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Das Kino und die arabische Revolution

aus der Debatte 19 – Winter 2011/2012

Viel hat man gelesen über die andauernden Revolutionen in diversen arabischen Ländern. Aus kultureller Sicht wurde jedoch wenig berichtet. Der tunesische Filmschaffende Ridha Tlili liefert seine Überlegungen zum vergangenen und aktuellen Filmschaffen in arabischen Ländern.*


«Wenn das Volk eines Tages leben will, so muss das Schicksal antworten, so muss die Dunkelheit weichen, so müssen die Ketten brechen.»
Diese Verse sang die tunesische Bevölkerung 1956 gegen die Kolonialmacht. Die Botschaft war klar: «Raus aus unserem Land, wir wollen Freiheit, zieht euch zurück und lasst uns in Frieden leben.» Nun, nach 55 Jahren Unabhängigkeit, erklang das Lied erneut in Tunesien.
Im Unterschied zu damals ist derjenige, der heute die demonstrierende Bevölkerung beschiessen liess, kein Kolonialist sondern ein Einheimischer, der das gleiche kollektive Gedächtnis mit uns teilt. Ich frage mich, ob die tunesischen Filmschaffenden die Realität des Landes wirklich spiegelten, oder ob sie eher Propaganda und Illusionen verbreitet haben.
Es sind solche Fragen, die in mir aufsteigen, wenn ich ein sechs-jähriges Mädchen im Film «Die Revolution in den Augen der Kinder» sehe. Sie sagt: «Ich hasse die Polizei… Ich will leben, ich will nicht sterben, ich will, dass wieder Ruhe einkehrt.»
In der Zeit unter Ben Ali kontrollierte die Polizei die kleinsten Regungen. In einem Polizeistaat wird sogar das eigene Atmen registriert. Alles ist verdächtig und es herrschen, wie im Film «Ayakan», Zweifel und Verstörung über das Leben der Menschen. Schweigen muss man, natürlich, aber darüber hinaus auch noch Angst haben.
Mehrheitlich wurden Filme, die unter dem Regime Ben Alis gedreht wurden, staatlich subventioniert. Sie erzählen Geschichten aus der Zeit vor der Unabhängigkeit oder Autobiografisches. Es ist eine Flucht in die Vergangenheit.

Frauen überwinden Hindernisse

Die tunesische Schauspielerin Rabiaa Ben Abdallah spielte jeweils die Hauptrolle in den Filmen «Zeit der Männer» von Mufida Tlatli und «Blume des Vergessens» von Selma Baccar. In beiden Geschichten sucht sie sich von Traditionen zu befreien und Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden.
Das Bedürfnis nach Liebe und Ruhe ist in beiden Filmen zentral, wenn auch in verschiedener Weise. In «Blume des Vergessens» findet sie in einer psychiatrischen Klinik Schutz, in die sie wegen Haschischsucht eingeliefert wurde. In «Zeit der Männer» geht sie den umgekehrten Weg, zurück zu ihrem Ursprung.
Tunesische Journalisten haben viel über die beiden Filme geschrieben, und fanden zahlreiche Parallelen zur heutigen Zeit. Die Frauen in Tunesien kämpfen noch immer für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber der Macht der Männer.
Rechtlich sind zwar einige Fortschritte erzielt worden, jedoch reicht dies nicht aus, um die Mentalitäten zu verändern. Es braucht einen genaueren Blick auf die Lage der tunesischen Frauen. Der Blick der Frauen auf die weibliche Lebenssituation wurde unter ästhetischen Gesichtspunkten untersucht, auch wenn die Geschichten sich oft wiederholen und teils orientalistische Vorstellungen über die tunesische Gesellschaft reproduzieren, die längst nicht mehr stimmen für diese im schnellen Wandel begriffene Welt.
Das tunesische Filmschaffen brachte knapp 100 Spielfilme hervor. Den Anfang machte Omar Khlifi 1966. Auch in seinem späteren Werk ist der Einfluss der Unabhängigkeitsbewegung unübersehbar. Seine Filme sind eher romantisch geprägt. Es kommen immer lange musikalische Szenen mit einem Sänger vor, wie in den kommerziellen ägyptischen Filmen der Zeit.

Nach der Unabhängigkeit kommt die Propaganda

Omar Khlifi konnte die Komplexität der Lage nach der Unabhängigkeit nicht wirklich erfassen. Er konnte das Schicksal der wahren Rebellen in verschiedenen Gegenden Tunesiens, nachdem Bourguiba an die Macht gelangte, nicht wiedergeben. Bourguibas Nachfolger Ben Ali setzte auf die gleiche Politik der Repression und Ungerechtigkeit.
Und in einer solchen benachteiligten Region geschah am 17. Dezember 2010 die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi. Der Funken seiner rebellischen Seele verbreitete sich über das ganze Land. Das Volk trug Fahnen und verlangte eine echte Unabhängigkeit – nicht jene der Filme von Omar Khlifi.
In Algerien waren die ersten Filme Taten des Widerstands. Das algerische Filmschaffen hat heute noch eine führende Rolle für die arabischen Länder inne. Es entstand aus dem Unabhängigkeitskrieg. Manche Filmschaffenden beteiligten sich am Kampf und bezahlten mit ihrem Leben. Die Filme überlebten als Negative versteckt in anderen Ländern wie Jugoslawien, um das Material von der kolonialistischen Zerstörung zu schützen.
Im Film «Schlacht um Algier» sieht man am Schluss, wie die französische Armee auf Demonstrationen schiesst. Auf dem Trottoir liegen Leichen, jedoch weichen die Demonstrant_innen nicht zurück. Sie schreien: «Verlasst unser Land!» Eine Aufforderung, welche die Kolonialmacht nur schwer akzeptieren konnte.
Nach der Unabhängigkeit haben algerische Filmschaffende eher persönliche Geschichten erzählt. In «Omar Gatlatou» zeigt der Regisseur Merzak Alouach eine Hauptfigur, die die Zuschauenden direkt anspricht und Teile seines Lebens erzählt, eines ganz normalen Lebens, das sich langsam entfaltet.
Der Darsteller spaziert in den Strassen von Algier, sieht Häuser und Büros, hört Musik, sucht die Liebe, langweilt sich – und ich langweile mich dabei auch. Vielleicht sind diese Autorenfilme mit der Zeit etwas langweilig geworden, in denen es vor allem um die persönliche Befriedigung geht. Danach fragt man sich: Warum lebt die Hauptfigur denn ein solches Leben? Dass dieses Leben verloren ist, was ist der Nutzen davon? Welches Anliegen vertritt es?

Für eine Revolution der Bilder

Im Film «Inland» von Tariq Teguia lädt uns die Figur des Malek zu einer Reise in eine abgelegene Region Algeriens ein. Von Beruf ist Malek Topograph. Wir überqueren mit ihm Minenfelder und streichen durch verbrannte Wälder, Folgen des Bürgerkriegs der 1990er Jahre. «Inland» schafft der Leere und der Stille Raum. Der Regisseur zeigt uns die Realität des Algeriens von heute, aus einer tief empfundenen persönlicher Sicht.
Andere algerische Filmschaffende zeigen ebenfalls ein persönliches Universum. Khaled Ben Issa ist ein gutes Beispiel dafür. Seine Filmsprache mischt Realität mit Surrealem, um Algerien nach dem Bürgerkrieg darzustellen. Er filmt das Unbestimmte, das Schwankende. Man hört von einem Attentat, die Menschen fliehen, ausser einem alten Herrn, der ganz ruhig auf seinem Balkon verbleibt. Diese Einstellung erinnert an ein algerisches Sprichwort: «Im ausgetrockneten Flussbett verbleiben nur die Kieselsteine.» Der alte Mensch steht vielleicht für eine ganze Generation, die Algerien verteidigt hat und noch immer Widerstand gegen die Zerstörung übt.
Sehr präsent ist die Realität auch im ägyptischen Film «Chaos» von Khaled Youssef und Youssef Chahine. Der Streifen stellt die Grausamkeit Ägyptens dar, wo die korrupte Macht ihre Privilegien um jeden Preis verteidigt, fern von jeglichen ethischen Überlegungen oder moralischen Werten. «Chaos» zeigt, dass Film manchmal die Zukunft voraussagen kann. Die Umwälzung in Ägypten entstand nicht aus dem Nichts. Es war bereits alles im Regime angelegt, was sein Ende herbeiführte. Khaled Youssef und Youssef Chahine hatten die Hellsichtigkeit, diese nahende Realität zu spüren.
Ein weiterer Filmschaffender aus Ägypten, Ibrahim Batout, steht für Kino in Ausnahmezeiten. Er sagt: «Lieber mache ich Filme, die technisch nicht hervorragend sind; Hauptsache, es gibt diese Filme.»
Sein Werk «Eyes of Sun» zeigt das Leiden der Kinder und die Ungerechtigkeit der Macht. Der Film ist eine Reise zwischen den Vororten von Kairo und dem Irak, wo alle Kinder gesundheitlich geschädigt sind oder infolge des Kriegs an Krebs leiden. Unabhängiges Kino, das gerade erst geboren wird.
Ägypten, Algerien, Tunesien: In allen drei Ländern versucht eine neue Generation von Filmschaffenden, die Realität näher einzufangen. Ihr Kampf für den unabhängigen Film überwindet exotische Klischees und Propaganda.
So viele Bilder zur jüngsten Revolution gingen um die Welt, von Laien mit ihren Handys oder Videokameras aufgenommen. Damit zeigten die Menschen, was wirklich vor Ort geschieht, und brachen das Informationsmonopol des Staates. Heute besteht die Hoffnung, dass die Revolution auch die Bilder erfasst, und dass diese Bilderrevolution der realen in nichts nachstehen wird.
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* Ridha Tlili sprach am 19. Oktober 2011 im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Nordafrika in Bewegung» im Stadtkino Basel, im Anschluss an die Aufführung seines Filmes «Ayankan».
 

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