Die Verordnung von Dublin III, wie sie im Januar 2014 in Kraft getreten ist, gilt für die 28 Staaten der EU, sowie für Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Dublin III schreibt vor, wie Asylanträge und Anträge auf internationalen Schutz (sogenannten subsidiären Schutz) zu bearbeiten sind. Das Regelwerk hat zum Ziel, die Menschen in das Land zurück zu schieben, wo sie zuerst ihren Asylantrag gemacht haben. Somit verlagert es bewusst einen grossen Teil des «Aufwandes», der durch Asylanträge entsteht, auf die Staaten, die an den äusseren Grenzen der EU liegen.
von BFS/MPS
Wie Heuchelei die Wortwahl bestimmt
Wie in zahlreichen anderen Verfahren mit demselben Inhalt, versteckt sich im Dubliner-Abkommen die systematische Repression gegen die Asylsuchenden hinter einer beruhigenden Wortwahl, deren Eckpunkte wir hier exemplarisch auflisten:
• Menschenrechte werden erwähnt – dies jedoch nur auf rhetorischer Ebene;
• Garantien, die Familien und unbegleitete Minderjährige schützen sollen, werden nur lapidar erwähnt, um sie besser umgehen zu können;
• Die Garantien im Bereich der Rechtsmittel (Anfechtung einer administrativen Entscheidung) und der Rechtsschutzhilfe werden mit tausenden Einschränkungen versetzt, bis zur expliziten Möglichkeit, dass Asylsuchende in manchen Fällen diese Garantien verlieren;
• Die administrative Haft (in der Schweiz: ausländerrechtliche Haft) wird zwar beschränkt, aber unter Berufung auf den Begriff der Verhältnismässigkeit, der mehr als vage bleibt;
• Es ist zwar vorgesehen, dass Asylsuchende nicht in einen Staat abgeschoben werden, wo das Asylverfahren oder die Aufenthaltsbedingungen mangelhaft sind, oder wo Misshandlungen drohen…die dünnen Schranken, mit denen die Abschiebepraxis reguliert werden soll, sind jedoch weder automatisch wirksam, noch sind sie für den ausführenden Staat zwingend;
• Den Etappen des Asylverfahrens werden Fristen gelegt, was zwar eine Beschleunigung mit sich bringt, die aber sehr selten zu Gunsten der Asylsuchenden ausfällt.
Die Verordnung ist mit unzähligen Worthüllen verpackt, die den weitgefassten Ermessungsspielraum der Behörden kaschieren sollen. So heisst es zum Beispiel über die Abschiebungen: «Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, [ist es sicher zu stellen], dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.» Oder weiter zur administrativen Haft: «Die Haft sollte so kurz wie möglich dauern und den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismässigkeit entsprechen.»
Hinter der Heuchelei, die brutale Realität
Das Dublin-Verfahren findet in Räumen des Unrechts statt: in geschlossenen Einrichtungen, wo Willkür, Gehorsam und Resignation den Alltag des Personals prägen und wo Asylsuchende keine Mittel zur Verfügung haben, um ihre Grundrechte geltend zu machen. Für das Dublin-Verfahren sind zudem speditive Rhythmen kennzeichnend. Allerdings ist es in gewissen Fällen genau umgekehrt: die schleppende Bearbeitung der Dossiers macht das Überleben in den Haftlagern ebenso schwierig, wie die rasche Bearbeitung mit nachfolgender Ausweisung aus der Schweiz. Zwischen 2009 und 2014 haben die Behörden 320.000 Transfer-Entscheidungen nach Dublin entschieden, und 95.000 Transfers wurden tatsächlich vollstreckt. Dies bedeutet, dass Hunderttausende Menschen, mit ihren Familien und ihren Verwandten, in täglicher Angst vor einer Ausweisung gelebt haben. Diese Angst begleitet die Menschen nicht nur während des Transfer-Verfahren; sie prägt auch ihren Alltag im «Einwanderungsland». So ist die Erfolgsquote eines Asylantrages sehr stark vom Land abhängig, wo es bearbeitet wird. Um genauer zu sein: die Chance eine positive Antwort auf den Asylantrag (oder auf den Antrag auf internationalen Schutz) zu bekommen, kann je nach Land zwischen 90% und 15% variieren. Dasselbe gilt im Bereich der Sozialhilfe, wo manche Länder bereits nach einigen Wochen Aufenthalt keine Unterstützung mehr leisten, während andere Länder zwar Sozialhilfe gewährleisten, aber mit sehr unterschiedlichen Beträgen. Die 32 Staaten, die Dublin unterzeichnet haben, haben jeweils Berge an Reglungen und unterschiedlichen Rechtsprechungen, was dazu führt, dass vielerorts Ausnahme-Regime herrschen.
Das ganze Regelwerk von Dublin hat zur Folge, dass Asylsuchende eingeschüchtert und angeekelt werden. Das Dublin-System jagt den Menschen bewusst Angst ein, damit sie fernbleiben. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen hat in einer Studie über die Jahre 2008 bis 2012 festgestellt, dass 75% der Transfers gemäss Dublin-Verordnung nicht vollstreckt werden. Der eigentliche Zweck des Dubliner-Abkommens hat also viel mehr mit Abschreckung als mit „Effizienz“ zu tun.
Die Kriegsmaschinerie
Dublin ist eine Kriegsmaschinerie, die eng mit den anderen Mechanismen der europäischen «Asylpolitik» verzahnt ist. An diesem gesamteuropäischen System beteiligt sich die Staatsgewalt der Schweiz. Einige Beispiele dieser europaweiten, staatlichen Repression sind: Überwachungsdatenbanken mit physiologischen Merkmalen, Haftlager in und ausserhalb der EU (diese werden an Staaten «veräussert», die «Finanzhilfen» als Gegenleistung bekommen), Abschiebeabkommen (17 Abkommen durch die EU selbst und 150 Abkommen durch einzelne Mitgliedsstaaten von Dublin), Militarisierung des Asylwesens (nationale Grenz- und Küstenwache, Frontex, Europol, NATO), Mauern, Stacheldraht, Zäune, NATO-Draht mit seinen messerscharfen Schneiden, Entdeckungssysteme mit elektronischen Sensoren etc. All diese Sachen entsprechen einer politischen und auch ideologischen Mauer, die von den Regierungen, von den Kräften der extremen und weniger extremen Rechten sowie von den staatstragenden Linken errichtet werden. Hinzu kommt noch der so genannte Flüchtlingspakt EU-Türkei, der die Abschiebung von Migrant*innen in die Türkei vorsieht. Und dabei bedeutet die Türkei für Geflüchtete, die nach dem 20. März 2016 in Griechenland angekommen sind, ein regelrechtes no man’s land des «Asyls». Weiter sieht das Abkommen EU-Türkei vor, dass griechische und türkische Behörden zusammen die Ankunft von Migrant*innen verhindern, beziehungsweise dafür sorgen, dass diese in der Türkei bleiben. Was aus solch einer polizeilich-militärischen Aufgabenteilung resultiert, ist ein Krieg, mit seinen unzähligen Toten auf den Strassen des Exils und im Friedhof des Mittelmeeres: fast 3.500 Tote wurden seit Januar 2016 verzeichnet (diese tatsächliche Zahl liegt noch viel höher, aber niemand weiss wie hoch).
Dublin konnte von Anfang an nur die Zerstückelung des Asylrechtes herbeiführen. Dies sollte die NGOs zum Nachdenken bringen, die das Regelwerk unterstützt haben. Denn mittelfristig kann es nur zur einer morbiden Sackgasse führen. Die Regierungen waren im Stande das Scheitern von Dublin zu begreifen und vorauszusehen. Wenn man sich die Mühe gibt, die Dubliner Konvention von 1990 sowie die Verordnungen von 2003 und 2014 zu lesen, dann springt es in die Augen. Dabei ist die Analogie mit der Politik gegenüber den Erwerbslosen frappant: es geht eher darum, Erwerbslose selbst zu bekämpfen, indem man ihnen die Schuld gibt und „Missbräuche“ verfolgt, anstatt die Ursachen der Arbeitslosigkeit in den Blick zu nehmen. Diejenigen, die von Migrant*innen verlangen, «sie sollen in ihren Herkunftsländern bleiben dürfen», meinen eigentlich, «sie müssen dort bleiben, wo sie herkommen».
Und was bedeutet es in der Schweiz?
Die schlecht genannte Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat anscheinend verlauten lassen, das Dublin-System sei jetzt «durch die Ereignisse überholt». Die SFH stört sich anscheinend daran, dass sie zuvor Dublin ohne Zögern befürwortet hat. Auf ihrer Internetseite gibt es keine Spuren mehr über ihre Ja-Parole aus dem Jahr 2005 zur Teilnahme der Schweiz an Schengen/Dublin. Ebenso wenig steht etwas dazu im chronologischen Rückblick der Organisation.
Momentan sehen fast alle Regierungsinstanzen sowie fast alle Asylorganisationen die Verordnung von Dublin III kritisch, auch wenn es freilich aus unterschiedlichen Gründen geschieht. Demgegenüber verteidigt die Schweizer Regierung weiterhin Dublin, obwohl sie 2014 selbst feststellte, dass die italienischen Behörden wegen der beträchtlichen Zahl an Ankünften an der süditalienischen Küste nicht mehr im Stande sind, alle Migrant*innen in der Datenbank Eurodac zu registrieren. Eines ist klar: die Schweizer Behörden sind weiterhin darin bestrebt, das Regelwerk von Dublin umzusetzen. Hier ist es nicht die Sorge um Effizienz, die ausschlaggebend ist, sondern eine Politik, die auf einer Abschreckung der Asylsuchenden basiert, mit dem Ziel, sie von der Schweiz fern zu halten. Ferner beharrt die Regierung auf dem Dublin-Abkommen, um der Schweizer Bevölkerung zu vermitteln, ein Regime der Härte würde langfristig Früchte tragen.
Dahingegen wissen nur wenige Menschen, was für eine Hölle die Menschen durchmachen müssen, die gemäss Dublin-Verordnung abgeschoben werden. Und dass eine hohe Zahl unter ihnen illegal zurückkehrt, um dann 2, 3, 4 oder 5 Mal erneut abgeschoben zu werden. Dies geschieht durch das Mitwirken von unermüdlichen Behörden, die Ausgaben nicht scheuen, durch fleissige Beamte, die menschliches Leid ignorieren, durch Polizist*innen und Grenzwächter*innen, die Befehle ausführen, und dabei manchmal das Absurde wahrnehmen, aber die Augen zumachen. So wird ein menschenverachtendes System am Laufen gehalten. Dazu gehört auch die Komplizenschaft derjenigen, die sagen, «sie würden diese traurige Situation bereuen», aber danach weiterhin jede Verschärfung des Asylrechtes unterstützen.
Der Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM), Mario Gattiker, gibt in einem Interview offen zu, dass es momentan keine Notlage gibt: «Zurzeit sind wir weit weg [von einem Notfallszenario]: Die Zahlen sind tiefer als letztes Jahr.» Das SEM schätzt die Zahl der Asylgesuche auf 30.000 für das ganze Jahr, was nur 0,38% der Bevölkerung ausmacht. Dies hinderte Gattiker nicht daran, mit der Angst zu argumentieren: «Die Lage bleibt unberechenbar»! (NZZ, 13.07.2016 und 10.09.2016).
«Das Staatssekretariat für Migration verordnet Abschiebungen nach den Kriterien von Dublin in grossen Mengen, und dadurch wird mehrere Hundert Asylsuchende mit einer Abschiebung aus der Schweiz gedroht», schreibt der Theologe Pierre Bühler in der Neuenburger Tageszeitung L’Express. Zusammen mit anderen leistet er Widerstand, wie die Association Droit de rester in Neuenburg, das Kollektiv Solidarité Tattes (nach dem Namen von einer Unterkunft für Asylsuchende) und alle die sich in der Bewegung No Bunker/Stop Bunker in Genf engagiert haben, das Collectif R und seine Sympathisanten in Lausanne, das von Stadtrat David Payot sowie von den Gemeinderäten Léonore Porchet und Pierre Conscience unterstützt wird. Dazu kommen noch 55 Vereine, Parteien, Gewerkschaften und zahlreiche Einzelpersonen, die alle am 1. Oktober 2016 in Lausanne zur Demonstration aufrufen, damit das Asyl ein grundsätzliches demokratisches Recht bleibt. Die Grundprinzipien solch eines Asylrechtes, das es zu schützen und auszubauen gilt, sind in der Weiterentwicklung der Genfer Konventionen (1951, 1967) sowie in der Berücksichtigung von «gemischten Migrationsströmen» durch den UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR) verankert. Denn was «Flüchtlingskrise» genannt wird, sollte eher als eine Krise der Rechte von Migrant*innen bezeichnet werden, wo «die Logik der Kontrolle überdreht, weil sie angesichts der heutigen Realität der Migration ineffizient ist (Claire Rodier).»
• Die Behörden müssen sofort mit der Vollstreckung von Abschiebungen nach Dublin-Kriterien aufhören! Das Dublin-System gehört abgeschafft.
• Stoppt die Zwangsabschiebungen!
• Die administrative Haft muss abgeschafft werden!
• Gleicher Zugang zu Sozialhilfe – gleicher Lohn für gleiche Arbeit für alle Einwohner*innen des Landes!
• Um das Asylrecht zu schützen, ist ziviler Ungehorsam notwendig und legitim!
Flugblatt der BFS/MPS an der Demonstration «Für das Recht auf Asyl» am 1. Oktober 2016 in Lausanne.
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