Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. Oktober 2015 in die Türkei reiste, um den türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan zu treffen, titelte die Zeitung Welt: „Merkel ist auf Erdogan angewiesen“. Nur Erdogan könne die Grenzen sichern und die flüchtenden Menschen endlich daran hindern, nach Europa zu gelangen.
von BFS Zürich
Am 1. November wählt die Türkei innerhalb eines halben Jahres zum zweiten Mal. Bei der letzten Wahl am 7. Juni 2015 hat die von Erdogan angeführte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) eine Mehrheit von mindestens 60% zu ihrem Ziel erklärt. Damit hätte sie, mit Hilfe eines Referendums, die türkische Verfassung so verändern können, dass die Macht des Präsidenten massiv erweitert worden wäre. Alle Macht in den Händen Erdogans, also.
Doch die mit der kurdischen Widerstandsbewegung und der türkischen Linken verbundene Bündnis-Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), machte den türkischen Konservativen einen Strich durch die Rechnung. Sie gewann 13.1% und war damit deutlich über der Sperrklausel von 10%. Die AKP brachte deshalb keine absolute Mehrheit zustande.
Nein zum Terror gegen die linken und kurdischen Kräfte!
Kurz darauf entschied sich die AKP, auf Eskalation zu setzen. Unter dem Vorwand, in die internationale Koalition gegen den Islamischen Staat einzusteigen, begann sie, PKK-Gebiete im Südosten der Türkei und auch im Nordirak zu bombardieren. Gleichzeitig rückten Armee und Polizei-Spezialeinheiten in verschiedene mehrheitlich kurdische Städte der Türkei ein und töteten mehrere Jugendliche, Kinder, aber auch alte Menschen. Die türkische Verfassung wurde durch Erdogans Regime de facto ausser Kraft gesetzt: der juristische Apparat funktioniert nicht mehr, die Presse wurde dem Diktat der Regierung unterstellt und etwa zwanzig kurdische Bürgermeister wurden wegen angeblicher „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ verhaftet.
Doch die emanzipatorische Bewegung in der Türkei wurde nicht nur von der Polizei brutal angegriffen. Seit dem Wahlkampf im Frühjahr 2015 kam es zu einer Serie tödlicher Anschläge auf Kundgebungen, Partei-Büros und Aktivist*innen. Ihren traurigen Höhepunkt fand der Terror im Anschlag von Ankara am 10. Oktober 2015. Mehr als 100 Personen starben, hunderte weitere wurden verletzt. Der türkische Staat, ob er nun direkt in diese Verbrechen involviert ist oder nicht, trägt mindestens eine Mitschuld. Anstatt den Anschlag zu verhindern, oder schonungslos aufzuklären, schwadroniert der türkische Premier Ahmet Davutoğlu von einer angeblichen Zusammenarbeit von ISIS, PKK und YPG (syrisch-kurdische Volksverteidigungseinheiten) bei der Ausführung des Anschlags.
Dabei muss man die Situation in der Türkei nicht besonders gut kennen, um zu merken, dass dies eine dreiste Lüge ist. Die PKK und die YPG bekämpfen den Islamischen Staat in Syrien aufs Erbittertste und haben ihm in den letzten Monaten immer wieder schwere Niederlagen zugefügt. Gleichzeitig ist mittlerweile erwiesen, dass der türkische Geheimdienst neben der Al-Nusra-Front, auch ISIS mit Logistik, Waffen und Informationen versorgte. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des syrischen Diktator Assads, zielte diese Intervention aber immer auch gegen die kurdische Selbstverwaltung, das Projekt Rojava in Nordsyrien. Mehrere Mal hat Erdogan darauf hingewiesen, dass er die KurdInnen und ihre Bewegung für die grössere Gefahr hält, als den Islamischen Staat.
Solidarität mit dem Widerstand in Rojava!
Währenddessen eskaliert der Bürgerkrieg in Syrien weiter. Islamistische Milizen, Teile der Freien Syrischen Armee, kurdische, assyrische, arabische Milizen und die Regierung von Diktator Assad, unterstützt durch die libanesische Hizbollah und iranische Kämpfer, bekämpfen sich in unterschiedlichen Bündnissen und Konstellationen. Aus der Luft bombardiert eine US-geführte Koalition, der auch die Golf-Staaten angehören. Zur Unterstützung des Assad-Regimes hat mittlerweile auch Russland damit begonnen, Luftangriffe auszuführen – offiziell zur Bekämpfung des IS, mehrheitlich werden aber andere Rebellengruppierungen getroffen. Und während Assad Fassbomben auf die Bevölkerung werfen lässt und systematisch Wohnviertel zerstört, versuchen die islamistischen Gruppierungen ihre eigenen Vorstellungen eines Khalifats zu verwirklichen. Daraus folgt ebenfalls eine unterdrückende Brutalität. Die Kurd*innen, insbesondere im Nordosten des Landes, haben deshalb ihre eigenen Strukturen mit 40% Geschlechterquote, Religionsfreiheit und Minderheitenschutz geschaffen.
Nieder mit dem europäischen Grenzregime!
Das heisst also: der syrische Bürgerkrieg ist hochkomplex und kaum überschaubar. Dadurch wird der Krieg abstrakt und auf Strategie-Überlegungen reduziert. Dabei sollten wir genau dies nicht tun: den syrischen Krieg einfach als entmenschlichtes Spiel um Interessen und Einflüsse zu sehen. Jeden Tag sterben hunderte Menschen. Millionen sind geflohen. Ihr Ziel ist die Sicherheit, die Freiheit. In verhältnissmässig kleinen Zahlen schaffen sie es, Europa zu erreichen. Die überwiegende Mehrheit floh und flieht aber nach Jordanien, den Libanon oder in die Türkei. Alleine in der Türkei sollen über zwei Millionen Geflüchtete leben. Und genau hier kommt die EU ins Spiel. Europa, welches seit Jahrzehnten mit ihrer imperialistischen Politik ganze Erdteile dominiert; Europa, dessen Konzerne die Länder des Südens ausbeuten – dieses Europa sieht sich selbst als Festung. Dieses Europa hat Angst unterzugehen, wenn einige tausend Menschen vor dem Krieg fliehen, an dem Europa mitschuldig ist. Und dieses Europa versucht alles, um gar nicht erst mit diesen Menschen konfrontiert zu werden. Und da viele der geflohenen Menschen, die jetzt in der Türkei untergebracht sind, den Wunsch hegen, nach Europa zu gelangen, wird Erdogan zur Schlüsselfigur. Er soll dafür schauen, dass die Menschen bleiben, wo sie sind. Nicht nur sieht man über die Menschenrechtsverbrechen der türkischen Regierung, ihren Bombenkrieg, ihre brutale Gewalt gegen Jugendliche in den Städten hinweg. Man hält den Kontakt zu Erdogan für absolut notwendig. Und man stellt in Aussicht, dass die Türkei schneller zur gewünschten EU-Mitgliedschaft kommen könnte. Oben drauf gibt’s noch ein bisschen Geld. Von zwei Milliarden Euro ist die Rede. Das europäische Grenzregime verhandelt also mit autoritären Führern, sieht über Menschenrechtsverletzungen hinweg, wenn es nur darum geht, Flüchtlinge abzuhalten.
Refugees Welcome!
Wenn wir heute auf der Strasse sind, um unsere Unterstützung, unsere Solidarität dem kurdisch-türkischen Widerstand zuzusichern, dann auch, weil wir mit dem europäischen Grenzregime, dem Umgang mit Menschen in diesem System so gar nicht einverstanden sind. Wir sind hier, weil #RefugeesWelcome eben auch heisst, dass Erdogan weg muss. Sowohl die EU, die Türkei als auch die USA haben die Region des Mittleren Ostens über Jahrzehnte destabilisiert. Wenn heute Menschen flüchten, dann ist diese Politik mitschuldig. Und wenn diese Politik als Antwort darauf Mauern baut, symbolisch oder konkret, dann müssen wir diese Mauern einreissen. Gemeinsam mit unseren kurdischen, türkischen, syrischen Genoss*innen müssen wir Perspektiven entwickeln – fernab von fremdenfeindlichen Ressentiments und religiösem Sektarismus. Denn nur eine demokratische, emanzipatorische und konsequente Politik kann den Krieg in der Region, die Gräben zwischen Religionen und Ethnien überwinden und für die Befreiung der Menschen kämpfen.
Erdogan muss weg, Assad muss weg, ISIS muss weg! Solidarität mit Rojava und dem kurdischen Befreiungskampf!
Flyertext der BFS Zürich für die Solidaritätsdemonstration mit den linken und kurdischen Kräften in der Türkei vom 31. Oktober 2015.