Als weiteren Beitrag zur Asylgesetzrevision veröffentlichen wir die Stellungsnahme des Solidaritätnetzes Bern, welches Geflüchteten beratend zur Seite steht, wenn es alle anderen aufgegeben haben. Auch wenn sie keine Jurist*innen sind, so beraten sie Flüchtlinge – im Gegensatz zur vorgesehener Rechtsberatung in den Bundeszentren – in der Perspektive einer Unterstützung und nicht einer Verwaltung. (Red)
NEIN zur Asylgesetzrevision am 5. Juni
Wir sind eine kleine Organisation. Das Solidaritätsnetz Bern besteht aus einer Handvoll Menschen. Wir unterstützen Asylsuchende, abgewiesene Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Sans-Papiers im Kanton Bern — kurz: Menschen, die aufgrund ihres (fehlenden) Aufenthaltsstatus in der Schweiz in Not geraten sind. Zusammen erarbeiten wir Strategien um sich in den vielfältigen und oft komplizierten Lebenslagen zurecht zu finden. Wir denken gemeinsam über Möglichkeiten — rechtlich, sozial und politisch — nach, ein Sein in der Schweiz zu ermöglichen. In der Praxis heisst dies oft mühselige Rekurse, endlose Telefonate in das Dickicht der Institutionen, gemeinsames Durchdenken von Alternativen, bis zum einfach ‚Schwatz’ über die Welt und alles.
Die Gründe wieso Menschen sich entscheiden von einem Ort an einen nächsten Aufzubrechen sind endlos vielfältig. Es liegt nicht an uns zu werten und entscheiden. Oft treffen wir die Leute dann an, wenn sie selbst nicht mehr weiterkommen. An den Endstationen des heutigen Asylregimes: Gefängniszellen, Psychiatrien, der Strasse.
Viele von uns haben einen roten Pass mit einem weissen Kreuz, viele auch nicht. Viele von uns sind in der Schweiz sozialisiert und aufgewachsen — seit längerer oder kürzerer Zeit —, viele auch nicht. Uns alle vereint das Verständnis, dass Migration das ist, was schon immer jegliche Geschichte(n) ausgemacht hat: Veränderung. Und gemeinsam ist uns die Einsicht, dass unsere Schweiz, in der wir leben, durchzogen ist – und immer war – von Migration, von Menschen, Waren, Ideen, welche nach dem Lauf der Zeit kommen und gehen und die Schweiz zu dem gemacht hat was sie ist. Ein Blick auf unsere Wirtschaft, unsere Einkäufe, Musik, Sprache, Freunde führt dies immer wieder vor Augen.
Am 5. Juni stimmen jene mit Stimmrecht über eine weitere – es scheint die x-te – Asylgesetzrevision ab. Hier erlauben wir uns einige Gedanken dazu aufzuzeigen. Es ist nicht an uns auf dem Rücken von Asylsuchende über alltagspolitische Macht- und Grabenkämpfe zu rätseln. Wir wollen die Erfahrungen derjenigen aufzeigen, welche diese Veränderungen am eigenen Körper erfahren werden. Wir möchten aufzeigen, was wir in unserem Alltag erleben.
Wir sind keine Rechtsanwälte. Es ist daher nicht an uns, das Gesetz auf seine rechtliche Sattelfestigkeit zu prüfen, eine Arbeit, welche die Demokratischen Jurist*innen vortrefflich unternommen haben. Doch auch uns fällt auf, dass das Gesetz vieles nicht regelt. Vor allem Dinge, welche aus Sicht der Asylsuchenden zentral sind, nämlich all das “Wie genau wird denn das aussehen?” Die Bestimmungen müssen erst noch erlassen werden. Fest stehen erst diffuse abgekürzte Fristen — im Falle der Stellungnahme zum Entwurf — was bis jetzt das “rechtliche Gehör” war, sogar gar nichts erkennbares.
Alle sagen, dass auf die Erarbeitung der Verordnung gewartet werden müsse. Doch hier liegt die Crux, den damit schwingt in Klarheit gepackte Unsicherheit mit. Warten hat fundamental mit Unsicherheit zu tun. Es hat damit zu tun, dass Menschen in die Isolation gedrückt werden und jahrelang zum Ausharren verdammt werden. Ausharren; ein leeres Gefühl, sein Schicksal nicht mehr selber beeinflussen zu können, die absolute Entmündigung, die Brandmarkung: „Du interessierst hier niemanden!“ Die Ungenauigkeit, die Unvorhersehbarkeit, Ungewissheit, der wahrgenommene Zufall ist Teil des Asylregimes.
Auch der 5. Juni ändert daran nichts. Im Gegenteil.
Es wird viel wird diskutiert über dieses Warten, über die endlosen Wartezeiten, über ‘verlorene’ Jahre in Unterkünften, über ‘beschleunigte’ Asylverfahren. Das wichtige Pro-Argument scheinen die schnelleren Asylverfahren. Doch das Warten hat eine tiefere Bedeutung. Es ist nicht die Anzahl Tage welche Menschen, welche in unserem Büro Rat suchen, bedrückt. Es ist nicht die Anzahl Tage, es ist das Warten in seiner unbestimmten und unbekannten Natur, die Isolation und Unsicherheit welche sie begleitet. Zur Isolation kommen wir später, hier zuerst über Unsicherheit. So kriegen manche Syrier*innen einen F-Ausweis (politisch oder humanitär) andere ein B-Ausweis; oft in der selben Familie, oft unter Geschwistern. Man mag dieser Tatsache ihre Wichtigkeit entsagen, doch verschiedene Ausweise heissen immer auch verschiedene Ressourcen, Perspektiven und Realitäten. Der Unterschied zwischen F politisch oder humanitär kann auch schnell mal den Unterschied zwischen Stipendien oder nicht bedeuten, und somit zwischen Studium oder nicht. Die Beispiele für diese (gefühlte und erfahrene) Zufälligkeit sind endlos und strukturell. Nicht das endlose Warten ist der Punkt, sondern das der folgende Entscheid zum Beispiel auch stark abhängig ist vom zugewiesenen Mitarbeitenden des Staatssekretariats für Migration (SEM). Mit Glück werden die Asylgründe wirklich gehört, auf die eingereichten Beweise vertieft eingegangen, ein anderes Mal jedoch scheint der Negativbescheid durch der/die Sachbearbeiter*in schon aufgesetzt bevor die Befragung überhaupt stattgefunden hat.
Auch der 5. Juni ändert daran nichts. Im Gegenteil.
Ein Asylgesuch in der Schweiz ist durchtränkt von einem Gefühl des Misstrauens. An jedem Punkt wird einem nicht geglaubt: das Alter, das Herkunftsland, die Fluchtgründe, die Liebesbeziehung. An jedem Punkt warten Hürden: Mitwirkungspflicht, Verfahrensfristen, oder der dünne, unklar definierte Faden, an welchem die Glaubwürdigkeit gemessen wird. Ein Asylverfahren ist längst kein simples Gespräch. Asyl kriegt, wer die eigene Geschichte aufarbeiten, ausarbeiten, artikulieren und beweisen oder „glaubhaft machen“ kann, wenn das Erlittene oder Befürchtete den hiesigen Normen entspricht. Und auch wenn man den Lebensgang und die individuelle Verfolgung nach den Massstäben der Institutionen darlegen kann, wird das individuelle Recht mehr und mehr untergraben, da die Verfolgung immer aus dem richtigen Land, sogar aus der richtigen Provinz und zum richtigen Zeitpunkt, mit der passenden Anreise, geschehen muss. Die Lebensgeschichte zählt immer weniger, wir bewegen uns vom individuellen Recht auf Asyl weg zur unwilligen humanitären Aufnahme aufgrund des zwingenden Völkerrechts.
Auch der 5. Juni ändert daran nichts. Im Gegenteil.
Was bringt eine Beschleunigung, wenn die Praxis des SEM gleichbleibt, welches diese langen Verfahren bedingt. Einen Dublin-Entscheid kriegt man heute auch schon in weniger als 100 Tagen — auch sind es nicht die 20 Tage gestohlene Rekursfrist, die die Verfahren wirklich kürzen. Die Möglichkeit einer Rechtsvertretung schon vor dem Asylinterview, um zu besprechen, welche Beweise für die erlittene Verfolgung und die Identität zu beschaffen sind, wird es nicht geben. Dazu hat schon heute keine Rechtsberatungsstelle Zeit und für die ca. 1500.- Pauschale pro Fall kriegt man ja heutzutage knapp einen Rekurs. An den langen Verfahren ist das SEM selber schuld, welches mit den Entscheiden von Minderjährigen wartet bis diese Erwachsen sind, welches sich ein halbes Jahr Zeit lässt, um Beweise bei einer Auslandsbehörde abzuklären oder amtliche Dokumente auszustellen. Das SEM erhält ein Gesuch und braucht bis zum erstinstanzlichen Entscheid regelmässig weit über ein Jahr, ohne dass die asylsuchende Person irgendeine Schuld oder einen Nutzen tragen würde. Das Absägen von Rekurs- und Ausreisefristen wird daran überhaupt nichts ändern. Die langen Verfahren sind auch durch die hohe Zahl an Fehlentscheiden bedingt, Entscheide, welche von der höheren Instanz korrigiert werden müssen. Dies kann locker zwei Jahre kosten. Das bringt weder Sicherheit noch irgendetwas. Schon gar nicht für die Asylsuchenden, welche diese ganze Zeit in permanenter Unsicherheit verbringen müssen und dabei nicht mal wirklich arbeiten dürfen. Eine erzwungene Beschleunigung bringt nur, dass die komplizierteren Fälle aussenvor gelassen und die „einfacheren“ Fälle durchgedrückt werden. Und in den angesagten 80% die innerhalb von 140 Tagen einen Entscheid bekommen, ist das bereits offensichtlich: 80% werden durchgedrückt und 20% warten weiterhin Jahre. Die Zahlen verwischen eine gleichbleibende Situation.
Auch daran ändert der 5. Juni nichts. Im Gegenteil.
Beschleunigung sollte nicht heissen verkürzte Verfahrensfristen, unter einem Dach, einer Maschinerie gleich, sondern ein SEM, dass trotzdem faire Entscheide zu treffen fähig ist und nicht bedacht Wörter so umzudrehen um Anträge irgendwie speditiv ablehnen zu können. Es sollte heissen ein Verfahren zu garantieren, welches akzeptiert, dass Asyl ein individuelles Recht und keine kollektive Zuschreibung ist. Es sollte heissen, dass ein SEM anerkennt, dass Migration zu den Fundamenten, worauf es sich beruft, gehört und Studienvisas, Arbeitsbewilligungen, Familiennachzüge, Ehevorbereitungsvisa, Touristenvisas, etc. nicht nur jenen mit Beziehungen und Geld vorbehalten sein sollen.
Auch daran ändert der 5. Juni nichts. Im Gegenteil.
Die Auswertung des Testverfahrens hat ergeben, das 49.5% der Asylsuchenden, man nennt es ‚eine beträchtliche Minderheit’, sich nicht unabhängig durch die Rechtsvertretung vertreten fühlt. Sei dies, weil sie ihr Büro gleich neben den SEM Mitarbeitenden haben, weil sie indirekt vom SEM angestellt sind, weil das SEM sie entlassen kann, sie per Fallpauschale angestellt sind, sie bei den Anhörungen dabei sein „können“ aber nicht müssen, sie jederzeit das Mandat (auch bei laufender Rekursfrist) ablegen können oder weil sie entscheiden können ob ein Rekurs gemacht wir oder nicht (und nicht die betroffene Person)). Asylsuchende müssen sich zu 100% auf ihre Anwält*innen verlassen können, alles andere ist rechtsstaatlich inakzeptabel. Auch wenn die heutige Situation mit allen vollkommen überlasteten Rechtsberatungs- und Anlaufstellen untragbar ist, gewährleistet unsere Unabhängigkeit wenigstens ein Vertrauensverhältnis, Würde, und klare Tatsachen.
Auch daran ändert der 5. Juni nichts. Im Gegenteil.
Die Anzahl an Asylsuchenden in Durchgangszentren die Antidepressiva verschrieben bekommen ist beängstigend. Schlafprobleme, Depressionen, Suizidgedanken. Temesta, Stilnox, Trittico. Tag für Tag sind wir mit der Isolation von Asylsuchenden und Sans-Papiers konfrontiert, denn das Leben an der Aussengrenze der Schweizer Gesellschaft ist einsam. Diese Einsamkeit ist gewollt, der Zugang zu Freunden, zum Wohnungsmarkt, zu Beschäftigung und Integration, wird praktisch verunmöglicht. Das SEM kann dann von „einer gänzlich gescheiterten Integration“ sprechen. Was wir aber sehen ist struktureller Rassismus, tägliche Stereotypiserung, konstantes Misstrauen, welches die Menschen, welche in unser Büro kommen, alltäglich begleitet. Bereits jetzt sind viele DZ, NUKs und wie sie alle genannt werden, bereits weit draussen oder tief unter der Erde, da wo’s niemand sieht.
Auch daran ändert der 5. Juni nichts. Im Gegenteil.
Es kommen Lager. Worin bestehen die Vorzüge dieses Ansatzes? Welche historischen Vorbilder sehen die Verantwortlichen für diesen Vorschlag? Der vom SEM jederzeit eingeforderten ‚Integration’ jedenfalls scheint das kaum förderlich zu sein. Und der Isolation wohl eher auch nicht. Für uns nur stossend.
Ausreisefristen von 7 Tagen, bei je längerem Aufenthalt in der Schweiz abnehmende Rückkehrhilfe, die Liste der störenden Veränderungen wäre noch etlich länger.
Es bleibt was es ist, ein Gesetz gegen Asylsuchende.
Viele Organisationen, die mit und für Asylsuchende arbeiten legen ein „Ja“ in die Urne, weil die Asylgesetzrevision, beispielsweise für die Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) ein “sinnvoller politischer Kompromiss” sein soll: “Die Vorlage ist das Resultat eines langen Gesetzgebungsprozesses und ein guter, breit abgestützter Kompromiss, der dem Wesen der konsensorientierten schweizerischen Demokratie Rechnung trägt“, so steht’s auf der Website der SFH. Ein Kompromiss auf dem Rücken von Menschen, die nicht das Recht haben mitzureden. Ein Kompromiss zu Lasten derer, für die Organisationen wie die SFH, Solidarité sans frontières etc. zu sprechen behaupten. Ein Kompromiss, der schmerzt – nicht diejenigen die behaupten, dies sei ein wunderbarer, schweizerischer Kompromiss – sondern jene, die gar nicht gefragt wurden, dafür davon betroffen sind.
Es bleibt was es ist, ein Gesetz gegen Asylsuchende.
“Die oben genannten Verbesserungen wären angesichts der gegenwärtigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auf Jahre hinaus blockiert”, so das SFH weiter. Diese Verbesserungen sehen wir klar und deutlich, doch sie sind kleine Zückerchen in einen abgestandenen Kaffee. Wir sagen nicht ja oder nein zum SVP-Referendum, oder zur x-ten Asylgesetzverschärfung. Wir sagen NEIN zu einer Politik die auf Kosten anderer Angst schürt und mit unwürdigen Massnahmen Sicherheit suggeriert. Wir sagen NEIN zu einer Politik, die Menschen in Lager ein- und aus Europa ausschliesst. Wir sagen NEIN am 5. Juni.
Unser Nein in der Urne ist ein Ja für eine Asylpolitik, die Menschen nicht in Lager steckt, Vorgänge rationalisiert und Migration instrumentalisiert. Wir wehren uns gegen den Versuch, die Solidarität zu ersticken und Migration mit einer Rhetorik von naturgegebenen Wellen und Strömen gleichzusetzen. Die grundsätzlichen und sich polarisierenden Widersprüche eines maroden wirtschaftlichen Systems sind nicht mit Grenzen zu kaschieren. Die Fluchtursachen sind politisch, die Lösung nicht technisch.
Unserem Freund A. aus Tunesien, seit 17 Jahren Sans-Papiers in der Schweiz, bleibt das letzte Wort:
“Weisst Du, die spielen doch immer nur ihre Spiele mit mir, immer wieder ihre Spiele. Seit 17
Jahren.”
Wir bleiben solidarisch,
Solidaritätsnetz Bern