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Der verhängnisvolle europäische Asylpakt – und die helvetische Begeisterung

Am 8. Juni 2023 einigten sich die EU-Innenminister:innen in Luxemburg auf einen Entwurf zur Reform des europäischen Asylsystems. Ziel der Gespräche: Den von der Europäischen Kommission im Jahr 2020 vorgeschlagenen Europäischen Pakt zu Migration und Asyl bis zum Frühjahr 2024 umzusetzen. Die für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) nahm an dem Treffen teil: Als assoziiertes Mitglied des Schengen/Dublin-Abkommens sitzt die Schweiz mit beratender Stimme am Verhandlungstisch der EU-Innenminister:innen. Im Anschluss an das Treffen begrüsste Elisabeth Baume-Schneider ein „historisches Abkommen“, das „Vertrauen“[1] schaffen würde.

von Guy Zurkinden; aus alencontre.org

Der Europäische Pakt zu Migration und Asyl

Das Herzstück des Abkommens vom 8. Juni ist ein Mechanismus zur beschleunigten Behandlung, Einsperrung und Rückführung von Migrant:innen an den Aussengrenzen der Europäischen Union (EU) – nach dem Vorbild der berüchtigten „Hotspots“. La Cimade, ein in Frankreich tätiger Verein zur Solidarität mit Migrant:innen, prangert „einen repressiven und sicherheitsorientierten Ansatz an, der im Dienste der Eindämmung und Abschiebung von Menschen in der Migration steht und auf Kosten einer Politik der Aufnahme geht“.[2] Dieser repressive Ansatz zieht sich durch den gesamten Entwurf des Europäischen Migrationspakts, den der marokkanische Wissenschaftler Abdelkrim Belguendouz als „ein Gebäude, das Europa weiter stärken soll, indem es die Einwanderung eindämmt oder selektiert und die möglichen legalen Wege für Personen, die nach Europa gelangen wollen, weiter einschränkt“[3] bezeichnet. Mit einer vorhersehbaren Folge: „Erhöhte Risiken auf den Migrationsrouten, ohne die Mobilität zu verhindern oder die Rechte der Menschen wirklich zu schützen“.[4]

Die Begeisterung von Baume-Schneider

Der Enthusiasmus der helvetischen Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) für den Pakt mag überraschen. Er veranlasste sogar die sehr zurückhaltende Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) zu einer Reaktion. Sie schrieb: „Angesichts der Situation ist dies sowohl besorgniserregend als auch verwirrend, was die Menschenrechte und die Rechte der Flüchtlinge betrifft.“

Elisabeth Baume-Schneiders Unterstützung des Europäischen Pakts zeigt eine Kontinuität zwischen der Asylpolitik der jurassischen „Sozialistin“ und derjenigen ihrer Vorgängerin im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (dem das Staatssekretariat für Migration SEM untersteht), der FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die für ihre Härte im Asylbereich bekannt ist. Diese Kontinuität zeigt sich auch darin, dass das SEM weiterhin Dublin-Rückführungen nach Kroatien vornimmt, obwohl die Vereine Solidarité sans frontières, Droit de Rester und Migrant Solidarity Network eine intensive und gut dokumentierte Kampagne gegen diese unmenschlichen Ausschaffungen geführt haben (siehe dazu auch das kürzlich nach einem Besuch in Kroatien erstellte Dossier).

Diese Nähe zur repressiven Politik von Karin Keller-Sutter wurde von Elisabeth Baume-Schneider in einem kürzlich veröffentlichten Interview mit der NZZ (4. Mai 2023) bekräftigt. Die „sozialistische“ Bundesrätin sagte darin, dass sie „nicht das Gefühl habe, etwas grundlegend anderes zu tun als meine Vorgängerin“. Sie sagte auch: „Wir brauchen strengere Kontrollen an den Aussengrenzen des Schengen-Raums. Es gibt viele Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen. Sie haben kein Recht auf Asyl. Wir müssen konsequent sein“. Elisabeth Baume-Schneider übernahm damit traurigerweise den Kern der fremdenfeindlichen Argumentation, mit der die brutale Unterdrückung von Exilanten an den Grenzen Europas gerechtfertigt werden soll. Ein EU-Beamter erklärte: „Es ist das Ende des Bison-Europas. Im Gegenzug für unsere Hilfe [für Tunesien, Haftar in Libyen, Marokko usw.] legen wir nun unsere eigenen Prioritäten auf den Tisch: Migration, Energie und Sicherheit. Und angesichts der zunehmenden Zahl von rechten und rechtsextremen Regierungen im Rat wird sich dieser Trend in den kommenden Jahren wohl nicht ändern.“[5]

„Es ist Mord“

Sechs Tage nach der Einigung der EU-Minister:innen wurde die Warnung von La Cimade auf schreckliche Weise bestätigt. Am frühen Morgen des 14. Juni kamen vor der griechischen Stadt Pylos mehrere hundert Frauen, Männer und Kinder, die auf der Suche nach Zuflucht waren, beim Untergang eines Fischerbootes ums Leben.

„Das ist kein Unfall, das ist Mord“, prangerte der griechische Retter Iasonas Apostolopolous[6] an. Laut der Rekonstruktion der Tageszeitung Le Monde wurden den griechischen Behörden am Morgen des 13. Juni die genauen Koordinaten des Schiffes und seine kritische Lage mitgeteilt. Die Behörden leiteten jedoch keine Rettungsaktion ein. Erst mehrere Stunden später meldete sich die Küstenwache im Rahmen einer Aktion, deren Umfang und Zweck völlig unklar ist. Laut den Aussagen mehrerer Überlebender soll die Küstenwache zweimal Kabel in Richtung des Bootes geworfen haben. Das Boot soll stark geschaukelt haben und kurz nach dem zweiten Versuch gesunken sein. Einige vermuten, dass die griechischen Streitkräfte versucht haben, das Boot in italienische Hoheitsgewässer zu ziehen.[7] Dies wäre nicht das erste Mal: In den letzten Jahren haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass die griechische Polizei illegale Rückführungen durchführt. Diese Praktiken sind so brutal, dass sogar der Direktor der europäischen Grenzschutzagentur Frontex damit droht, sich aus dem Land zurückzuziehen.

Eine Politik, die tötet

Abgesehen von den migrationsfeindlichen Praktiken der griechischen Regierung [und den Behörden; Anm. d. Red.] wurde nach dieser Tragödie das gesamte europäische System kritisiert. „Dieser Schiffbruch ist die direkte Folge von politischen Entscheidungen, die getroffen wurden, um Menschen daran zu hindern, nach Europa zu kommen. Die europäische Migrations- und Externalisierungspolitik ist verantwortlich für die physische und psychische Gewalt, die Migrantinnen und Migranten erleiden, für deren Einsperrung und für ihren Tod“, betonten 180 Organisationen, die sich für Migrant:innen einsetzen, in einem kollektiven Tribüne-Beitrag.[8]

Die europäische Logik in Bezug auf die Migration lässt sich einfach zusammenfassen: „Migrant:innen müssen von den Aussengrenzen der EU ferngehalten werden: Sie dürfen nicht an Bord eines Schlepperbootes gehen und nicht die Überfahrt über das Mittelmeer wagen. Und wenn es ihnen doch gelingt, müssen Asylsuchende schnell an ihren Ausgangspunkt zurückgeschickt werden – nach Libyen, in die Türkei, nach Marokko, Algerien oder Tunesien.“[9] Um dies zu erreichen, zögert die Europäische Union nicht, die illegalen Push-Back-Operationen an ihren Grenzen zu decken – und öffnet gleichzeitig ihr Portfolio für die brutalsten Regime, an die sie die schmutzige Arbeit der Fernhaltung von Exilant:innen delegiert: die mafiösen Behörden in Libyen, Erdogans Türkei oder auch den tunesischen Diktator Kais Saïed.

Der Massenmord geht weiter

Die Bilanz dieser Politik ist erschreckend. Seit 2014 haben 27’000 Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer ihr Leben verloren – ohne die Schiffbrüche zu zählen, die sich ohne Zeugen ereignet haben. Die sehr gefährliche, aber immer häufiger befahrene Kanarenroute hatte ihrerseits zwischen Ende 2018 und November 2022 fast 8000 Opfer gefordert. Und diese makabre Zählung hört nicht auf. Am 22. Juni kenterte ein Schlauchboot mit 60 Flüchtlingen an Bord vor Gran Canaria, wobei wahrscheinlich mehr als dreissig Menschen ums Leben kamen.[10] Erneut wurde die Langsamkeit der Behörden – diesmal der spanischen und marokkanischen – bei der Einleitung von Rettungsmassnahmen angeprangert.

Der Europäische Pakt zu Migration und Asyl wird dieser mörderischen Politik eine neue, verhängnisvollere Dynamik geben. Im Gegensatz zu dem, was Elisabeth Baume-Schneider behauptet, sollte dieser Vertrag nicht begrüsst, sondern bekämpft werden.

Übersetzung und redaktionelle Überarbeitung durch die Redaktion.


[1] Le Temps, 8. Juni 2023.

[2] La Cimade: Decryptage du pacte européen sur la migration et l’asile (Entschlüsselung des Europäischen Pakts zu Migration und Asyl). Version vom 20. Juni 2023.

[3] Zitiert von Julien Vaudroz in der Zeitschrift Vivre Ensemble, Nr. 193, Juni 2023.

[4] La Cimade, Idem.

[5] Le Monde, 29. Juni, S. 5.

[6] L’Humanité, 16. Juni 2023.

[7] Le Monde, 24. Juni 2023.

[8] Hier zu finden: www.gisti.org

[9] NZZ am Sonntag, 19. Juni 2023.

[10] Libération, 23. Juni 2023.

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