Menu Schließen

Frankreich: Die freie Kommune der Uni Tolbiac

Inmitten der zahlreichen sozialen Kämpfe, die gegenwärtig das politische Geschehen Frankreichs prägen, wurde die besetzte Universität von Paris I-Tolbiac zu einem wichtigen Zentrum der Widerstandsbewegung. Trotz massiver Polizeirepression gegen zahlreiche Uni-Besetzungen und trotz Angriffe von Rechtsextremen konnte sich die „freie Kommune von Tolbiac“ als Ort behaupten, wo verschiedene Kämpfe zusammenlaufen. (Red.)
von Pablo Morao, aus revolutionpermanente.fr
Am 26. März hat die Mobilisierung der Studierenden von Paris 1-Tolbiac mit der Besetzung des Universitätsgebäudes eine neue Dimension erhalten. Durch die Radikalisierung ihrer Aktionsformen wollten die Studierende von Tolbiac nichts weniger als ein «Zentrum der Protestbewegung gegen die Selektion [an den Hochschulen]» für den ganzen Raum von Paris aufbauen. Dieser Anspruch ist jetzt weitgehend erfüllt, weil Tolbiac nun ein Ort geworden ist, an welchem verschiedene Kämpfe gegen die zahlreichen Gegenreformen der Regierung zusammenlaufen und an welchem sich Eisenbahner*innen, Pöstler*innen, Professor*innen, Intellektuelle und Studierende treffen.
Auch wenn eine solche Radikalisierung im ganzen Land anhand zahlreicher Uni-Besetzungen zu beobachten war, stand Tolbiac letzte Woche besonders stark im Fokus der medialen Berichterstattung. Mehrere wichtige Errungenschaften haben die letzten Tage geprägt, was zeigt, dass sich die Protestbewegung klar zugunsten jener Studierenden entwickelt, die die Universität besetzen.

Ein Erfolg gegen die Medien

Seit Beginn der Besetzung hat die Frage nach dem Umgang mit Journalist*innen zu wichtigen Debatten in Tolbiac geführt. Seit dem ersten Tag der Besetzung waren die Besetzer*innen mit dem Angriff des Privatsenders TMC konfrontiert. Dieser hatte fälschlicherweise in seiner täglichen Infotainment-Sendung «Quotidien» die Protestbewegung mit antisemitischen Beschädigungen an einem Lokal des UEJF (Gewerkschaft der jüdischen Studierenden) in Verbindung gebracht. Als Reaktion darauf haben die Studierende kurzfristig eine Kontrolle der Medien organisiert.
Seither sind Videokameras in den Räumlichkeiten der „Freien Commune“ von Tolbiac verboten, während Journalist*innen der Schriftpresse nur an bestimmte Uhrzeiten empfangen werden. Um über die Bilder aus der Besetzung eine Kontrolle zu haben, haben die Aktivist*innen im Rahmen der Besetzung eine selbstorganisierte Medienarbeit entwickelt. Ein erster Erfolg bildet dabei die selbstorganisierte Pressekonferenz, die am Donnerstag veröffentlicht wurde und in den sozialen Medien mit 400’000 Aufrufen viral ging. Zahlreiche landesweite Medienhäuser haben die Inhalte der selbstorganisierten Pressekonferenz übernommen.
Die Studierenden haben viel Spot von den Leuten geerntet, die unfähig sind, den Wert einer selbstorganisierten Medienproduktion zu erkennen. Dennoch ist es als Erfolg zu sehen. Denn die besetzenden Studierenden haben dadurch bewiesen, dass sie die Kontrolle über die Bilderproduktion behalten und sich als unumgängliche Medienquelle durchsetzen können. Heute ist das Kräftemessen, das gegenüber den Journalist*innen gewonnen wurde, der erste Ausdruck von einer Selbstbehauptung der Studierendenbewegung. Kein*e Medienschaffende*r kann mehr die Bedeutung der Bewegung an den Universitäten bestreiten. Ausserdem beweist die vielfach geführte Diskussion über die Ungültigkeitserklärung der Prüfungen, dass die sozialen Kämpfe gegen das Massnahmenpaket von Dominique Vidal [Bildungsministerin] landesweit Beachtung finden. [Die protestierenden Studierenden fordern, dass die Prüfungen wegen den Streiks als nichtig erklärt werden oder dass alle eine Durchschnittnote erhalten, Anm. d. Red.]

Polarisierung der Studierenden

Selbst wenn die Studierendenbewegung unumgänglich geworden ist, ist sie selbstverständlich nicht unumstritten. Insbesondere die Regierung und die Verwaltung der Universitäten scheinen entschlossen zu sein, die politisch aktive Jugend zu ersticken. So verbreiteten sie während der ganzen Woche Worte der Verleumdung, um die Besetzung von Tolbiac zu diskreditieren.
Edouard Philipp [Frankreichs Premierminister], der in seinem grosszügigen Umgang mit Klischees nicht den üblichen Geiz zeigt, behauptete am Freitag, dass die Bewegung nur das Produkt «einer kleinen aktiven Minderheit [ist], welche von Linksextremen oft manipuliert wird». Der Premierminister schloss sich damit der FAGE an, ein Studierendenverein, der gegen die Blockierung der Universität ist und immer nur eine Minderheit der Voten in den Vollversammlungen bekommt. Im Gespräch mit der Zeitung Le Parisien zeigte sich der Verein entschlossen, gegenüber einer Minderheit standhaft zu bleiben, die als «sehr gewalttätig» bezeichnet wurde.
Frédérique Vidal, die Bildungsministerin, hat diesen Diskurs übernommen. Das zeigt deutlich, dass sie die realen Ursachen der Gewalt ausblendet, die die Studierendenbewegung seit dem 22. März heimsucht. In einem Interview mit der regionalen Zeitung Ouest France rief die Ministerin dazu auf, «das arbeitende Personal, die Studierenden, die immer noch die Kurse besuchen, das heisst die überwältigende Mehrheit, zu schützen». Dies, obwohl an den Universitäten von Montpellier, Strasbourg, Lille oder Nantes faschistische Angriffe gegen die Bewegung zunehmen.
In diesem Klima, in dem die besetzenden Studierenden klar die Zielscheibe einer Verleumdungskampagne sind, hat eine Gruppe von fünfzehn mit Motorradhelmen ausgerüsteten Rechtsextremen versucht, die Protestierende von Tolbiac einzuschüchtern. Dabei waren die Rechtsextremen mit Rauchbomben, Brechstangen und Pflastersteinen bewaffnet. Gegenüber den mehr als zweihundert Studierenden, die an diesem Abend bei der besetzten Universität präsent waren, scheiterte der Angriff schnell. Die Rechtsextremen mussten die Flucht ergreifen, ohne dabei einen von ihren Helmen sowie ein Transparent mit der Zuschrift « Fac Libre #StopBlocus » retten zu können (Deutsch: Befreit die Universität. Stoppt den Blokus). Sechs Angreifer wurden durch die Polizei festgenommen. Gegen sie wurde ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Wie die besetzenden Studierenden bei ihrer letzten selbstorganisierten Pressekonferenz bemerkten, muss der Angriff als «ein Moment der grossangelegten, vielfältigen Repression gesehen werden, mit der die Bewegung gegen die Selektion momentan zu kämpfen hat».
Bisher haben Regierung und Universitätsverwaltung vergeblich versucht, die Besetzung zu diskreditieren und Zwischenfälle zu produzieren, um eine Räumung vorzubereiten. Dagegen hat die massive Mobilisierung der Studierenden es geschafft, ein günstiges Kräfteverhältnis herzustellen. Dies führte dazu, dass die Polizei bislang von einer Räumung der Universität abgesehen hat. Das ärgert die rechtsgerichtete Studierendengewerkschaft UNI massiv. Sie hat eine einstweilige Verfügung beantragt, um die Räumung des besetzten Gebäudes anzuleiten.

Ein juristischer Erfolg

Vierundzwanzig Stunden nach diesem rechtsextremen Angriff ging es noch am selben Wochenende weiter. Am Samstag um Mitternacht teilte die Agentur Agence France Presse (AFP) mit, dass der Antrag der rechtsgerichteten Studierenden-Gewerkschaft UNI auf eine Räumung der Besetzung zurückgewiesen wurde.
Die rechtsgerichtete Gewerkschaft UNI ist dafür bekannt, 1986 ein gescheitertes Gesetz (loi Devaquet) zur Selektion beim Zugang zur Universität ins Leben gerufen zu haben. In ihrem Antrag brandmarkte sie pauschalisierend die Besetzung als «eine Tat von universitätsfremden Menschen» und kritisierte die «vereinzelte Gewalt in der Nähe von Tolbiac» sowie «antisemitische Inschriften». In Namen des «Rechts auf Bildung», der «Bewegungsfreiheit» und der «persönlichen Grundfreiheit» der Studierenden, die nicht am Streik beteiligt sind, verlangte die UNI in ihrem Antrag die sofortige Räumung des Protestzentrums durch die Polizei.
Der Antrag vermochte die Justiz anscheinend nicht zu überzeugen. Sie erwiderte, dass die Besetzung der Universität keine Notsituation darstellt und dass eine Räumung durch die Polizei daher nicht legitim sei. Die UNI kündigte darauf an, am Montag 9. April einen neuen Antrag zu stellen.
Solch ein juristischer Erfolg kann die Legitimität der Studierendenbewegung nur stärken. Dies macht eine zukünftige Räumung durch Polizeikräfte schwieriger.

Eine neue Woche von sozialen Mobilisierungen

Am Montag, 9. April 2018, fand eine neue Vollversammlung in der besetzten Universität von Paris I-Tolbiac statt. Nachdem letzte Woche eine zeitlich unbegrenzte Besetzung beschlossen wurde, wird nun die Vollversammlung der Studierenden zu einem Ort der kollektiven Diskussion über Aktionsformen werden. Damit die Studierendenbewegung weiter Fahrt aufnimmt, erscheint es wichtig, dass die Besetzung von Tolbiac als Ausgangspunkt für die Besetzung von anderen Standorten der Universität Paris I dient. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass sich alle Studierende an den Protesten gegen die Selektion beteiligen können. In einem Kontext, in welchem die Angriffe der Regierung auf massiven Widerstand durch Eisenbahner*innen und Studierende stösst, sind die Erfolge an der besetzten Universität von Tolbiac vielversprechend für den zukünftigen Lauf der Proteste.
Übersetzung von Daniel Narbo

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert