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Frankreich: Gegen die Kriminalisierung von Solidarität!

Die Festung Europa verursacht viele Tote. Es sind die Geflüchteten oder Exilant*innen aus Syrien, Afghanistan, aus Eritrea oder aus westafrikanischen Ländern, welche den Tod vor den hohen Zäunen der europäischen Grenzen finden. Das Mittelmeer war in den letzten Jahren ein der Schauplätzen dieser vermeidbaren Tragödie. Doch eine ähnliche Entwicklung prägt jetzt die Alpengrenze zwischen Italien und Frankreich. Die Migrationsrouten haben sich im Zuge der Repression an der Mittelmeerküste Richtung Norden verschoben, hin zu immer höheren Alpenübergängen. Mehrere Menschen, die in letzter Zeit Migrant*innen bei ihrer Ankunft auf dem französischen Territorium geholfen haben, werden jetzt von der französischen Justiz verfolgt. In den letzten Wochen kam es in der Region von Briançon zu einer Zuspitzung der Lage, als eine grosse Gruppe von geflüchteten Menschen zusammen mit Aktivist*innen die Berggrenze überschritten hat. Dies war eine Antwort auf die illegalen Praktiken der französischen Sicherheitskräfte, die während des Winters mehrere Geflüchtete, unter ihnen Minderjährige, mitten im Gebirge auf die italienische Seite abgeschoben haben. In allen Köpfen waren auch die Debatten aus der Assemblée nationale, als am 22. April 2018 ein neues Asyl- und Immigrationsgesetz verabschiedet wurde. Das Gesetz betrachtet das solidarische Engagement zu Gunsten von geflüchteten Menschen als Straftat. Die Gegner*innen nennen diese grobe Form von Kriminalisierung «délit de solidarité». Solidarität als Strattat also. Wir veröffentlichen im folgenden eine Medienmitteilung von letzter Woche über die drei Verhafteten von Briançon. (Red.)

vom Kollektiv «Délinquants solidaires»

Das Kollektiv «Délinquants solidaires» besteht aus der Gruppe GISTI (Groupe d’information et de soutien des immigré-e-s), La Cimade (Ökumenisches Hilfswerk mit Wurzeln in der Résistance gegen den Faschismus), sowie zahlreichen anderen Nicht-Regierungs-Organisationen in Solidarität mit Geflüchteten. Es leistet Widerstand gegen die Kriminalisierung von Aktivist*innen im Asyl- und Migrationsbereich durch die französischen Behörden. Mit dem provokativen Namen des Kollektivs erklären sich Menschen, die seit Jahrzehnten für das Recht auf Migration kämpfen, selbst als delinquent. Damit zeigen sie die Absurdität eines gesetzlichen Unrechts, das ihr solidarisches Engagement als Straftat bezeichnet. Die rastlose Politik der Kriminalisierung hat jüngstens eine neue Grundlage bekommen, mit dem freiheitsfeindlichen Asyl- und Einwanderungsgesetz des Innenministers Gérard Collomb (Mitglied der Parti Socialiste). In Reaktion auf die Verhaftungen von Aktivist*innen in Briançon (Frankreich) hat das Kollektiv letzter Woche folgende Pressemitteilung im Internet publiziert (26.04.2018).
Am Pass von L’Echelle [einem Alpenpass nah der französisch-italienischen Grenze] lässt sich feststellen, dass die Rechtsextremen der «Génération identitaire» Straflosigkeit geniessen, während den pazifistischen Unterstützer*innen der Migrant*innen mit Knüppel und Gefängnis begegnet wird… Das Kollektiv «Délinquants solidaires» verurteilt erneut auf Schärfste, dass die Solidarität und die Aufnahme von Geflüchteten in unseren Wohnorten systematisch schlecht geredet und mit Repression erstickt werden. Stattdessen muss das Engagement für und mit den Geflüchteten grösser werden, wie Tausende von Bürger*innen es alltäglich beweisen.

Wozu noch sind Regierung, Polizei und Justizbehörden bereit, um die Solidarität zu bekämpfen?

Bürger*innen, Initiativen und lokale Kollektive engagieren sich seit Monaten an ihren Wohnorten, damit die Aufnahme von exilierten [geflüchteten] Personen trotz der illegalen Praktiken der Sicherheitskräfte gelingt. Die Ereignisse des vorletzten Aprilwochenendes (21. -22. April) in Briançon zeigen dagegen, dass die Kriminalisierung des solidarischen Engagements für Geflüchtete noch lange bestehen wird.
Im Rahmen einer Medieninszenierung am Pass von L’Echelle, an der italienisch-französischen Grenze, hat die rechtsextreme Gruppe Génération Identitaire die Grenze vom 21. bis zum 22. April blockiert. Dabei haben sie Hassbotschaften in den Bergen propagiert und Menschen, die einen langen Lauf durch die Berge hinter sich hatten, den Weg gesperrt und sie damit potentiell gefährdet. Anschliessend haben sie ihre «Taten» in den Social Medias ausgebreitet, mit ergiebigen fremdenfeindlichen Kommentaren. Ähnlich wie bei der Aktion im Mittelmeer im Sommer 2017, bei welcher die Identitären die Seerettungsboote von migrantischen Menschen versenken wollten, haben militante Angehörige von rechtsextremen Gruppen aus mehreren europäischen Ländern die Grenze symbolisch blockiert, ohne dass die Sicherheitskräfte intervenierten oder dass die Behörden diese Aktion deutlich verurteilten. Es wurde lediglich von «Gestikulierenden» geredet.
Am Sonntag des 22. Aprils ist eine friedliche Demonstration mit mehr als 150 exilierten [geflüchteten] Personen in Begleitung ihrer Unterstützer*innen aus Clavière (Italien) ausgebrochen, um zu Fuss nach Briançon zu laufen. Damit wollten die Demonstrant*innen gegen die Militarisierung der Grenze protestieren, sowie gegen die unterlassene Hilfestellung der französischen Behörden gegenüber minderjährigen Personen und Asylbewerber*innen. Seit 2015 schlagen die lokalen und regionalen Initiativen Alarm über die systematischen Angriffe auf die Grundrechte von Migrant*innen an der französisch-italienischen Grenze, von Menton [an der Mittelmeerküste] bis Briançon [in den Alpen]. Die etablierte Politik hat bisher diese Notrufe ignoriert.
Im Anschluss an diese spontane Demonstration haben die Sicherheitskräfte sechs Personen festgenommen. Drei davon wurden letztendlich freigelassen, drei weitere sind aber immer noch in der Untersuchungshaft, in einem Gefängnis in Gap und in Marseilles. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie «durch ihre direkte oder indirekte Hilfe, den rechtswidrigen Zutritt nach Frankreich von mehr als zwanzig Ausländern begünstigt oder zu begünstigen versucht haben. Dazu kommt der Umstand, dass die vorgeworfenen Taten in Banden begangen wurden.» Den festgenommenen Personen drohen Strafen von bis 10 Jahren Freiheitsentzug sowie 750‘000 Euro Bussgeld. Da der Gerichtsentscheid auf den 31. Mai 2018 vertagt wurde, muss man damit rechnen, dass die drei Personen, die aus der Schweiz und aus Italien herkommen, bis zu diesem Datum in Haft bleiben.
Am Rande der Demonstration wurden fünf Teilnehmende, die auf der Terrasse eines Hotels sassen, von der Polizei kontrolliert. Die Polizist*innen forderten eine der Personen auf, mit ihnen zu kommen, ohne dabei den Grund anzugeben. Ein Polizist ruft dazwischen: «Wir werden es dir nicht zweimal sagen.» Als die Person ihr Telefon auspackt, um einen Anwalt anzurufen, reissen es ihr die Polizist*innen aus den Händen, drücken sie zu Boden und stürzen sich auf ihren Rücken. Sie drücken ihr Gesicht gegen den Boden, schlagen sie mit dem Knüppel, verdrehen ihr den Arm, schlagen sie mit den Knien, drücken ihr die Daumen in den Augen, würgen sie, bis sie sie schlussendlich an den Füssen, noch immer mit dem Gesicht gegen den Boden, über den Asphalt zerren. Menschen, welche die Schreie gehört hatten, eilten dazu, was die Polizisten dazu veranlasst, alle mit Tränengas zu bedecken. Auch die Person, die mit blutendem Gesicht und einem geschwollenen Kiefer am Boden liegt, bekommt Tränengas, was sie in Atemnot bringt. Unter mehreren Prellungen sowie einem enormen Hämatom am Kiefer, einem verstauchten Halswirbel, und Schmerzen im Rachenbereich, wird das Opfer von Polizeigewalt in die Notaufnahme des lokalen Spitals gebracht. Ergebnis: 10 Tage vollständige Arbeitsunfähigkeit.
Dass eine friedliche Demo mit so massiver Polizeigewalt konfrontiert wird und die Freiheit der Anwesenden durch Repression und Festnahmen derart missachtet wird, ist skandalös. Die solidarischen Aktivist*innen werden schlicht dafür bestraft, dass sie in den Bergen Nothilfe leisten wollten. Einmal mehr versucht der französische Staat durch Abschreckung Solidarität zu verhindern.
Das Kollektiv «Délinquants solidaires» ist besorgt über die Indifferenz, mit welcher die Behörden der hemmungslosen Fremdenfeindlichkeit und der Blockierung der Grenzen durch militante Rechtsextreme begegnet. Die Indifferenz der Behörden gegenüber den rechtsextremen Provokationen an der Grenze führt direkt zu Gefährdungen von Migrant*innen, unter ihnen Minderjährige. Sie führt zudem ganz grundsätzlich zur Negation des Asylrechts, welches nach wie vor eine aus den internationalen Konventionen resultierende Pflicht Frankreichs darstellt.
Das Kollektiv « Délinquants solidaires» verurteilt aufs Schärfste die Inhaftierung von Unterstützer*innen von Exilierten [Geflüchteten] und ruft zu ihrer sofortigen Freilassung auf. Darüber hinaus erinnert das Kollektiv daran, dass die Solidarität und die Aufnahme von Geflüchteten in unseren Wohnorten systematisch schlecht geredet und mit Repression erstickt wird. Stattdessen muss das Engagement für und mit den Geflüchteten wachsen, wie tausende Bürger*innen es alltäglich beweisen. Auch wenn die Abgeordneten es versäumt haben, die Kriminalisierung von solidarischem Engagement zu stoppen, bleiben wir mobilisiert und solidarisch mit den exilierten [geflüchteten] Personen, um für alle den Zugang zu umfassenden Rechten, einschliesslich dem Recht, sich kollektiv zu organisieren, zu gewährleisten.
Anmerkung der Redaktion: am 03.05.2018 heisst es aus Medienberichten, dass die drei Gefangenen aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Zwei davon haben Hausarrest und müssen sich regelmässig bei einem französischen Kommissariat melden. Am 31.05.2018 soll ihnen der Prozess gemacht werden.
Wir werden demnächst über allfällige Aktionen informieren. Bis dahin kann die folgende Online-Petition unterschrieben werden:
PÉTITION POUR LA LIBÉRATION DES PRISONNIER-ES DE DÉLIT DE SOLIDARITÉ“ am 29. April 2018 bei CRIC Grenoble

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