womit der erweiterte Schutz quasi hinfällig ist.

Der SGB fuhr fort, indem er das Beispiel einer von Tamedia ausgesprochenen Kündigung anführte: „Es ist […] in der Praxis schwierig darzulegen, dass eine Kündigung missbräuchlich war. Selbst wenn das gelingt, haben die dann fälligen Strafen überhaupt keine abschreckende Wirkung. Missbräuchlich kündigende Arbeitgeber müssen die Betroffenen nicht weiter beschäftigen und können höchstens zu einer Entschädigung von sechs Monatslöhnen verurteilt werden, wobei die Gerichte in der Praxis selten über drei Monate hinausgehen. So kann sich ein Unternehmen, das von Sozialpartnerschaft und [von der in der Bundesverfassung garantierten] Koalitionsfreiheit nichts wissen will, für ein paar Tausend Franken seiner gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten entledigen.

Am 31. Januar 2025 beschloss die Delegiertenversammlung des SGB die eingangs zitierte Forderung.

Es leuchtet ein, dass die Erhöhung der maximalen Entschädigung bei gewerkschaftsfeindlicher Kündigung von 6 auf 10 Monate, die kürzlich in der Presse (NZZ, 21.3.2025) genannt wurde, in keiner Weise den „Mindeststandards der IAO-ILO“ (Übereinkommen 87 und 98, welche beide für die Schweiz verbindlich sind) entsprechen. Zudem ist es lachhaft zu behaupten, dass selbst 10 Monate Entschädigung auf Tamedia, Blocher&Co und grosse Teile der Unternehmer:innenschaft eine abschreckende Wirkung haben könnten.

Kann man «zu lange» streiken, um seinen GAV zu verteidigen?

Zu Recht heben die Gewerkschaften die Bedeutung von GAV für den Schutz der Lohnabhängigen hervor. Was geschieht aber, wenn ein Unternehmen den GAV kündigt, und wenn die Lohnabhängigen streiken, um ihn zu verteidigen? In einem Urteil aus dem Jahr 2019 hat das Bundesgericht entschieden, dass sie wohl streiken dürfen, aber „nicht zu lange“, nicht für eine „unverhältnismässig lange“ Zeit[2] ! Andernfalls können sie fristlos entlassen werden, und es droht ihnen eine Einstellung der ALV-Taggelder! Nun stellte aber schon das deutsche Bundesarbeitsgericht[3] fest, dass Tarifverhandlungen ohne Streikrecht nichts anderes als kollektives Betteln sind. Es lebe also die Vereinigungsfreiheit in der Schweiz, vom Bundesgericht „garantiert„!

Wie Schweizer Unternehmen mit den Gewerkschaften umgehen

Wie üblich verknüpfen die Schweizer Unternehmen ihr „Zugeständnis“, die Entschädigung für gewerkschaftsfeindliche Kündigungen auf 10 Monate zu erhöhen, mit Angriffen auf die Lohnabhängigen, von denen zwei besonders schwerwiegend sind.

a) Da fünf Kantone einen Mindestlohn eingeführt haben (Genf, Neuenburg, Jura, Tessin und Basel-Stadt), haben die bürgerlichen Parteien eine Motion verabschiedet, die zum Ziel hat, GAV-Mindestlöhne unterhalb der kantonalen Mindestlöhne zuzulassen[4]. Dies im Namen der „Sozialpartnerschaft“, welche sie jahraus jahrein, von den Gerichten abgesegnet, mit Füssen treten…

b) Da die Gerichte[5] entschieden haben, dass Uber-Fahrer, welche unter anderem in Genf tätig sind, einem Arbeitsvertrag unterstehen, und demzufolge ihr Unternehmen die diesbezüglichen Verpflichtungen einhalten muss, insbesondere im Bereich des Sozialschutzes und der Arbeitsbedingungen, hat der Grünliberale Jürg Grossen eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit „dem Parteiwillen“ überlässt[6]. Herr Grossen ist Elektroplaner und beschäftigt rund 40 Lohnabhängige. Es ist nicht bekannt, ob er mit dem „Selbstbestimmungsgrad“ der Uber-Fahrer in den Kantonen Genf oder Waadt vertraut ist, wo die Arbeitszeit einiger „Selbstständiger“ bis zu 100 Stunden pro Woche betrug, wobei einer von ihnen auf der Autobahn einschlief und gegen die Leitplanke stiess. Ein Teil von ihnen waren Grenzgänger:innen und verfügten, bevor sie in der Schweiz zu arbeiten begannen, nur über das «Revenu de solidarité active (RSA)», dessen Sockelbetrag sich für eine alleinstehende Person ohne Kind auf 635,70 Euro beläuft. Vielleicht vermag Herr Grossen dank seiner Ausbildung zu verstehen, dass ein Einkommen dieser Grössenordnung den „Selbstbestimmungsgrad“ seines:seiner Empfänger:in erheblich einschränkt.

Selbstredend würde das Inkrafttreten auch nur einer der obengenannten Vorlagen das Lohndumping fördern und sollte jegliche Zustimmung der Gewerkschaftsbewegung zum EU-Vertrag verunmöglichen.

Diese zwei Beispiele zeigen, dass die Taktik der Schweizer Unternehmen gegenüber den Gewerkschaften dieselbe geblieben ist: „Ich schneide dir beide Arme ab. Bleibst du ruhig, so darfst du einen behalten.“

Keine Personenfreizügigkeit ohne gewerkschaftliche und soziale Rechte

Ohne gewerkschaftliche und soziale Rechte wütet der Einzelwettbewerb unter den nach Staatszugehörigkeit, Wohnort, unterschiedlichem gesetzlichen Status, Geschlecht und Alter getrennten Lohnabhängigen; dieser Wettbewerb wird vom fremdenfeindlichen Gift der SVP und ihrer Nachahmer noch zusätzlich geschürt und ausgenützt, womit die Trennungen vertieft und die Lohnabhängigen noch weiter geschwächt werden.

Folgende Mindestforderungen sind daher zu erfüllen, sollte der EU-Vertrag nicht noch einmal die reaktionären und fremdenfeindlichen Kräfte stärken[7], wie die Volksabstimmung vom Februar 2014 zeigte:

1. die Empfehlung des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit vom November 2006 soll befolgt werden;

2. das Streikrecht und der Schutz der Vereinigungsfreiheit sollen im Obligationenrecht verankert werden:

a) kein wirtschaftlicher Grund oder Vorwand soll die Kündigung einer von den Arbeitskolleg:innen gewählten gewerkschaftlichen Vertrauensperson rechtfertigen können;

b) ein dem Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes (GlG) gleichwertiger Schutz, einschliesslich der Möglichkeit der Wiedereinstellung, soll für gewählte Personalvertreterinnen und -vertreter gelten. Wie es bereits im GlG der Fall ist, muss die gewerkschaftsfeindliche missbräuchliche Kündigung einer gewählten gewerkschaftlichen Vertrauensperson von den Gerichten aufgehoben werden können. Ebenso muss die vorläufige Wiedereinstellung nach Einleitung des Verfahrens unverzüglich vom Gericht angeordnet werden können;

c) die Dauer eines Streiks soll diesen in keinem Fall rechtswidrig werden lassen.

Die Zugeständnisse der Unternehmen und des Bundesrates sind ein unverdauliches Linsengericht, das die Gewerkschaftsbewegung schnellstens an den Urheber zurückgeben muss. Jeder wirksame Kampf gegen die eingangs erwähnten Unternehmer:innenoffensiven hängt von der tatsächlichen Möglichkeit ab, alle Gewerkschaftsrechte voll auszuüben.


[1] In Wirklichkeit nimmt bekanntlich der sogenannte «Arbeitgeber» einen Teil der Arbeitsleistung als unbezahlte, Mehrwert erzeugende Mehrarbeit entgegen; seitens des Bürgertums wird dies ideologisch als Entlohnung des Kapitals rechtfertigt, wobei aber vergessen geht, dass reales, im Unterschied zu fiktivem, Kapital nichts anderes als tote, unbezahlte Arbeit ist.

[2] BGE 4A_64/2018 vom 17. Dezember 2018. Wie Eleonor Kleber zu Recht feststellt: „L’exigence de proportionnalité au stade de l’exercice de la grève, si elle est comprise de manière stricte, peut vider de sa substance le principe de licéité de la grève„, siehe im Commentaire romand dela Constitution fédérale de 1999, N 33 ad Art. 28 Cst (in freier Uebersetzung: In enger Auslegung kann das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit im Stadium der Streikausübung den Grundsatz der Zulässigkeit von Streiks aushöhlen). Bereits 1899, vor jeglicher Erwähnung des Streikrechts in der Verfassung, erkannte das Bundesgericht das Streikrecht an! Siehe dazu Andermatt, Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht, Nr. 4, S. 8, mit einem Verweis auf BGE 25 II 800. Die Rechtsprechung des Bürgertums läuft rücklings.

[3] Siehe unter anderem neulich noch das Urteil 1 AZR 611/11 vom 20. November 2012, in dem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mai 1964 zitiert wird.

[4] Entgegen der Empfehlung des Bundesrates nahm das Parlament im Dezember 2022 eine Motion des Obwaldner Zentrum-Abgeordneten, des Steuerexperten Ettlin, Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO in Zürich, an, welche eine Änderung des Gesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG) forderte. Dem zufolge hat der Bundesrat eine Botschaft zur Änderung des AVEG verabschiedet. Diese sieht die Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung von Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen vor, auch wenn sie unter kantonalen Mindestlöhnen liegen.

[5] BGE 2C_34/2021 vom 30.05.2022.

[6] Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist in Artikel 12 um folgenden Absatz 3 zu ergänzen: Art. 12, Abs. 3: «Für die Unterscheidung zwischen Selbstständigerwerbenden und Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitnehmern werden das Mass der organisatorischen Unterordnung und des unternehmerischen Risikos sowie allfällige Parteivereinbarungen berücksichtigt.»

[7] Die Schwächung oder gar das Verschwinden der gewerkschaftlichen Präsenz in den Betrieben war ein wichtiger Faktor für das Erstarken der AfD in den ostdeutschen Ländern.

Christian Dandrès ist Präsident des VPOD und SP-Nationalrat, Nils de Dardel ist ehemaliger SP-Nationalrat und Romolo Molo früherer Präsident einer Betriebskommission in der Industrie. Das Bild zeigt die Pressekonferenz der SGB-Delegierten am 31. Januar 2025. Foto: Yoshiko Kusano

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