Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas hat die internationalen Beziehungen verändert. Gerade in den letzten Monaten haben sich die Konflikte zwischen den „alten“ kapitalistischen Zentren und aufstrebenden Volkswirtschaften wie China massiv verschärft. Dabei geht meist vergessen, dass sich die chinesische Wirtschaft zwar rasant, aber nicht gleichmässig entwickelt und ausserdem die soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat. Alles Umstände, die eine politische Beurteilung von Chinas Aufstieg nicht einfach machen. (Red.)
von Thomas Sablowski; aus analyse & kritik
Die Verstärkung nationalistischer und protektionistischer Tendenzen ist immer wieder infolge von grösseren Krisen des Kapitalismus zu beobachten, so auch infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007. Die gegenwärtige Zunahme geopolitischer Konflikte ist aber auch das Resultat der Verschiebungen, die sich im Zuge des Globalisierungsprozesses in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung ergeben haben. Das mit Abstand wichtigste Faktum ist hier der Aufstieg Chinas, der die gesamten internationalen Beziehungen stark beeinflusst. Während die Konzerne der alten kapitalistischen Zentren auf China als Absatzmarkt und kostengünstigen Produktionsstandort angewiesen sind, haben sie kein Interesse daran, dass ihnen dort neue Konkurrenten erwachsen. Daher wird China vorgeworfen, das «geistige Eigentum» der westlichen Unternehmen zu stehlen; daher wird in den USA und in der EU zunehmend versucht, die Übernahme einheimischer Schlüsselunternehmen durch chinesische Unternehmen zu verhindern. Auch die deutsche Politik ist in dieser Hinsicht seit der Übernahme des Roboterherstellers Kuka durch den chinesischen Midea-Konzern 2016 restriktiver geworden.
Die Konflikte zwischen den alten kapitalistischen Zentren und aufstrebenden Ländern wie China werden sich absehbar in dem Masse weiter verschärfen, in de sich die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zuspitzt, wenn etwa strategisch wichtige Rohstoffe verknappen und die Anbauflächen für Grundnahrungsmittel abnehmen. Sollten sich die massenhafte Produktion von elektrisch angetriebenen Automobilen, das «Internet der Dinge» und «autonome» Fahrzeuge weiter durchsetzen, dann werden der Stromverbrauch und der Verbrauch von knappen Metallen wie Kupfer, Lithium, Nickel, seltenen Erden noch einmal ansteigen. Schon heute bereite sich die Staaten auf eine Situation vor, in der der Zugang zu Rohstoffen nicht mehr marktförmig organisiert werden kann, sondern nur noch politisch-militärisch zu gewährleisten ist.
Die aggressive Politik der US-Regierung gegenüber China hat nicht erst mit Präsident Donald Trump begonnen. Die Verhandlungen über ein transpazifisches Partnerschaftsabkommen (TPP) ab 2008 waren seitens der US-Administration der Versuch, die Pazifikanrainer unter Ausschluss Chinas enger zusammenzuschliessen. Auch die militärische Einkreisung Chinas wurde bereits unter Präsident Barack Obama vorangetrieben, der die stärkere Verlagerung der US-amerikanischen militärischen Kapazitäten in den ostasiatischen Raum ankündigte. Dies ist auch ein Grund dafür, warum die US-Regierung von ihren NATO-Verbündeten höhere finanzielle Beiträge und ein stärkeres militärisches Engagement in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten fordert. Trump hat zwar das TPP verworfen, aber die Konfrontation mit China mit anderen Mitteln sowohl auf der ökonomischen als auch auf der militärischen Ebene verstärkt. Die Aufkündigung des 1987 abgeschlossenen INF-Vertrags zur Vernichtung der nuklearen Mittelstreckenraketen richtet sich nicht nur gegen Russland, sondern gibt der US-Regierung auch freie Hand für die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Nähe Chinas, wodurch die Vorwarnzeiten verkürzt werden und die chinesische Kapazität für einen nuklearen Zweitschlag unterminiert werden könnte.
Der Aufstieg Chinas: ein gemischtes Bild
Der Aufstieg Chinas ins Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft muss differenziert betrachtet werden. Der Platz eines Landers in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens geht es darum, inwieweit die Produzenten eines Landers in der Lage sind, selbstständige Waren auf den Weltmarkt zu bringen und zu vermarkten. Dafür ist es notwendig, die entscheidenden Segmente der Produktionsketten – insbesondere die Produktentwicklung und das Marketing – zu kontrollieren. Die Schlüsselunternehmen können dann die Fertigung teilweise oder in manchen Branchen sogar insgesamt Zulieferern überlassen und sich dennoch einen grossen Teil des produzierten Werts aneignen.
In einigen Branchen sind chinesische Unternehmen heute bereits in die Spitzengruppen der führenden Hersteller vorgedrungen und Teil der globalen Oligopole oder sogar dabei, die Unternehmen der alten kapitalistischen Zentren zu verdrängen. Die Telekommunikationsindustrie ist in dieser Hinsicht ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Viele grosse westliche Telekommunikationsausrüster, die in den späten 1990er Jahren einen Höhenflug im Zuge des «New Economy»-Booms erlebten, sind im Zuge der Krisen ab 2000 und ab 2007 bankrott gegangen bzw. von Konkurrenten übernommen worden. Lucent (USA), Alcatel (Frankreich) und Nortel (Kanada) – früher die bedeutendsten Hersteller in ihren Ländern – existieren nicht mehr. Siemens hat seine Netzwerksparte an Nokia abgetreten. Unterdessen hat der chinesische Konzern Huawei eine Spitzenposition bei der Ausrüstung von Mobilfunknetzwerken der neuesten Generation (G5) erreicht. Gerade deshalb wird Huawei mit allen Mitteln von der US-amerikanischen Regierung bekämpft.
Die Spitzenpositionen chinesischer Unternehmen in einigen Bereichen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass China in anderen Branchen noch eine untergeordnete Position einnimmt. In der Automobilindustrie entwickelt sich China einerseits immer mehr zum führenden Markt und zwingt die ausländischen Konzerne mit staatlichen Auflagen wie etwa einer vorgeschriebenen Quote von Elektroautos zur Anpassung ihrer Produktion. Andererseits stehen chinesische Autohersteller bei ihrem Versuch, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden, noch relativ am Anfang. In anderen Bereichen ist China zwar die wichtigste Werkbank der Welt, doch ein grosser Teil der Einkommen fällt im Ausland an. Ein Beispiel: Vom Importpreis eines in Chinagefertigten und in den USA verkauften Apple iPhone 7 in Höhe von 237,45 US-Dollar entfielen nur 8,46 US-Dollar oder 3,6 Prozent auf die Lohnkosten der chinesischen Arbeiter*innen, die das iPhone zusammenmontieren, und die Kosten der in China hergestellten Batterie. Jeweils 68 US-Dollar entfielen auf Vorprodukte japanischer und US-amerikanischer Zulieferer, 48 US-Dollar gingen nach Taiwan und knapp 17 US-Dollar nach Südkorea. Der Verkaufspreis des iPhone 7 lag bei 649 US-Dollar, der Bruttoprofit von Apple bei 283 US-Dollar oder 43,6 Prozent.
Die Position eines Landers in der internationalen Arbeitsteilung ist zweitens davon abhängig, inwieweit das Land über die Produktion von Produktionsmitteln verfügt, die als Schrittmacher bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität fungieren. Die Stärke der deutschen [und der Schweizer Anm.d.Red.] Wirtschaft liegt insbesondere hier: im Maschinen- und Anlagenbau. Auch hier zeigen sich interessante Verschiebungen: Der Anteil Chinas an den Weltexporten von Maschinen zur Metallbearbeitung lag beispielsweise 1990 noch unter einem Prozent und stieg bis 2017 auf 9,17 Prozent. China ist damit inzwischen der drittgrösste Exporteur von Werkzeugmaschinen nach Deutschland und Japan, und vor Italien und den USA. Betrachtet man allerdings komplexere Maschinensysteme, das heisst, Bearbeitungszentren und mehrstufige Transfermaschinen für die Metallbearbeitung, dann zeigt sich ein etwas anderes Bild: Hier liegt China mit 1,36 Prozent der Weltexporte im Jahr 2017 noch weit zurück hinter Japan, Deutschland, Taiwan, den USA, Südkorea, Italien und weiteren europäischen Ländern.
Drittens hängt die Position eines Landes in der internationalen Arbeitsteilung von der sektoralen Kohärenz des Produktionsapparats ab, also davon, wie breit gefächert die Produktionsstruktur ist und inwieweit die Branchen innerhalb des Landes ineinandergreifen. Eine Forschergruppe der Harvard University hat beispielsweise ein Ranking der Länder nach ihrer ökonomischen Komplexität vorgenommen. Diese wurde danach bestimmt, wie vielfältig die Exporte eines Landes sind u d wie ubiquitär die exportierten Produkte sind (d.h. wie viele Länder noch in der Lage sind, diese Produkte zu exportieren). In diesem Ranking ist China von Rang 51 im Jahr 1990 auf Rang 19 im Jahr 2017 aufgestiegen.
Die chinesische Staatsführung zielt ausdrücklich darauf, von der exportabhängigen Entwicklung zu einer stärker binnenmarktzentrierten Entwicklung überzugehen und die Abhängigkeit von ausländischen Importen zu reduzieren. Mehr noch, mit ihrem Programm «Made in China 2025» strebt sie eine Aufwertung der gesamten Industrie Chinas und eine führende Position in zentralen Hochtechnologiebereichen wie der Robotik, der Informationstechnologie oder der Luft- und Raumfahrt an.
Gefahr des Aufbaus neuer Feindbilder
Bei der politischen Positionierung zu den gegenwärtigen geopolitischen Konflikten bestehen mehrere Gefahren. Die Hauptgefahr ist, dass aufstrebende Länder wie China, Russland, Iran auch hierzulande zu neuen Feindbildern aufgebaut werden und das Deutschland und die EU weiterhin eine subalterne Roll gegenüber den USA einnehmen, das heisst die Positionen der US-Regierung letztendlich übernehmen und unterstützen. Die Kapitalverflechtungen im atlantischen Raum sind immer noch besonders intensiv, und das US-amerikanische Finanzkapital übt auch in der EU weiterhin grossen Einfluss aus. Der Konflikt um die Iran-Sanktionen hat bereits gezeigt, dass die EU der US-Regierung hier wenig entgegenzusetzen hat, da für die Konzerne in der EU der US-amerikanische Markt letztlich wichtiger ist als der iranische Markt. Auch im Konflikt mit Russland kommt es immer wieder zum Schulterschluss zwischen den USA und den massgeblichen EU-Staaten – ungeachtet der inneren Widersprüche und Interessendivergenzen in der EU, die sich etwa im Konflikt um die Nord-Stream-Pipeline zeigen. Schliesslich sind auch die Interessenlagen des Kapitals in den USA und in der EU gegenüber China – in all ihrer Widersprüchlichkeit – ähnlich.
Die zweite Gefahr besteht darin, dass ein spezifischer EU-Imperialismus und EU-Chauvinismus an Gewicht gewinnt – sei es im Rahmen einer Arbeitsteilung mit dem US-Imperialismus oder im Rahmen einer Absetzbewegung von den USA, wenn sich die Widersprüche im transatlantischen Verhältnis vertiefen und der US-amerikanische Markt oder der EU-Markt im Verhältnis zu anderen Weltregionen an Bedeutung verlieren. Gerade die Sicherheits- und Militärpolitik scheint gegenwärtig der einzige Bereich zu sein, in dem die EU-Staaten noch halbwegs in der Lage sind, einen Konsens zu finden und die Integration weiter voranzutreiben.
Die dritte Gefahr besteht schliesslich darin, dass Linke bei aller notwendigen Kritik an der US-amerikanischen Regierung und den Regierungen in der EU eine unkritische Haltung gegenüber den vermeintlich fortschrittlichen Regierungen (wie z.B. in Venezuela) einnimmt. Es gibt Autor*innen, die die Politik der chinesischen Regierung offenbar mit anderen Massstäben messen als die Politik der westlichen Regierungen. Man sieht über die Unterdrückung und die wachsende soziale Ungleichheit in China mehr oder minder hinweg, weil dort eine nominell kommunistische Partei regiert und weil die Entwicklung der Produktivkräfte unter Rückgriff auf ausländisches Kapital oder kapitalistische Produktionsverhältnisse als notwendiger Zwischenschritt bei der Überwindung der Unterentwicklung und auf dem Weg zum Sozialismus begriffen wird. Die Reduzierung der absoluten Armut, die Bildung einer breiten Mittelklasse oder der Anstieg der Löhne gelten dann schon als Ausweis einer progressiven Entwicklung, obwohl sie ebenso wie die wachsende soziale Ungleichheit und die ökologische Degradation durchaus als normale Begleiterscheinungen der immensen Kapitalakkumulation in China begriffen werden können.
Die hiesige Linke sollte in der Lage sein, die Aggression des «Westens» gegenüber aufstrebenden Ländern wie China, Russland und dem Iran zu bekämpfen und sich zugleich mit den beherrschten Klassen in diesen Ländern zu solidarisieren – und nicht mit den Herrschenden.
Thomas Sablowski ist Referent für politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.