Es ist früh am Morgen und noch dunkel am Rössliweg in Rothrist, Kanton Aargau. Lastwagen eines der europaweit grössten „Fashion Online-Versandhändler“ rollen heran. Im Gebäude, in das 2018 ein Möbel XXLutz einziehen wird, hat die Firma ingram micro einen Logistik-Hub aufgebaut, um für Zalando Rücksendungen zu verarbeiten. Hundert Personen arbeiten hier gleichzeitig und öffnen die Retourenpakete, reinigen die Kleidungsstücke, falten sie sauber zusammen und machen sie für die Rücktransporte in die Lager von Zalando bereit – das alles zu miserablen Löhnen und extrem schlechten Arbeitsbedingungen.
von Matthias Kern (BFS Zürich)
Bereits vor einigen Wochen wurde publik, dass die Firma MS direct aus St.Gallen für Zalando in Arbon (TG) Rücksendungen verarbeitet und dabei miserable Löhne zahlt. Verschiedene Zeitungen hatten darüber berichtet. Mit der ingram micro, mittlerweile eine Tochterfirma des gigantischen chinesischen Mischkonzerns HNA Group, ist uns nun eine zweite Firma bekannt, die für Zalando die Abwicklung der Rücksendungen betreut.
Dass Zalando überhaupt Rücksendungen in der Schweiz verarbeitet, scheint für das expandierende Unternehmen ein notwendiges Übel zu sein. Zollvereinbarungen zwischen der Schweiz und der EU verhindern den direkten Rückversand der Kleidungsstücke. Die Textilien und Schuhe müssen deshalb in der Schweiz gesammelt, verarbeitet und sortiert werden. Die Rücksendungen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern verarbeitet Zalando hingegen in riesigen Logistik-Zentren in Deutschland und in Polen. Die Angestellten sollen an beiden Standorten etwas mehr als den Mindestlohn erhalten – dieser beträgt in Deutschland 8.50 Euro auf die Stunde, in Polen sind es 461 Euro im Monat. Und in der Schweiz?
Die Anstellungsbedingungen sind miserabel
Die Schweiz kennt historisch bedingt gar kein eigentliches Arbeitsrecht – es gab daher in den letzten Jahrzehnten der neoliberalen Umstrukturierung auch keine grundlegenden Errungenschaften oder Schutzmechanismen, die angegriffen und ausgehöhlt werden mussten. Auch einen Mindestlohn gibt es nicht, es sei denn ein solcher wurde branchenspezifisch im Gesamtarbeitsvertrag festgelegt. Für den Logistiksektor existiert kein GAV. Dementsprechend gestalten sich auch die Löhne, die wir in Erfahrung bringen konnten, beim Zalando-Verarbeiter: 3400.- Franken x 12, brutto, verdient ein*e Angestellte*r bei ingram micro am Sortiertisch. 3750.- x 12, brutto, sind es für ein*e Teamleiter*in. 100 Personen arbeiten am Standort Rothrist zu diesen Bedingungen. Sie sind fest angestellt. Daneben arbeiten 180 Personen im Stundenlohn, müssen auf Abruf bereitstehen.
Eine ehemalige Mitarbeiterin des Betriebs zeigt uns eine SMS des firmeninternen Temporärdienstes: 10 Arbeitskräfte werden gebraucht, für den Tag darauf: first come – first served. Über den Lohn, so erzählt man uns, wird oftmals erst nach der Schicht gesprochen. Ungefähr 17.- Franken gibt es auf die Stunde. Die Zahlen sind damit dem Standort Arbon, wo die Firma MS direct die Retouren verarbeitet, sehr ähnlich. Viele Temporäre würden deshalb nach der ersten Arbeitsschicht frustriert resignieren und keine weiteren Einsätze mehr annehmen.
Motiviert arbeiten, auch wenn es kaum zum Leben reicht
Die Arbeit am Sortiertisch ist zudem körperlich anstrengend. Sie wird im Stehen verrichtet. Die Firma ingram micro wird von Zalando pro verarbeitetes Stück bezahlt – ohne Rücksicht auf Verschmutzung, oder Komplexität des entsprechenden Textils. In der Schweiz, so munkelt man, dürfte dieser Stückpreis bei etwas über einem Franken liegen.
Je schneller die Arbeiter*innen also sind, desto mehr Retouren schaffen sie pro Stunde. Und je mehr Retouren in der Stunde verarbeitet werden, desto mehr Gewinn macht ingram micro. Viele halten diesem Druck und den Leistungsanforderungen nicht stand. Oder sie können die hohen Anforderungen an das Arbeitstempo schlicht nicht erfüllen. Teilweise soll es deshalb bis zu 30 Kündigungen pro Woche geben – verbunden mit bis zu 30 Neueinstellungen im gleichen Zeitraum.
Viele der Beschäftigten haben Migrationshintergrund, ein beträchtlicher Teil hat nur eine Aufenthaltsbewilligung B. Damit fallen für sie bei der Erwerbstätigkeit noch Quellensteuern an – im Kanton Aargau in dieser Lohnklasse ungefähr 200.- Franken. Damit sinkt das verfügbare Netteinkommen nochmals beträchtlich. Und wo netto 2800.- schon kaum zum Leben reichen, tun es 2600.- schon gar nicht. Dazu kommt, dass die Samstagsarbeit obligatorisch ist. Eine Woche hat damit oftmals 6 aufeinanderfolgende Arbeitstage. Viel arbeiten für extrem wenig Geld, also.
An der Grenze des Legalen – und darüber hinaus
Zalando bewegt sich mit den bezahlten Löhnen rechtlich gesehen im legalen Bereich. Das heisst aber noch lange nicht, dass die Löhne deshalb in Ordnung sind. Vielmehr weist dieser Umstand darauf hin, dass ein gesetzlicher Mindestlohn auch in der Schweiz dringend notwendig wäre.
Umso mehr braucht es einen öffentlichen Aufschrei und eine Skandalisierung solcher Löhne, die kaum zum Leben reichen. Die Verantwortlichen hören die Anschuldigung, sie würden Hungerlöhne bezahlen, nicht gerne. Im Gegenteil, im öffentlich diskutierten Fall von Arbon versuchten sich die Firmenchefs als Wohltäter zu positionieren, indem sie darauf hinwiesen, in einer eher strukturschwachen Region Arbeitsplätze geschaffen zu haben und Menschen, die bislang von der Sozialhilfe leben mussten, eine Alternative bieten zu können.
Dabei zeigen Beispiele aus dem Arbeitsalltag, dass sich die Verantwortlichen zuletzt um das Wohlergehen ihrer Angestellten kümmern – und dies auch über die legalen Grenzen hinaus. Uns sind Fälle aus Rothrist bekannt, bei denen nach Softwareproblemen ganze Arbeitsschichten nach Hause geschickt wurden. 100 Personen konnten also jeweils ihren Arbeitseinsatz nicht antreten. Den Temporären wurde dabei auch kein Lohn ausgezahlt, den Festangestellten die Stunden nicht angerechnet. Dies ist – im Gegensatz zu den Tieflöhnen – ein klarer Verstoss gegen die gesetzlichen Bestimmungen.
Organisieren, schützen, reagieren – wo sind die Gewerkschaften?
Dass solche klaren Verstösse nicht geahndet werden, hat viel mit der Struktur der Branche und dem Umfeld zu tun. Die sehr schnell wechselnde Belegschaft, die temporären Arbeitsverträge, die teilweise nur vorübergehenden Aufenthaltsbewilligungen der Arbeitenden sowie eine strukturelle Schwäche der Gewerkschaften erschweren eine Organisierung und Solidarisierung.
Dabei zeigen Beispiele aus Logistikzentren von Amazon in Deutschland, Italien und Polen, dass es durchaus möglich ist, auch in dieser Branche für bessere Löhne und andere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Denn auch wenn die grossen Online-Versandhändler gerne den Anschein erwecken, dass sie unangreifbar sind und ihre globalen Distributionsnetzwerke ständig neu ausrichten können – die Erfahrungen zeigen, dass dies nicht stimmt.
Die ingram direct verarbeitet für Zalando bis zu 20´000 Pakete, die MS direct wohl gegen 10’000 – am Tag. In all diesen Paketen finden sich Kleidungsstücke, die jemand in der Schweiz bestellt, dann aber für nicht passend befunden und zurückgeschickt hat. Ohne die Arbeiter*innen von Rothrist und Arbon funktioniert das System Zalando in der Schweiz nicht.
Bild: flickr.com