Hat die türkische Regierungspartei AKP schon immer dieselbe Politik verfolgt oder hat sie sich in der letzten Zeit verändert? In seinem Vortrag am Anderen Davos 2017 widmete sich Emre Öngün der Geschichte der AKP seit ihrer Machtergreifung sowie den politischen und wirtschaftlichen Umständen, die zu einer Veränderung der Politik Erdogans geführt haben. (Red.)
von Emre Öngün
Zu Beginn möchte ich einige Zahlen nennen: Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 Ist die Arbeitslosenzahl um 450’000 gestiegen,144 Journalist*innen wurden festgenommen; 2500 Journalist*innen haben ihre Arbeit verloren; 11 Abgeordnete und 74 Bürgermeister*innen wurden inhaftiert (diese Abgeordneten sind von der Demokratischen Partei der Völker HDP und die Mehrheit dieser Bürgermeister*innen sind Kurd*innen); 87’000 Staatsangestellte wurden entlassen, darunter eine beträchtliche Zahl an Gewerkschafter*innen und linken Oppositionellen sowie Akademiker*innen, welche eine Petition für den Frieden unterschrieben hatten.
Die offiziellen Zahlen müssen mit anderen, von Menschenrechtsorganisationen erhobenen Zahlen ergänzt werden. Denn es müssen auch die Gewalttaten des Regimes, die Zerstörungen der kurdischen Städte und die Zahl der Toten und Gefolterten berücksichtigt werden.
Diese Zahlen sind nicht nur Ausdruck eines repressiven Projekts, sondern stehen auch im Zusammenhang mit einem gross angelegten Sparprogramm. Wegen der ökonomischen Krise in der Türkei, namentlich des Wertezerfalls der türkischen Lira, ist der Mindestlohn um 90 Dollar pro Monat gesunken. Nach dem aktuellen Wechselkurs beträgt der Mindestlohn 342 Euro.
Zwei wichtige historische Aspekte
Diese Situation ist nicht das Resultat einer deutlichen politischen Kehrtwende nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016. Was ich hier beschrieben habe, ist nur die Beschleunigung einer Dynamik, die bereits lange zuvor Bestand hatte. Als die AKP (dt. Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung A.d.R.) 2002 an die Macht kam, wurde diese Partei fälschlicherweise zwar als konservative, jedoch auch als demokratisierende Kraft eingeschätzt. Was ist seither passiert? Zwei Erklärungsansätze sollten aufgegeben werden. Zum einen die These, die AKP sei schon immer so gewesen und zeige nun ihr wahres Gesicht. Zum anderen die These, dass die Machtübernahme die Partei korrumpiert habe. Um die wahren Ursachen zu verstehen, braucht es eine historische Analyse zweier grundlegender Aspekte
1. Erstens die Struktur der türkischen Republik. Der Staat wurde auf der Grundlage eines türkischen Nationalismus aufgebaut und auf der Vorstellung einer Vorherrschaft der sunnitischen und türkischen Gemeinschaft. Dieser Nationalismus war trotz der „laizistischen“ und „universalistischen“ Anstriche vorherrschend.
Dies zeigt sich an der Tatsache, dass sich die türkische Republik in Bezug auf Kurdistan und die Kurd*innen als koloniale Republik verhält und die Erbin einer Politik der ethnischen Säuberung ist. Zu dieser Politik gehört insbesondere der Genozid an den Armenier*innen [zwischen April 1915 und Oktober 1916]. Die Leugnung dieses Genozids durch die Regierung ist weiterhin von grösster Aktualität. Genau vor 10 Jahren wurde der linke Journalist Hrant Dink von einem jungen türkischen Faschisten getötet. Am 13. Januar 2017 wurde der HDP-Abgeordnete Garo Paylan während drei Tagen von der Parlamentssession ausgeschlossen, weil er den Genozid erwähnt hatte.
2. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass die Türkei ein Land der kapitalistischen Peripherie ist, und dies trotz der grossen Kapitalakkumulation in den letzten 15 Jahren. Die AKP wurde somit zu einem Instrument, das den Aufbau einer neoliberalen Hegemonie in der Türkei ermöglichte.
In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass die AKP keine homogene Partei ist. Zu Beginn ihrer Machtübernahme setzte sie eine „liberale“ Politik durch. Um dies zu verstehen müssen wir die Klassenbeziehungen im türkischen Staat in den Blick nehmen. In der Türkei gibt es eine Fraktion des Kapitals, die mit dem globalisierten Finanzkapital in enger Beziehung steht. Dann gibt es einen Sektor bestehend aus kleinen und mittleren Betrieben, der viele Arbeitskräfte benötigt. Für diesen Sektor ist die Repression der Arbeitenden von grosser Bedeutung. Aus diesem zweiten Sektor formierte sich eine Fraktion, die in Verbindung mit dem politischen Islam steht.
Die AKP gestern und heute
Mit dieser Analyse der unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals können wir drei Phasen der AKP-Regierung unterscheiden. In der ersten Phase von 2002 bis 2007/2008 vermochte es die AKP, eine brüchige Hegemonie aufzubauen. Konkret bedeutete dies, dass die AKP eine grosse Koalition aller Sektoren des Kapitals herstellen konnte: vom grossen Finanzkapital bis hin zu den KMU-Besitzern.
Wie ist dies der AKP gelungen? Sie spielte ein doppeltes Spiel. Zum einen führte sie die vom Internationalen Währungsfond (IWF) geforderte Politik weiter. Als Musterschülerin des IWF privatisierte und deregulierte sie die Wirtschaft und verschlechterte die Arbeitsbedingungen. Dies brachte der AKP nicht nur die Unterstützung des Finanzkapitals; auch für die kleinen und mittleren Unternehmer*innen war es akzeptabel, weil die Lohnkosten gesenkt wurden. Diese Phase ist gewissermassen die Glanzzeit der AKP und die Partei konnte im gleichen Zuge auch liberale politische Reformen in Betracht ziehen, z.B. in Bezug auf religiöse Minderheiten und insbesondere Kurd*innen.
Diese Politik brachte kürzlich einen Journalisten zur Aussage, dass diese AKP heute illegal wäre, wenn sie mit denselben Slogans wie früher Wahlkampf betriebe. Die AKP von gestern würde von der AKP von heute angegriffen. Zu jener Zeit konnte die AKP zu Recht darauf hoffen, die Hegemonie zu erlangen, selbst unter der kurdischen Bevölkerung.
Doch verschiedene Aspekte setzten dieser liberalen Phase ein Ende. Der wichtigste Aspekt ist die Weltwirtschaftskrise von 2007-2008. Deren Auswirkungen auf die Türkei waren sehr stark. Die Exportwirtschaft hörte auf zu funktionieren und die Koalition zwischen den verschiedenen Sektoren des Kapitals brach auseinander. Von diesem Zeitpunkt an konnte die AKP nicht mehr bei beiden Spielen gewinnen.
Die AKP traf somit die Entscheidung, den Sektor zu unterstützen, mit dem sie am engsten verbunden ist, also der KMU-Sektor mit Verbindungen zum politischen Islam, aus dessen Umfeld sich einige Unternehmer*innen seit der Machtergreifung der AKP stark bereichern konnten. Zwischen 2008 und 2011 gab es dadurch eine frontale Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Sektoren des Kapitals. Zu diesem Zeitpunkt schreckte die AKP nicht mehr davor zurück, einige Fraktionen direkt anzugreifen.
Im Jahr 2010 gelang es der AKP erneut, die Hegemonie dank einer neuen Verfassung zu festigen. Diese Verfassung wurde leider von einigen Linken als Fortschritt in Richtung Demokratie bewertet. Dieser angebliche Fortschritt war jedoch vielmehr ein Ausbau der Regierungskontrolle über das Militär, vielmehr die Stärkung einer „zivilen“ Macht, als eine wirkliche Demokratisierung. Ab diesem Zeitpunkt erhielt die türkische Ökonomie auch eine neue Ausrichtung. Das Wachstum basiert in erster Linie auf dem Bausektor. Zudem orientiert sich die Wirtschaft mehr in Richtung Naher Osten, eine Region, in welche seither die türkischen Exporte stark angestiegen sind.
2011 festigte sich somit eine konservative, sunnitische und neoliberale Hegemonie. Es ging nicht mehr um einen breiten liberalen Konsens und die AKP beschränkte sich nunmehr auf eine kleinere, grundlegende politische Basis. Ein solcher Prozess konnte sich auch auf die wichtigsten Strukturen des türkischen Staates stützen: Die AKP berief sich verstärkt auf das koloniale Erbe des türkischen Staates (in Bezug auf die „Kurdenfrage“) sowie auf eine starke Konfessionalisierung des politischen und sozialen Lebens.
Die Wende von 2013
Die AKP der letzten Phase erfuhr jedoch auch eine Krise während den Mobilisierungen vom Gezi-Park in Istanbul. Diese soziale Bewegung entstand als Widerstand gegen ein bestimmtes Städtebauprojekt: Die Umgestaltung eines öffentlichen Parks. Gleichzeitig musste die AKP während den damaligen Wahlen feststellen, dass sie die Zentren der kurdischen Bewegung, namentlich Diyarbakir, nicht für sich gewinnen kann. Das Vorhaben, die Bürgermeisterämter dieser Stadt für sich zu gewinnen, scheiterte. Dies trug dazu bei, dass der türkische Staat die oben beschriebenen strukturellen Eigenschaften (Kolonialismus und ethnischer Nationalismus) wieder „auffrischte“. Das ging so weit, dass der Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK vom Regime plötzlich unterbrochen wurde, obwohl die beiden Parteien nahe an einer Übereinkunft standen.
Zwischen 2013 und 2015 öffnete sich mit der Gezi-Bewegung etwas, das wir als demokratisches Moment bezeichnen können. Dieses Moment beschleunigte die Krise der AKP, die ihre nationalistische und konfessionelle Hegemonie festigen wollte. Diese Hegemonie beruhte auf einer Gegenüberstellung der sunnitischen Türken und Türkinnen mit den restlichen Bevölkerungsgruppen und stand im Dienste des Neoliberalismus. Doch Gezi führte einen unerwarteten Schlag gegen dieses politische Projekt aus. Denn Gezi war in erster Linie eine demokratische Massenbewegung, die von der städtischen Jugend getragen wurde.
Als Antwort wählte die AKP von Erdogan den Angriff. Es gab eine brutale „Lösung“ dieser Krise, vor allem auf der politischen Bühne. Dies war jedoch nicht sofort bemerkbar, auch wenn es bereits während der Gezi-Bewegung Tote zu beklagen gab. Das wichtigste Ereignis waren vielmehr die Wahlen von 2015, die sowohl der Gipfel als auch das Ende der demokratischen Bewegung markierten. An diesen Parlamentswahlen vom Juni 2015 erhielt die HDP 13% der Stimmen. Dies war ein unerwarteter, historischer Stimmenanteil. Gleichzeitig gewann die AKP keine Mehrheit im Parlament.
Doch was ist die HDP? Der wichtigste Teil dieser Partei besteht aus der kurdischen Freiheitsbewegung. Verschiedene Sektoren koexistieren: Sektoren der radikalen Linken, demokratische Sektoren sowie konservative kurdische Sektoren, welche um die Anerkennung ihrer kurdischen Identität besorgt sind. Dadurch wurde die Kurdenfrage erneut in die politischen Diskussionen gebracht, was enorm wichtig ist. Die zivile und politische Bewegung der Kurd*innen verfolgt mit der HDP das Ziel, sich eine Stimme auf nationaler Ebene zu erkämpfen, um für die Kurd*innen die politische Gleichheit zu erreichen, aber auch um zur Demokratisierung des gesamten Landes beizutragen. Das gute Abschneiden der HDP 2015 war somit ein Widerhall der Hoffnungen, welche während der Gezi-Bewegung formuliert wurden. Obwohl es zwischen diesen beiden politischen Bewegungen keine direkte und mechanische Beziehung gibt, muss dennoch festgehalten werden, dass der von der HDP erreichte Stimmenteil die demokratische Bewegung von Gezi wiederspiegelte.
Hinzu kommt noch ein weiterer Faktor für die Krise der AKP-Regierung,: Die Bildung des Rojava-Projektes jenseits der türkischen Grenze, dazu in diesem Rahmen aber keine weiteren Ausführungen.
Von der inneren zur äusseren Krise
Die Antwort auf diese Krise war der Krieg: Ein Krieg in der Türkei und im Ausland, namentlich in Syrien. In Bezug auf Syrien gibt es eine Aussage von Erdogan, welche seinen Ansatz gut illustriert: „Wir werden es auf keinem Fall zulassen, dass sich eine kurdische Entität an unserer südlichen Grenze konstituiert.“ Eine solche Erklärung ist ernstzunehmen.
Der innere Krieg hat zwei Bestandteile: ein Staatsterror und ein Terror für den Staat. Dies sind zwei unterschiedliche Dinge. Wie äussert sich der Staatsterror? Durch die Belagerung Kurdistans mitsamt umfangreicher Zerstörungen. Einige Quartiere von wichtigen kurdisch geprägten Städten wurden zerstört. Der Terror für den Staat hingegen bedeutet, dass es zugelassen wird, dass pro-IS Gruppen die Opposition angreifen. Dies zeigte sich im Attentat von Suruc, eine Ortschaft an der türkisch-syrischen Grenze, das 33 Menschenleben forderte. Darunter waren junge Genoss*innen, die sich nach Kobané begeben wollten, um den Wiederaufbau zu unterstützen. Keine Gruppe bekannte sich zum Attentat, was es dem türkischen Staat erlaubte, sein Gesicht zu wahren. Dann, im Oktober 2015, ereignete sich das Attentat von Ankara während einer Zusammenkunft von oppositionellen Sektoren. Mehr als hundert Genoss*innen wurden durch den Selbstmordanschlag getötet. Der Staat liess die Täter erneut gewähren.
In diesem Kontext ereignete sich der Putschversuch vom Juli 2016. Deswegen kann auch behauptet werden, dass das, was daraufhin folgte, nur eine Beschleunigung und keine qualitative Veränderung der politischen Ausrichtung darstellt.
Heute erleidet die Türkei einen lang andauernden Schiffbruch. Das Regime verbittert die Gesellschaft durch seine Gewalt und durch die Gewalt, die es gewähren lässt. Gleichzeitig ist seine politische Basis schwach: Die Ökonomie, die Währung und ganze Wirtschaftssektoren brechen zusammen. 85’000 Staatsangestellte fielen innerhalb von sechs Monaten weg. Ob es den neoliberalen Theoretiker*innen gefällt oder nicht, diese Funktionäre haben gearbeitet und jetzt tun sie es nicht mehr. Wir beobachten ein Projekt der Neuformatierung der Gesellschaft auf der Grundlage des Konfessionalismus und des Neoliberalismus.
Zum Schluss möchte ich sagen, dass in diesem Kontext die Hypothese einer Entwicklung in Richtung Faschismus nicht auszuschliessen ist. Ein weitergehender Wandel der machthabenden Partei ist nicht auszuschliessen. Die AKP war nicht faschistisch, als sie an die Macht kam, doch ihre Veränderung weisen in diese Richtung.
Ein Aspekt, der in diese Richtung weist, ist die Tatsache, dass an das Regime gebundene Banden – die jedoch nicht in den Staat integriert sind – unbestraft Oppositionelle und Kurd*innen umbringen. Diese Flucht nach vorne ermöglicht keine Rückkehr zur alten Politik. Ich nehme nicht gerne das Wort Faschismus in den Mund, denn die türkische Linke hat diesen Begriff immer mit grosser Leichtigkeit verwendet. Aber die Hypothese einer Entwicklung in Richtung Faschismus ist in Betracht zu ziehen.
Es waren die Spaltungen der Arbeiter*innen, welche die Durchsetzung dieses Projekts der AKP ermöglichten. Die Spaltungen verliefen nicht nur entlang der „nationalen“ (kurdischen) Frage, sondern auch entlang von verschiedenen Kategorien von Arbeitenden. Aber die vergangenen und sich im Keim befindenden Mobilisierungen müssen als Faktoren der Krise der AKP verstanden werden. Man spricht nicht oft darüber, aber momentan befinden sich Sektoren der Metallindustrie in einem Streik. Die Mobilisierungen gegen Stadtentwicklungsprojekte sind ebenfalls zentral, weil sie im Zentrum des türkischen Kapitalismus stehen.
Um abzuschliessen: die demokratischen und antikolonialen Kämpfe der Kurd*innen, die Arbeitskämpfe sowie die urbanen und ökologischen Kämpfe sind drei Aspekte einer Opposition gegen den konfessionellen Kurs der AKP.
Transkription des Vortrages und Übersetzung durch die Redaktion.