Vor gut zwei Jahren beherrschten Bilder von den Zuggleisen entlang wandernden Geflüchteten und mit Stacheldrahtzäunen verriegelten Grenzen die Schweizer Medien. Heute, eineinhalb Jahre nach der Schliessung der Balkanroute, ist diese Erinnerung bei vielen verblasst. Zeit also, das Kapitel noch einmal aufzuschlagen und zu fragen, welche Wirkung die Ereignisse bis heute auf die betroffenen Menschen haben.
von BFS Basel
Refugees welcome?
Als die sogenannte Balkanroute im Sommer 2015 zu einem viel benutzten Weg für Geflüchtete nach Europa wurde, waren die Reaktionen der meisten europäischen Länder erschreckend. Ein Land nach dem anderen verriegelte die Aussengrenze und verletzte damit nicht nur das Schengener Abkommen, sondern auch das Recht auf Asyl der Geflüchteten. Während diese Abschottungspolitik normalerweise weit ab von den Kernländern Europas auf dem Mittelmeer still und heimlich von statten geht, rückte die Öffnung der Balkanroute diese Realität mitten in die Öffentlichkeit der Schweiz. Neben Solidaritätsbewegungen konnten leider insbesondere rechtspopulistische und fremdenfeindliche Kreise Profit aus den Ereignissen schlagen. Die Geflüchteten wurden von den rechtskonservativen Medien zu einer unkontrollierbaren Masse hochstilisiert, die „wie ein Tsunami über Europa hinwegfegt“.
Tatsächlich haben verschwindend wenige der Geflüchteten, die über die Balkanroute nach Europa gelangten, die Schweiz erreicht. Die Asylstatistik vom Sommer 2015 zeigt dies deutlich. (1) So oder so ist das Schweizer Asylsystem in solchen Fällen durch das Dublin-Abkommen vor einer grossen „Belastung“ geschützt. Die Verteilung der Geflüchteten wird in erster Linie nach dem Kriterium der Einreise in europäisches Gebiet aufgeschlüsselt, weshalb bisher insbesondere die ans Mittelmeer grenzenden Länder Italien, Spanien und Griechenland unverhältnismässig stark belastet wurden. Mit der neuen Fluchtroute über den Balkan rückten plötzlich auch andere Länder an der Schengener Aussengrenze in den Fokus. Dies zeigt der rasante Anstieg an Dublin-Verfahren mit Zuständigkeit von Ungarn, Slowenien oder Kroatien. (2)
Während die Zustände für Geflüchtete in Griechenland schon länger derart prekär und unmenschlich sind, dass die Schweiz keine Asylsuchenden mehr dorthin zurückschaffen darf, werden die meisten Geflüchteten im Rahmen des Dublin-Abkommens nach Italien zurückgeschoben. Mit jährlich über 1000 Rückschiebungen steht Italien ganz oben auf der Vollzugsstatistik. (3) Trotz zahlreicher Berichte von Obdachlosigkeit und systemischen Mängeln für Asylsuchende in Italien, hält das Staatssekretariat für Migration (SEM) bislang an dieser Praxis fest. Zumindest ist das SEM seit einem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs EGMR verpflichtet, für besonders verletzliche Personen, insbesondere Familien mit Kleinkindern, eine Unterkunft in Italien zu garantieren. (4)
Dublin fordert weitere Opfer
Mit der Verschiebung der Fluchtroute vom Mittelmeer hin zum Landweg über den Balkan, offenbarten sich auch dort an den Aussengrenzen des Schengenraums desaströse Praktiken und unmenschliche Verhältnisse für Geflüchtete. Insbesondere Ungarns Asylsystem kollabierte regelrecht aufgrund der steigenden Belastung und das Land reagierte darauf mit brutalen Grenzabwehrpraktiken und einem repressiven Umgang mit Asylsuchenden im Inland. Illegale Grenzübertretungen werden von der Grenzwache mit allen Mitteln bekämpft und die Illegalisierten nach Serbien zurückgedrängt. Dabei werden täglich Menschen verletzt: Ärzte ohne Grenzen registrierten zwischen Januar 2016 und Februar 2017 über 100 Verwundungen durch vorsätzliche Gewalt. Die Verletzungen stammten u.a. von Schlägen, Hundebissen und Tränengas. (5) Im März 2017 verabschiedete die ungarische Regierung schliesslich ein neues Gesetz, welches auch die Repression im Inland massiv verschärft. Es sieht vor, dass Asylsuchende während der Dauer ihres Verfahrens in sogenannten Transitzonen bleiben müssen. Dazu wurden umzäunte Container direkt an der ungarisch-serbischen Grenze errichtet. Die Internierung gilt für alle Gesuchsteller*innen ausnahmslos, auch für (unbegleitete) Minderjährige. (6) Die Schutzquote für Geflüchtete in Ungarn beträgt gerade mal 9% und ist damit eine der niedrigsten in ganz Europa. (7) Die Chance auf einen geregelten Aufenthaltsstatus ist für die Geflüchteten demnach gering und eine Abschiebung nach Serbien oder in andere Drittländer wahrscheinlich.
Die Situation in Ungarn ist schon lange prekär und schon fast eben solange wird sie von verschiedenen Menschenrechtsaktivist*innen kritisiert und dokumentiert. Für die Schweiz war dies bislang kein Grund, von der gängigen Praxis abzuweichen. Im Jahr 2015 wurden 94 Geflüchtete nach Ungarn ausgeschafft. 2016 waren es noch 65 und 2017 gab es bislang 12 Ausschaffungen. (8) Aufgrund der unzumutbaren Verhältnisse in Ungarn sind mittlerweile viele Beratungsstellen dazu übergegangen, gegen die Wegweisungsverfügungen nach Ungarn beim Bundesverwaltungsgericht zu rekurieren. So auch die Freiplatzaktion Basel, die knapp 30 Beschwerden beim Bundesverwaltungs-gericht (BVGer) bezüglich Ungarn hängig hat(te). Das in Asylangelegenheiten oberste Gericht der Schweiz hat sich bislang mit der Materie schwer getan. Obwohl es in fast allen Fällen auf die Beschwerden eingetreten ist und einen provisorischen Vollzugsstopp für die Betroffenen erwirkte, fällte das Gericht knapp zwei Jahre lang keinen wegweisenden Entscheid – wohl in der Hoffnung, die Lage in Ungarn entspanne sich bald wieder. Erst im Mai 2017 hiess das Bundesverwaltungsgericht schliesslich die ersten Beschwerden gut. (9) Das Gericht argumentierte, die Situation in Ungarn habe sich insbesondere durch die Verschärfung des Asylgesetzes im März 2017 verschlechtert und wies das SEM an, die Lage neu einzuschätzen und auf dieser Grundlage die Entscheide neu zu fällen. Dies heisst aber nichts anderes, als dass der endgültige Asylentscheid noch weiter herausgezögert wird. Das SEM wird vom Gericht nicht angewiesen, sich nun endlich den materiellen Asylgesuchen zu widmen, sondern lediglich dazu aufgefordert, die Lage in Ungarn neu zu beurteilen und dann das Dublin-Verfahren erneut durchzuführen.
Die Schweiz wartet…
Obwohl das SEM seit zwei Jahren jederzeit freiwillig auf die Asylgesuche dieser Geflüchteten eintreten könnte und das Gericht seit zwei Jahren die Möglichkeit hätte, das SEM dazu zu zwingen, passiert weiterhin nichts. Geflüchtete, die teilweise bereits seit mehr als zwei Jahren hier sind, wurden noch nicht einmal zu ihren Asylgründen befragt, weil die Schweiz immer noch mit allen Mitteln versucht, sich vor der Verantwortung zu drücken. (10) Dies ist ein politischer und ein menschlicher Skandal. Seit Jahren wird das Asylwesen in der Schweiz mit dem Ziel der „Beschleunigung der Verfahren“ umstrukturiert und verschärft. Die Tatlosigkeit, mit der die Schweiz trotz asylrechtlicher Optionen zusieht, wie Menschen jahrelang in Asylunterkünften ohne Chance auf Arbeit und nachhaltige Integration, teilweise sogar im Nothilfesystem, verbringen, ohne dass sie zu ihren Asylgründen befragt werden, zeigt deutlich, dass die „Beschleunigung“ in diesen Fällen nicht so ernst genommen wird. Der Vorwand der „Beschleunigung“ dient zwar für immer neue Verschärfungen im Asylwesen und wird in der Praxis insbesondere dann verfolgt, wenn es darum geht, Menschen aus der Schweiz wegzuweisen. Wenn jedoch ein Selbsteintritt der Schweiz eine bedeutende Beschleunigung des Verfahrens für die Gesuchsteller*innen bewirken könnte, wie in diesen Fällen, wird der Grundsatz ignoriert. Diese höchst unsolidarische und eigennützige Praxis des Staatssekretariats für Migration gilt es anzugreifen, sei es über den juristischen, den politischen oder den aktivistischen Weg. Die Vernetzung mit Aktivist*innen in Ungarn, Italien und Griechenland und die direkte Solidarisierung mit Protesten der direkt Betroffenen sind erste Schritte auf dem Weg zu einer linken Perspektive in der Migrationspolitik.
1. Während die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz im Jahr 2015 um 65% stieg im Vergleich zum Vorjahr (total 39000), stieg die Anzahl Gesuche in Deutschland 2015 um 135% auf 476000. Vgl. www.sem.admin.ch und www.bmi.bund.de.
2. Dublin-Verfahren mit Ungarn stiegen von 158 (2011) auf 1572 (2015), Dublin-Verfahren mit Slowenien stiegen von 52 (2011) auf 321 (2015) und Dublin-Verfahren mit Kroatien stiegen von 0 (2011) auf 314 (2015).
3. 2015: 1196 Überstellungen bei 11090 Anfragen, 2016: 1523 Überstellungen bei 7158 Anfragen, 2017: bislang 613 Überstellungen bei 2677 Anfragen. Vgl. Asylstatistik auf www.sem.admin.ch.
4. Vgl. https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/tarakhel-schweiz (Stand 15.8.17).
5. Vgl. http://www.zeit.de/news/2017-03/09/migration-aerzte-ohne-grenzen-in-ungarn-werden-fluechtlinge-misshandelt-09140003 (Stand 20.8.17).
6. Vgl. http://www.zeit.de/news/2017-03/07/migration-ungarn-stimmt-fuer-internierung-aller-fluechtlinge-07113410 (Stand 20.8.17).
7. Vgl. „Hungary‘s long summer of migration“, MIGSOL, S. 23.
8. Vgl. Asylstatistik www.sem.admin.ch (Stand 15.8.17).
9. Den BVGer Leitentscheid vom 31. Mai 2017 finden Sie hier: http://www.bvger.ch/recht/00783/00792/00863/index.html?lang=de (Stand 15.8.17).
10. Dokumentierte Fälle der Freiplatzaktion Basel finden Sie hier: http://freiplatzaktion-basel.ch/selbsteintritt-und-zwar-sofort/ (Stand 15.8.17).