Die Olympischen Spiele in Pyeongchang gingen gestern, 25. Februar 2018, zu Ende. Auch in der Schweiz haben Millionen diesen Sportevent verfolgt. In Kommentaren, die sich gegenseitig an Patriotismus überbieten, wird nun die Leistung der Schweizer Sportler*innen, welche 15 Medaillen gewonnen haben, bilanziert. Dabei wird deutlich, dass der Sport Ausdruck einer allgegenwärtigen Leistungskultur ist. Es ist deshalb wichtig, über die Zusammenhänge von Sport und Kapitalismus nachzudenken. (Red.)
von Yaak Pabst, aus marx21.de
Die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang locken Millionen Menschen vor die TV-Schirme. Ob Biathlon, Rodeln oder Skispringen: Die Übertragungen von ARD und ZDF erzielen Einschaltquoten mit einem Marktanteil von teilweise bis zu 44 Prozent. Die starken Quoten und Marktanteile zeigen, dass die Zuschauer von Beginn der Spiele an mitfiebern. Auch andere Sportgroßereignisse wie die Fußball-Weltmeisterschaften erzielen hohe Zuschauerzahlen und TV-Einschaltquoten. Der aktive Sport erfreut sich ebenfalls größter Beliebtheit. In Deutschland treiben rund 33,8 Millionen Erwachsene Sport im Verein oder Betrieb, schwitzen im Fitnessstudio oder joggen und walken. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist der Anteil der aktiven Sportler an der erwachsenen Bevölkerung Westdeutschlands von gut 40 auf über 54 Prozent gestiegen.
Sport ist mehr als ein Hobby
Weil Sport Millionen begeistert, ist er mehr als nur ein Hobby – Sport ist »Big Business«. Die Sportausrüster in aller Welt setzen jährlich etwa 90 Milliarden US-Dollar um, davon allein 29 Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Schuhen. Die Fußball-Weltmeisterschaft wird von dem millionenschweren Weltfußballverband FIFA organisiert. Dieser konnte laut dem jüngsten Geschäftsbericht im Jahr 2014 einen Gewinn von 141 Millionen US-Dollar verzeichnen. Allein durch die Vermarktung der weltweiten Fernsehrechte an der letzten Männer-Weltmeisterschaft in Brasilien nahm die FIFA nach eigenen Angaben fast 2,5 Milliarden US-Dollar ein.
Bei der WM 2006 in Deutschland haben multinationalen Konzerne wie Adidas, Coca-Cola, Deutsche Telekom, MasterCard und McDonalds im Schnitt etwa 26 Millionen Euro gezahlt, um offizielle Sponsoren zu werden. Auf diese Weise kauften sich diese Unternehmen einen Teil der WM und konnten über deren Durchführung mitbestimmen. Die Großkonzerne erhielten zum Beispiel viele Tickets, die nicht mehr direkt an die Fans verkauft, sondern an Geschäftskunden und das eigene Management verschenkt wurden. Oder sie wurden per Gewinnspiele an Kunden weitergegeben. Die Sponsoren nutzten auf diese Weise die Fußballbegeisterung für ihre Marketingzwecke aus. Aber nicht nur die Sponsoren profitieren. Im Umfeld der WM werden Milliardenbeträge in Infrastruktur und Stadionbau investiert. In Südafrika sind es nach Angaben des Botschafters des Landes fünf Milliarden Euro.
Der Körper wird zur Ware
Diese Verbindung von Sport und Kapitalismus ist offensichtlich, eine andere weniger. Denn der Kapitalismus beeinflusst nicht nur die Vermarktung des Sports, sondern er durchdringt auch die Art und Weise, wie dieser betrieben wird. Am deutlichsten ist dies beim Leistungssport. Dort herrschen »Arbeitsbedingungen« wie im 19. Jahrhundert vor: hartes tägliches Training mit dem Ziel, den jeweiligen Gegner in der Konkurrenz zu übertreffen und zu besiegen. Die kapitalistische Maxime, sich auf dem Markt in Konkurrenz zu anderen zu behaupten, spiegelt sich hier wider. Leistungssport wird betrieben, um Spitzenleistungen im internationalen Maßstab zu erzielen. Der Körper der Athleten wird zur Ware – zur exakt vermessenen Ware.
Es entscheiden Hundertstelsekunden über Sieg oder Niederlage, über einen Platz auf dem Medaillentreppchen oder den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Leistungssportler befinden sich unter totaler Kontrolle, im Training und im Wettkampf. Permanent wird ihre Leistung ge- und vermessen: Wie viele Kilometer hat Thomas Müller während des EM-Finales zurückgelegt? Ist er hauptsächlich gespurtet oder bloß getrabt? Wie viele Ballkontakte hatte Frank Ribery? Wie viele Zweikämpfe hat Lionel Messi gewonnen?
Konkurrenz über alles
Nur derjenige, der die Leistung hält, bleibt im Kader. Das gilt im Fußball wie bei anderen Sportarten. Die Zahlen, Daten und Fakten bieten Vergleichswerte, mit denen die Konkurrenz innerhalb der Teams angeheizt wird. Der Druck auf die Spieler, noch bessere Leistungen zu erbringen, steigt. In diversen Sportarten, etwa dem Kunst- und Geräteturnen, werden »Talente«, gerade weil die Anforderungen so hoch sind, bereits im Kindergartenalter mit schwerem Training belastet. Vier bis sechs Jahre tägliches Training sind erforderlich, wenn die Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren Höchstleistungen vollbringen sollen. Vereine und Sportverbände haben extra Internate, Sportschulen und spezielle Förderprogramme, um einen Kader für den Spitzensport zu akkumulieren. Diejenigen, die sich später durchsetzen, sind also selten die »Besten«, sondern vor allem die Diszipliniertesten.
In den USA trägt der Wettkampfsport etwa in den Highschools und Colleges seit Jahrzehnten wesentlich zu den Einkünften der Anstalten bei. Sponsoren wenden sich bevorzugt den Schulen und Universitäten zu, deren Mannschaften in den Schülerligen die auffallendsten Erfolge produzieren. Die Zahl der wettkämpfenden Mannschaften beeinflusst auch die Höhe der staatlichen Zuschüsse. Dabei geht es um Millionen. Für den schulsportlichen Konkurrenzkampf halten sich die US-Anstalten einen Stab von Berufstrainern. Von knapp 37 Millionen US-amerikanischen Schülerinnen und Schülern unter 14 Jahren beteiligen sich mindestens vier Millionen an den Wettkampfprogrammen in 27 verschiedenen Sportarten. Doch 90 von 100 Jungathleten erreichen niemals das höchste Leistungsniveau. Über die schweren körperlichen und seelischen Entwicklungsschäden von Spitzensportlern und solchen, die es werden wollten, wird nur wenig berichtet.
Disziplin, Drill und Unterordnung
Bei Jugendlichen und Kindern ist vor allem das Rückgrat und der Bewegungsapparat gefährdet. Ein Beispiel aus dem Turnen: Mit neun Jahren war Ulrike Weyh aus Itzehoe Jugendmeisterin geworden. Mit 16 Jahren und nach 8000 Trainingsstunden trieben Schmerzen die Turnerin zum Sportarzt. Diagnose: Die Lendenwirbelsäule war beschädigt, die »Turnkarriere« damit beendet.
So geht es vielen. Hinzu kommen Disziplin, Drill und Unterordnung – wesentliche Bedingungen, damit ein Kind überhaupt in die Förderprogramme der nationalen Sportverbände aufgenommen wird. So erklärte die Berliner Turnerin Yvonne Haug 1983 nach ihrem Rücktritt aus dem deutschen Olympiakader: »Ich habe etwas dagegen, wenn Funktionäre über unseren Kopf hinweg entscheiden. Wir sind es doch schließlich, die sich quälen müssen, um die Leistung am Gerät zu bringen, nicht die Herren im blauen Blazer. Aber als Turnerin kommt man sich manchmal wie eine Schachfigur vor, die hin und her geschoben wird, ohne sich dagegen wehren zu können.«
Die Ausrichtung des Sports auf den unbedingten Erfolg, den Sieg über den Gegner, wirkt auf das Verhalten der Sportler selbst zurück. Der Sportwissenschaftler Gunter A. Pilz befragte mehr als 6000 Jugendfußballer und kommt zu dem Schluss: »Je länger die Jugendlichen im Verein aktiv sind, desto eher sind sie bereit, Regelverstöße im Interesse des Erfolges nicht nur zu akzeptieren, sondern auch nicht mehr als ›unfair‹ zu bezeichnen. Im Laufe ihrer leistungssportlichen Entwicklung lernen Jugendliche, immer ausdrücklicher das Gebot des Erfolges über das Fairnessprinzip zu stellen.«
Doping, Drogen und Schmerzmittel
Selbst innerhalb eines Fußballteams steht die Rivalität um die Aufnahme in die Stammelf in einem permanenten Widerspruch zum Mannschaftserfolg. Um sich in dieser Konkurrenz durchsetzen zu können, kann man nicht bloß auf die eigene Leistung vertrauen. Doping ist die unausweichliche Begleiterscheinung des Leistungssports. Im Gespräch mit dem Fußballmagazin 11 Freunde berichtet Hans Dorfner, ehemaliger Nationalspieler und Bundesligaprofi von Bayern München: »Ich habe mir vor jedem Spiel zwei, drei Aspirin reingehauen und dann lief es. Zum Schluss hat mein Körper gegen jedes Medikament rebelliert. Ich hatte richtige Allergieschocks, habe auf alle Lebensmittel und Medikamente allergisch reagiert. Mein Immunsystem war einfach fertig. Ich hatte meinem Körper zu viel zugemutet.« Kein Einzelfall. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2002 etwa 100 Millionen Euro für illegale Dopingmittel ausgegeben. Bluttransfusionen, Steroide und Kokain sind genauso weit verbreitet wie Epo, Cera oder Schmerzmittel. Je mehr sich Erfolg in Profit umrechnen lässt, desto größer der Druck auf die Sportlerinnen und Sportler.
Die Art und Weise wie der Kapitalismus den Sport durchdringt steht im krassen Gegensatz zu den Bedürfnissen der Menschen. Nach einer Ifas-Umfrage unter 3372 Sporttreibenden betätigen sich nur 13 Prozent der Befragten sportlich zur Wettkampfvorbereitung. Für die meisten geht es in erster Linie um körperliche Bewegung und Spaß. Menschen treiben Sport, weil sie gesund bleiben oder werden wollen, sie dadurch in Kontakt mit anderen Menschen kommen und einen Ausgleich zur Arbeit suchen.
Arbeit im Kapitalismus
Das ist kein Wunder. Denn Arbeit im Kapitalismus ist nicht selbstbestimmt, sondern entfremdet. Karl Marx schrieb über die Lohnarbeit: »Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich«. Und weiter: »Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs Äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt.« An anderer Stelle erklärte er: »Die Zeit ist alles, der Mensch nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit.« Seit Marx‘ Zeiten hat sich die Arbeitswelt natürlich stark verändert. Viele Menschen arbeiten nicht mehr in der Fabrik, sondern im Büro. Doch auch heute kontrollieren die Beschäftigten weder die Produkte ihrer Arbeit noch ihre Arbeit selbst. Auch die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen stellen nicht die Bedürfnisse des Menschen ins Zentrum, sondern seine Verwertbarkeit für das Unternehmen.
Hoher Termindruck, Berge von Arbeit, Überstunden und die Angst um den Job bestimmen den Alltag in Büros, Geschäften und Fabriken. Diese Arbeitsbedingungen sind sowohl bei Arbeitern als auch bei Akademikern häufig Auslöser von Erschöpfungskrankheiten bis hin zur Depression. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO wird die Depression im Jahr 2030 diejenige Krankheit sein, die die Menschen nach Aids am meisten belastet. Am häufigsten klagen die Berufstätigen über Verspannungen im Schulter/Nacken-Bereich, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Nervosität, innere Unruhe.
Das Spiel verkümmert zum Zweck des Siegens
Sport ist für viele eine willkommene Abwechselung. Doch der Kapitalismus verzerrt das menschliche Bedürfnis nach sportlicher Betätigung und die Freude am gemeinsamen Spiel. Denn das Spiel ist eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird. Ein Großteil der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung von motorischen Fähigkeiten findet durch Spielen statt, beim Menschen ebenso wie bei zahlreichen Tierarten. Natürlich braucht ein Spiel, damit es auf einer höheren Ebene gespielt werden kann, Regeln. Je komplexer das Spiel, desto wichtiger ist Training beziehungsweise das Erlernen der Fähigkeiten, die für das Spiel notwendig sind. Die verschiedenen Sportarten haben alle Elemente von Spiel. Doch bei Leistungssport unter kapitalistischen Bedingungen stehen die Konkurrenz, der Wettbewerb und der Erfolg im Zentrum. Das Spiel verkümmert zum Zweck des Siegens. Dass es auch anders geht, zeigen andere, nichtkapitalistische Kulturen. So beschreibt der Ethnologe Jacques Meunier ein Sportspiel eines Indianerstamms im Amazonas: »Der Spieler der einen Punkt erzielte, wechselte automatisch das Team. So wurden die Gewinner geschwächt und die Verlierer gestärkt.« Auf diesem Weg wird der Spielstand zur Nebensache. Das Spiel rückt wieder in den Vordergrund.