Für viele Linke war Lateinamerika in den letzten 20 Jahren so etwas wie ein Hoffnungsschimmer, der zeigte, dass linke Ideen und Projekte nach dem „Sieg des Kapitalismus“ in den 1990er Jahren doch noch nicht der Vergangenheit angehören. Heute stehen diese, aus den Mobilisierungen der Lohnabhängigen und Indigenen hervorgegangenen, «fortschrittlichen» Regierungen in den lateinamerikanischen Ländern an einem Wendepunkt. Ein Zyklus neigt sich dem Ende zu. (Red.)
von Virginia de la Siega; aus SoZ
Zwei kürzliche Ereignisse – der Sieg des rechten Kandidaten Mauricio Macri in der zweiten Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen am 22. November 2015 und der Sieg der rechten Opposition bei den Parlamentswahlen in Venezuela am 6. Dezember 2015 – haben die die politische Landkarte Südamerikas drastisch verändert und scheinen ein Ende der in den späten 1990er Jahren begonnenen «progressiven» Phase auf dem Kontinent einzuläuten. Im Jahr 1996 beginnt in Lateinamerika eine Periode der Massenmobilisierungen gegen die Regierungen, die den Washington-Konsens unterzeichnet hatten. Mit diesem Abkommen forderten die USA die Umsetzung der von IWF und Weltbank geforderten Maßnahmen, mit denen die Bevölkerungen die Schulden bezahlen sollten, die die Militärdiktaturen unter dem Druck der USA aufgehäuft hatten. Argentinien, Bolivien, Ecuador, Venezuela und Mexiko waren führend in diesem Prozess; er endete mit einer Krise der Legitimität des Neoliberalismus auf dem gesamten Kontinent.
Die traditionellen politischen Parteien wurden von diesen außergewöhnlichen Mobilisierungen überrollt, neue politische Strukturen bildeten sich wie etwa die «Bewegung Fünfte Republik» in Venezuela, die MAS in Bolivien oder die Alianza País in Ecuador. In Ländern, wo die Massenbewegungen weniger ausgeprägt waren und es starke reformistische Parteien gab wie in Brasilien und Uruguay, änderte die Bevölkerung ihr Wahlverhalten und verhalf der PT bzw. der Frente Amplio zur Regierungsmacht.
Länder wie Kolumbien, Peru und Chile, die an diesem Aufschwung der Mobilisierungen nicht teilhatten, sind mehr oder weniger Bastionen des Neoliberalismus in der Region geworden. Die fortschrittlichen Regierungen stützten sich auf zwei Pfeiler: einerseits auf die Massenmobilisierung, andererseits auf den Preisboom der Rohstoffe zu Beginn des 21. Jahrhunderts und den zeitweiligen Rückzug der USA aus der Region. Letzteres hat den Weg für eine aggressive Wirtschaftspolitik Chinas freigemacht, das als Wirtschaftspartner die USA teilweise ersetzt hat. Dieser Wirtschaftszyklus neigt sich nun aber seinem Ende zu, und das bekommen die «fortschrittlichen» Regierungen zu spüren.
Was sind «fortschrittliche» Regierungen?
Als «fortschrittlich» werden so unterschiedliche Regierungen wie die von Dilma Roussef (Brasilien), Rafael Correa (Ecuador), Nicolás Maduro (Venezuela), Cristina Kirchner (Argentinien) und Evo Morales (Bolivien) bezeichnet. Der Grund dafür ist, dass sie in einem gewissen Umfang eine Umverteilung der Rente aus dem primären Sektor (Grundstoffe, Landwirtschaft) vorgenommen haben, um das Massenelend zu bekämpfen und weitere Aufstände zu verhindern. Zuvor war diese Rente ausschließlich in die Taschen des Imperialismus, der herrschenden Klasse und einiger privilegierter Sektoren gewandert. Beispiele für diese Umverteilung im Namen der «sozialen Gerechtigkeit» waren der Plan Fome Zero (Null Hunger) in Brasilien, in Argentinien die Grundsicherung für Kinder oder die Arbeitsbeschaffungsprogramme, in Bolivien eine Art Altersgrundsicherung, und natürlich die misiones in Venezuela.
Diesen Regierungen wohnt ein grundlegender Widerspruch inne. Ihr Ziel ist, das Land regierbar zu machen, ohne den Kapitalismus zu überwinden. Sie müssen dafür Zugeständnisse an die verarmten und mobilisierten Massen machen, sie geraten dadurch in Konfrontation mit dem Imperialismus und ziehen den Hass der Besitzenden auf sich.
In allen diesen Ländern haben Arbeiter und ihre Gewerkschaften anhaltend für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft, Bauern und indigene Völker wehren sich gegen den Raubbau an Rohstoffen. Ecuador z.B. hat zwischen 2009 und 2011 die meisten sozialen Konflikte der vergangenen 15 Jahre erlebt. Dasselbe gilt für Venezuela, Bolivien und Argentinien. Die Mobilisierungen gegen die Regierung Dilma Roussef in Brasilien im vergangenen Jahr ähnelten stark den «Kochtopfdemonstrationen» der Rechten in Argentinien oder Venezuela. Sie sind ein klares Indiz für das gesellschaftliche Unbehagen, das die PT-Regierung nicht hat auflösen können.
Die hohe Niveau der Mobilisierungen hat jedoch nicht verhindern können, dass die Regierungen eine klientelistische Politik betreiben, dass die Rechte auf dem Sprung ist, die Regierungsmacht wiederzuerlangen, dass es der Bevölkerung an politischer Erfahrung fehlt und die revolutionäre Linke auf dem Kontinent schwach ist – und sich deshalb eine von der Klientelpolitik unabhängige politische Führung nicht herausbilden konnte. Infolgedessen haben ein Rückgang der Mobilisierungen und eine gewisse Entpolitisierung der Bevölkerungen eingesetzt; die Präsenz der Rechten in den staatlichen Institutionen und selbst in den Mobilisierungen auf der Straße ist stärker geworden.
Was sind «periphere» Ökonomien?
Alle Ökonomien des Kontinents sind «abhängige» oder «periphere» Ökonomien, das gilt auch für ein «subimperialistisches» Land wie Brasilien, für Mexiko oder Argentinien. Eine «abhängige» oder «periphere» Ökonomie ist abhängig von den Ökonomien der imperialistischen Länder. Ihre Basis bildet der primäre Sektor, d.h. die Gewinnung und der Export eines oder mehrerer Rohstoffe oder landwirtschaftlicher Produkte. Die Investitionen der halbkolonialen Mächte sind an diese Grundstoffe und ihren Transport zu den Märkten der Zentren gebunden. Ein Beispiel dafür ist das Eisenbahnsystem in Argentinien, das die Briten im 19. Jahrhundert gebaut haben.
Die Bemühungen der Regierungen dieser Region, durch die Schaffung einer «nationalen Bourgeoisie», die im Gegensatz zu Agraroligarchie und zum Imperialismus steht, eine unabhängige industrielle Entwicklung einzuleiten, ist stets gescheitert. Investitionen tätigen fast ausschließlich der Staat und multinationale Konzerne, die von den niedrigen Löhnen profitieren wollen; die «nationale Bourgeoisie» ist nur Partnerin imperialistischer Unternehmen.
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Rolle Lateinamerikas auf dem Weltmarkt die eines Exporteurs von Rohstoffen. Davon zeugen allein schon die Beziehungen, die China mit den Ländern der Region aufgebaut hat. China importiert aus Lateinamerika ausschließlich Weizen, Erze und Soja, aber 91% seiner Exporte in die Region bilden verarbeitete Produkte. Das gilt sogar für Brasilien, das auf dem Kontinent doch die Stellung eines Subimperialismus innehat und ein privilegierter Partner Chinas ist.
Chinas Investitionen in die Infrastruktur auf dem Kontinent beziehen sich alle direkt oder indirekt auf die Gewinnung und den Transport von Rohstoffen zu den asiatischen Märkten: Erdöl aus Venezuela und Argentinien, Erze aus Peru oder Brasilien, die Eisenbahn in Brasilien und Argentinien. Das verlangsamte Wachstum der chinesischen Wirtschaft stellt die Zukunft dieser Investitionen zwar in Frage, doch die Struktur des Modells der Beziehungen unterscheidet sich nicht von denen zu Großbritannien im 19. Jahrhundert, die jede eigenständige industrielle Entwicklung verhindert hat. Den Reden über Pacha Mama [Mutter Erder] und Buen Vivir [Gutes Leben] zum Trotz sind die lateinamerikanischen Ökonomien eng mit dem Rohstoffabbau verbunden, er ist ihre Lebensader.
Das Ende des Geldsegens
Im Verlauf der letzten Jahre haben die Regierungen Lateinamerikas die Vorstellung entwickelt, die weltweite Krise des kapitalistischen Systems sei an ihnen vorbeigezogen. Das Wachstum der chinesischen Ökonomie und die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt hätten ihren Problemen ein Ende bereitet.
Doch die Krise ist jetzt da. Chinas Wachstum ist von jährlich 8–8,5% auf 7% gefallen, seine Währung wurde um 4,5% abgewertet. Der Preis für Erdöl ist zwischen Juli 2014 und Januar 2015 um 60% gefallen, die Preise für Metalle zwischen dem 1. Quartal 2011 und April 2015 um 41%, die für landwirtschaftliche Produkte in derselben Zeit um 29%.
Die lateinamerikanischen Unternehmen haben sich im selben Atemzug verschuldet, die Arbeitslosigkeit steigt, ausländische Investoren ziehen ab. Zudem droht die US-Regierung mit einer Anhebung der Zinsen, was eine neue Schuldenspirale in der Region in Gang setzen würde. Nach Angaben der Bank of America halten ausländische Investoren 59% der mexikanischen Schulden, 40% der peruanischen, und zum ersten Mal seit 1997 konnte Brasilien nicht genügend Geld beiseite legen, um die Gläubiger zu bezahlen.
Die Krise trifft selbst die Musterschüler des Neoliberalismus: Uruguay, Chile, Peru. Peru erlebt einen Rückgang seiner Erzexporte um 10%, seiner Fischereiprodukte um 74%, der Export pflanzlichen Öls ist um 45% und der landwirtschaftlicher Produkte um 20% gesunken. Der Kupferpreis ist so tief wie seit sechs Jahren nicht mehr (Kupfer macht 30% der chilenischen Exporte aus) und gefährdet so die zaghaften Umverteilungspläne der Regierung Bachelet.
Im Zentrum der regionalen Wirtschaftskrise stehen jedoch Brasilien mit Rückgang des Wirtschaftsausstoßes um 1,5% und Venezuela mit einem Minus von 5,5%.
Entwicklung oder Überwindung des Kapitalismus?
Die materielle Basis der Massenunterstützung für die «fortschrittlichen» Regierungen bilden Maßnahmen wie die Eindämmung der Armut und der Arbeitslosigkeit und Strukturen sozialer Stütze, die es vorher nicht gab. Mit der Krise geraten diese Umverteilungsmechanismen jedoch in den Hintergrund. Armut und Arbeitslosigkeit nehmen wieder zu, die Rechte der Arbeiter und der indigenen Völker werden missachtet. Die versprochene Industrialisierung, die das Modell der abhängigen Wirtschaft ersetzen sollte, lässt auf sich warten. Was die Regierungen ins Amt gehoben hat, wird nun nach und nach aufgegeben.
Jahrelang hat ein Teil der lateinamerikanischen und europäischen Linken in der Illusion gelebt, die «fortschrittlichen» Regierungen seien mindestens so etwas wie ein Übergang, wenn nicht gar schon der «Sozialismus des 21.Jahrhunderts». Doch haben diese Regierungen mit Ausnahme von Chávez nie versprochen, den Kapitalismus zu überwinden, sondern nur, ihn in ihrem Land zu «entwickeln». Nach dieser Vorstellung muss Lateinamerika als Kontinent, der von der imperialistischen Ökonomie abhängt, erst eine lange Phase eines «regulierten» Kapitalismus mit regionaler und kontinentaler Integration durchlaufen, bevor ein Übergang zum Sozialismus möglich wird. Evo Morales bspw. spricht von einem «Andenkapitalismus».
Die Geschichte des Kontinents zeigt aber, dass es noch keiner Allianz einer «fortschrittlichen» Regierung mit der nationalen Bourgeoisie gelungen ist, das Rohstoff-Export-Modell durch ein Modell einer vom Imperialismus unabhängigen Industrialisierung zu ersetzen. Die Bourgeoisie lässt sich niemals auf Vorhaben ein, die ihre unmittelbaren Profitinteressen bedrohen könnten. Ein sozialistisches Projekt, das diesen Namen verdient, erfordert die Beseitigung des Kapitalismus, nicht seine Ausweitung.
Die Bourgeoisie der «fortschrittlichen» Länder ist auch nicht interessiert an der Schaffung eines wirklichen gemeinsamen lateinamerikanischen Binnenmarkt, sie interessieren mehr direkte Beziehungen zum Weltmarkt und die Kooperation mit den multinationalen Konzernen. Die Bemühungen, einen lateinamerikanischen Binnenmarkt zu schaffen, sind deshalb alle steckengeblieben. Der MERCOSUR, der Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Venezuela und Bolivien miteinander verbindet, spielt politisch wie wirtschaftlich keine Rolle. Zu seinem Parlament, das 2008 offiziell aus der Taufe gehoben wurde, hat bislang nur Paraguay Abgeordnete gewählt.
UNASUR umfasst neben den Mitgliedstaaten des MERCOSUR auch neoliberale Musterschüler wie Kolumbien, Chile und Peru. Es ist ein Regierungsbündnis, das nach dem Konsensprinzip funktioniert und dazu da ist, fortschrittliche Maßnahmen auf kontinentaler Ebene zu blockieren.
ALBA, die Allianz der Regierungen des karibischen Raums, der auch Kuba angehört, wurde von Chávez als Gegengewicht zur geplanten lateinamerikanischen Freihandelszone ALCA gegründet, hat aber nie eine wirkliche Funktion bekommen.
Vor der Arbeiterklasse und den indigenen Völkern steht immer noch die Aufgabe, ein Modell der Industrialisierung zu finden, das Arbeitsplätze schafft und aus der Klientelpolitik und dem asistencialismo, d.h. dem Erkaufen von Massenanhang durch sehr begrenzte soziale Wohltaten, herausführt. Diese sozialen Leistungen müssen zu einer Brücke in produktive Arbeit werden, die an die Stelle von Subventionen, Konsum und niedriger Produktivität tritt.
Ich teile die Kritik der Autorin, dass sich diese „fortschrittlichen“ Regierungen nicht auf dem Weg zum Sozialismus befanden resp. noch befinden.
Doch sollte man 1. diese Verschiedenen Regierungen etwas differenzierter betrachten. So hat z.B. der Kirchnerismus noch viel weniger mit Sozialismus zu tun als der Chavismus. Während spätestens unter Christina Fernandez de Kirchner zu neoliberaler Politik zurückgekehrt wurde (ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich bemüht hätte die Einnahmen aus Rohstoffexporten der Argentinischen Bevölkerung zukommen zu lassen) wehrt sich die Regierung in Caracas zumindest nach wie vor das venezoelanische Öl dem transnationalen Kapital zu überlassen.
2. Stellt sich die Frage wie die Arbeiter*innenklasse (dazu zähle ich auch alle informell Beschäftigten die leider oft von sozialistischen Organisationen vernachlässigt werden) ein antikapitalistisches Programm umsetzen soll, so lange die dazu nötige Massenbasis fehlt.
Auch wenn ich natürlich auch gerne eine radikale Arbeiter*innenorganisation hätte. Es ist immer einfach dies nach dem Scheitern einer sozialen Bewegung zu fordern und zu behaupten man habe recht gehabt, wenn man selbst nicht daran beteiligt war.