Solidaritätsbewegungen mit Palästina werden in Zeitungsartikeln und politischen Vorstössen pauschal als antisemitisch diffamiert. Die Linke habe ein gröberes Antisemitismusproblem – und Palästinenser:innen sowieso, sagen Bürgerliche. Damit verfolgen sie eine rechte politische Agenda und versuchen, die Diskursherrschaft über Rassismusdefinitionen zu gewinnen.
von Philipp Gebhardt (BFS Zürich)
Jehuda Spielman sitzt für die FDP im Zürcher Gemeinderat. Seine Vorbilder sind die Ikonen des Neoliberalismus Milton Friedman und Margaret Thatcher. Am 19. September 2024 behauptete er im Tages-Anzeiger: „Es gibt rechten Antisemitismus genauso wie linken. Wir leben aber in einer politisch links dominierten Stadt, darum tritt hier überwiegend der linke Antisemitismus zutage.“ Zwei Tage später zitiert der Tages-Anzeiger den Popkritiker (?) Jens Balzer, der meinte zu wissen, dass die „woken Linken […] ihre Stimmen gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Diskriminierung aller Art erheben. Aber offenbar nicht gegen Antisemitismus.“ Die NZZ schaltete im September 2024 im Industriequartier in Zürich eine riesige Werbeanzeige mit Davidstern und inszeniert sich damit als Bollwerk im Kampf gegen Antisemitismus (siehe Titelbild). Und der Verleger und notorische Fremdenfeind Markus Somm nannte den 1. Mai 2024 wegen der präsenten Palästina-Solidarität sogar einen Nazitag.
Ausgerechnet rechte Politiker:innen und Journalist:innen – und allen voran das Sprachror des Zürcher Bürgertums: die NZZ – unterstellen den Linken Antisemitismus und historische Bildungslücken. Dabei waren es sie, die in den 1930er Jahren selber mit der faschistischen, terroristischen und offen antisemitischen Frontenbewegung in der Schweiz flirteten. Aber Geschichtsvergessenheit ist in diesem Tagen ein weit verbreitetes Phänomen.
Hinter diesen Diskussionen über Antisemitismus steht ein ideologischer Kampf um die Definitionsmacht des Begriffs. Denn wie Antisemitismus definiert wird, hat weitreichende politische Folgen.
Einzigartig und unvergleichlich?
In bürgerlichen Medien wird die palästinensische Solidaritätsbewegung meist pauschal als antisemitisch diffamiert, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz.[1] Palästinenser:innen und Muslim:innen im Allgemeinen wird ein Hang zum Terror und ein angeborener Antisemitismus unterstellt. Diese Pauschalisierung ist rassistisch motiviert, dient der Delegitimierung der Solidaritätsbewegung sowie der Abschreckung der Gesamtbevölkerung. Zudem verhindert sie eine echte Diskussion über Antisemitismus – in der Gesellschaft, in sozialen Bewegungen oder als politisches Instrument im Nahen Osten und in der Schweiz.
Mit rassistischen Argumenten den Antisemitismus anderer anzuprangern, ist für die Bürgerlichen kein Widerspruch, sondern folgt der politischen Logik, Antisemitismus von anderen Formen von Rassismus zu trennen. Damit verbunden ist ein westliches, eurozentrisches Geschichtsbild und das Verständnis der Einzigartigkeit des Holocausts. Es wird abgelehnt, den Holocaust in die Kontiuität einer kolonialrassistischen europäischen Praxis und der imperialistischen Barbarei der bürgerlichen Moderne zu setzen und damit – zumindest in Ansätzen – vergleichbar mit anderen rassistisch motivierten Völkermorden zu machen. Die Betonung der Einzigartikeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust wiederum schafft die Grundlage für die Argumentation, dass Jüd:innen mehr als andere Bevölkerungen das Recht auf eine sichere Heimstätte in Israel hätten, und dass jegliche Kritik an dieser Heimstätte den Jüd:innen angeblich das Recht auf ein Leben in Schutz und Würde absprechen würde. Somit wird Kritik am politischen und militärischen Handeln von Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt.
Die Gleichsetzung von Israelkritik und Antizionismus mit Antisemititsmus sowie von Israel mit „dem jüdischen Volk“ ist also nicht nur unehrlich, sondern negiert die Vielfältigkeit und Mehrdimensionalität des Jüdischseins sowie den Fakt, dass viele Jüd:innen selbst Antizionist:innen sind.
Neben den westlichen bürgerlichen Medien und Politiker:innen arbeiten auch der israelische Staat und israelische Rechtsextreme seit den 1990er Jahren aktiv an der Gleichsetzung von Antisemitismus und Israel-Kritik in der öffentlichen Meinung – immer mit dem Ziel, die Palästina-Solidarität zu diffamieren und sich selbst als Staat zu inszenieren, der nur das Wohl aller jüdischen Menschen im Sinn hat.
„Neuer Antisemitismus“: Die Gleichsetzung der Israel-Kritik mit Antisemitismus
Um die Jahrtausenwende wurde zunehmend von einem „Neuen Antisemitismus“ gesprochen, der Kritik an Israel und politischen Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzte. Dies passierte u.a. als Reaktion auf die Intifada 2001/02 und die World Conference Against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance 2001 in Durban, an der über 3000 NGO in einer Resolution Israel als „rassistischen Apartheidstaat“ verurteilten, des „Siedlerkolonialismus“ bezichtigten und einen internationalen Boykott ähnlich dem gegen Südafrika in den 1980er Jahren forderten. Die israelischen Regierung stand unter hohem Legitimationsdruck und entwickelte daraufhin 2004 unter Federführung des rechtsradikalen Ministers für soziale Fragen, Natan Scharanski, den 3D-Test des Antisemitismus: Dämonisierung, doppelte Standards, Delegitimierung. Die dem Test zugrunde liegende Definition von Antisemitismus ist schwammig und erlaubt es grundsätzlich, jede Kritik an Israel als antisemitisch einzustufen. Dafür muss nämlich nur eines der drei Ds erfüllt werden. In der Folge wird der Linken bis heute Antisemitismus unterstellt, wenn sie ein grösseres Augenmerk auf die Situation der Palästinenser:innen legt als auf andere unterdrückte Bevölkerungen (doppelter Standard). Und die Beurteilung, bis wann Kritik an der israelischen Politik oder den Militäreinsätzen legitim und ab wann dämonisierend – ergo antisemitisch – ist, ist in der heutigen Lage wohl schwieriger als je zuvor.[2]
Ähnlich irreführend ist die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), auf die sich viele Staaten (u.a. Deutschland) und Institutionen (u.a. die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA in der Schweiz) beziehen. Die 2016 verabschiedete Arbeitsdefinition der IHRA ist ausgesprochen vage,[3] insbesondere weil die erklärenden Beispiele mehrheitlich einen direkten Bezug zu Israel und dem Nahostkonflikt haben und aufgrund der fehlenden Kontextualisierung Raum für Missverständnisse und -interpretationen lassen, wie die Rosa Luxemburg Stiftung in einem Gutachten feststellte. „Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren,“ heisst es darin.
In der Erklärung zur IHRA-Arbeitsdefinition wird zudem explizit festgehalten, dass Kritik an Israel antisemitisch sein kann, weil der israelische Staat ein jüdisches Kollektiv sei. Damit entspricht die IHRA der Netanjahu-Regierung, die 2018 ein neues Nationalitätengesetz verabschiedete, das den Staat Israel explizit als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert.
Seit dem 7. Oktober 2023 konnten wir vor allem in Deutschland angesichts der massiven Repression gegen die Palästina-Bewegung beobachten, wie die IHRA-Arbeitsdefinition zur quasi-rechtlichen Grundlage von staatlichem Handeln wurde. Sie wurde zum Instrument polizeilicher Willkür zur Beschneidung von Grundrechten und zur Reprimierung unliebsamer Positionen, die der deutschen Staatsräson widersprechen.
Antisemitismus als antijüdischer Rassismus
Wir schlagen eine andere Herangehensweise vor. Und zwar definieren wir Antisemitismus als eine spezifische Form des (antijüdischen) Rassismus. Antisemitismus unterscheidet sich vom vormodernen Antijudaismus, der Jüd:innen aufgrund ihrer Religion ausgrenzte und diskriminierte. Im Zuge der aufkommenden pseudowissenschaftlichen Rassentheorien und des Sozialdarwinismus im 19. Jahrhundert wurden auch Jüd:innen als «Rasse» [sic!] kategorisiert. Moderner Antisemitismus beruht demnach auf der Zuschreibung von „natürlichen“, „angeborenen“ (Charakter-)Eigenschaften und Wesensmerkmalen an die jüdische Bevölkerung, welche im Gegensatz zur Religion nicht abgelegt werden können. Wie jeder Rassismus hat Antisemitismus eigene Spezifizitäten, die sich inhaltlich von anderen Rassismen unterscheiden, aber in ähnlichen Strukturen und Prozessen wirken. So betrachten Antisemit:innen Jüd:innen als minderwertig, aber stilisieren sie gleichzeitig zu einer mächtigen Bedrohung hoch. Abwertung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt und Vernichtungsphantasien sind die Folgen.
Die 2021 von namhaften Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Ländern verabschiedete Jerusalem-Deklaration definiert Antisemitismus wie folgt: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“.
Kritik an Israel und der israelischen Politik ist also nur dann antisemitisch, wenn sie «eine Pauschalisierung in dem Sinne beinhaltet[e], dass Israelis ausdrücklich als – in einem essentialistischen Sinn verstandende – «Juden» identifiziert» werden, wie Historikerin Christina Späti schreibt.[4]
Die Zürcher Gruppe Jüdisch Antikolonial schreibt in einer Erklärung im September 2024: „Die Gleichstellung jüdischer Menschen mit dem Israelischen Staat ist falsch und erkennt jüdischen Menschen ihre vielfältigen Haltungen zu Zionismus ab. Solche Definitionen setzen jüdische Menschen mit einem politischen System gleich, welches vom internationalen Gerichtshof als Apartheidstaat befunden wurde.“ Die Gleichsetzung von Israelkritik und Antizionismus mit Antisemitismus sowie von Israel mit „dem jüdischen Volk“ ist also nicht nur unehrlich, sondern negiert die Vielfältigkeit und Mehrdimensionalität des Jüdischseins sowie den Fakt, dass viele Jüd:innen selbst Antizionist:innen sind.
Mit der Definierung von Antisemitismus als antijüdischen Rassismus lässt sich der moderne Antisemitismus einerseits als Produkt der europäischen Moderne ab dem 19. Jahrhundert verstehen und somit in die koloniale, rassistische Vergangenheit der europäischen Länder einordnen. Andererseits bietet dies die Grundlage, um eine antikoloniale, internationalistische Solidarität mit allen von Rassismen und Unterdrückung betroffenen Menschen – seien es Jüd:innen, Palästinenser:innen oder sonst wer – aufzubauen.
Seit Monaten werden wir Zeug:innen davon, wie das israelische Militär im Gazastreifen und darüber hinaus zehntausende Menschen ermordet, Millionen Menschen vertreibt und systematisch ihrer Grundrechte beraubt. In diesem Kontext ist und bleibt es unsere Aufgabe, die israelische Apartheitspolitik und die Verbrechen der israelischen Regierung zu verurteilen und uns mit dem palästinensischen Widerstand zu solidarisieren.
Denn wenn bürgerliche und rechtsextreme Politiker:innen und Journalist:innen im Westen und Israel die Definitionshoheit über Antisemitismus für sich reklamieren, wollen sie damit nicht nur die Verbrechen des israelischen Staates rechtfertigen, sondern auch von ihrer eigenen antisemitischen, rassistischen und kolonialen Vergangenheit ablenken und antimuslimischen Rassismus in der Gegenwart schüren.
[1] Wir negieren nicht, dass es in der Palästina-Bewegung antisemitisch eingestellte Personen und Argumentationen gibt. Ein Problem sind zum Beispiel Unklarheiten in Bezug auf den Begriff des Zionismus. Zionismus ist die politische und religiöse Bewegung mit dem Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu gründen bzw. zu erhalten. Diese Bewegung beruhte von Beginn weg auf ethnisch-religöser Exklusivität und Verdrängung, spätestens nach der Gründung Israels 1948 auch auf siedlerkolonialen Expansion, Vertreibung entlang ethnischer Zugehörigkeit und später auf Apartheid. Kritik am Zionismus ist deshalb nicht per se antisemitisch. In verschwörungsideologischen Milieus, aber auch bei gewissen Personen aus der Palästina-Bewegung, kommt es vor, dass Zionismus gesagt wird, aber Jüd:innen gemeint sind und die Kritik damit antisemitisch wird.
Zudem ist die Frage der Abgrenzung von Akteur:innen wie der Hamas für die palästinasolidarische Linke eine Herausforderung. Eine der Ursachen dieser fehlenden Abgrenzung ist das stalinistische Blockdenken aus dem Kalten Krieg, das in moskautreuen und maoistischen post-68er Linken verbreitet war. Dieses binäre, campistische Weltbild, das die Welt in böse imperialistische Länder und progressive antiimperialistische Völker einteilt(e), hat bis heute in der Linken überlebt. Dabei wird der US-Imperialismus – mit seinem nahöstlichen Satelliten Israel – als alleiniger Hegemon der Welt ausgemacht. Alle diejenigen, die sich dem Hegemon entgegenstellen, sind demnach Verbündete – auch wenn es reaktionäre Kräfte wie die Hamas oder die Hisbollah sind. Dieser simplifizierende, falsche Antiimperialismus wiederfindet sich auch bei der Verweigerung der Solidarität an die Ukraine, weil Russland in diesem binären Weltbild nicht der grosse imperialistischer Aggressor sein kann, da diese Rolle für die USA bzw. die NATO reserviert ist.
Siehe: Späti, Christina: Antisemitismus und kolonialer Rassismus in der Schweiz, in: dos Santos Pinto, Ohene-Nyako, Pétrémont (Hg.): Un/doing Race. Rassifizierung in der Schweiz, 2022, S. 167.
[2] Arne Andersen: Apartheid in Israel – Tabu in Deutschland? Köln 2024, S. 22-26.
[3] IHRA-Arbeitsdefinition: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ (26.5.2016)
[4] Späti, Christina: Antisemitismus und kolonialer Rassismus in der Schweiz, in: dos Santos Pinto, Ohene-Nyako, Pétrémont (Hg.): Un/doing Race. Rassifizierung in der Schweiz, 2022, S. 171.
Alles Antisemiten
10. Oktober 2024
Guten Tag
Ich finde diesen Bericht sehr aufschlussreich und differenziert.
Folgende Ueberlegungen habe ich mir auch gemacht: Kann es sein, dass seit den 1990er Jahren die Zahl der Einwanderer nach Israel aus Osteuropa und ehem. Sowjetunion stark gestiegen ist zu Lasten der Einwanderer aus Westeuropa und Nord und Südamerika? Kann es sein, dass diese Einwanderer aus dem ehem. Ostblock andere Werte mitbringen und zum Beispiel mehr Rechtsextremen Gesinnungen anhängen? In diesem Zusammenhang kann es sein, dass diese neuen Einwanderer auch sehr nationalistisch eingestellt sind und eben die illegalen Siedlungen vorantreiben. Kann es sein, dass diese Einwanderer Religion nur voranstellen? Ich weiss von Bewohnern in Israel, dass sie stark gegen die Netanjahu Regierung protestiert haben.
Dies alles wäre auch mal zu untersuchen, ob und wie die Einwanderer aus Osteuropa die Gesellschaft und Politik in Israel verändert haben, gegenüber den Regierungen von der Staatsgründung bist anfangs 1990er Jahre. Ich habe mit 17 Jahren, vor über 40 Jahren, die Biografie von Golda Meir gelesen und war fasziniert von diesen, meist sozialistisch gesinnten Menschen. Ich denke, Israel von heute entspricht längst nicht mehr dem Israel der Jahre vor 1990, obschon die damals auch Kriege geführt haben, aber immer wieder verhandelt haben. Ich denke, dass viele Menschen im Westen, bei uns in der Schweiz auch, immer noch dieses 1970 Jahre Bild von Israel in den Köpfen haben und haben nicht bemerkt, dass eventuell Faschisten aus Osteuropa ihre Macht Strukturen ausbreiten in Israel, unter dem Deckmantel von Religion. Dann wirft man eben mangels anderer Argumente Antisemitismus vor.
Dies meine Gedanken.
Freundliche Grüsse Christoph Stalder